Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Dr. med. Ludger Nohr Frage an Dr. med. Ludger Nohr Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Frage: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Sehr geehrter Herr Dr. Nohr, mein kleiner Sohn ist 7 Monate alt und ein absolutes Wunschkind. Er ist einfach toll! Er lacht viel, ist putzmunter und einfach ein Engel (wenn auch anspruchsvoll). Er weint nur sehr selten. Ich habe ihn bisher immer schnell beruhigen können. Zu meiner Vorgeschichte: Ich habe mich schon pränatal unheimlich viel mit ihm „beschäftigt“ ( ich musste seit der 20. Ssw Bettruhe halten). Ich habe ihm Lieder vorgespielt, ihn „gestreichelt“ etc... Ich hatte große Angst vor der Geburt. Nicht um mich sondern, dass ihm etwas zustoßen könnte, sodass ich mich im Vorfeld für einen geplanten Kaiserschnitt entschieden habe. Es kam aber anders... Nach einem Blasensprung war der Muttermund bei Krankenhauseinlieferung ( 1 Monat zu früh) schon 5cm offen und ich hatte starke Wehen. Da ich Medikamente bekommen sollte habe ich mich gegen den Kaiserschnitt entschieden und brachte meinen Sohn ohne PDA zur Welt (ich wollte wenn möglich auf alle Medikamente wegen der Maus verzichten). Ich wollte zudem während der Geburt allein sein und habe meinen Mann rausgeschickt . Ich weiß nicht mehr weshalb!Da alles sehr schnell ging war ich etwas geschockt! Ich habe meinen Sohn zwar auf meinen Bauch bekommen, aber ich weiß nicht mehr genau wie lange und ob dies für ein gelungenes Bonding ausreichend war! Das macht mir sehr zu schaffen! Ich hatte sofort ein sehr intensives Gefühl von Liebe ihm gegenüber.

von Lisa0909 am 13.11.2018, 07:54



Antwort auf: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Liebe Lisa, es ist gut, dass Sie das alles mal in Worte gefasst haben! Und jetzt vergessen Sie alle Experten (auch mich, wenn Sie das gelesen haben),und erkennen, was Sie alles Positives über Ihr Kind, seine Entwiclung und Ihre Beziehung geschrieben haben. Da ist so viel Liebevolles und Herzliches erwähnt, was nie entstanden wäre, wenn Sie nicht gut gewesen wären für Ihr Kind. Kinder gedeihen nicht unter einer Käseglocke, sondern im richtigen Leben, mit richtigen Menschen, die nie perfekt sind. Deshalb schreibt Winnicott (wieder ein Experte, aber ein toller) von der "hinreichend guten Mutter". Mit Ihren "Schwächen" geben Sie Raum für Entwicklung, Auseinandersetzung und später für eigenes nicht vollkommen sein der Kinder. Verlassen Sie sich auf das, was Sie zwischen sich und Ihrem Kind spüren, bauen Sie den Vater ein (eines meiner Lieblingsthemen) und tauschen Sie sich mit anderen (nicht perfekten) Müttern aus und geniessen wieder mehr das Positive, was Sie in der Beziehung zu Ihrem Kind erfahren. Ich wünsche Ihnen ganz viel Freude und Zufriedenheit dabei. Dr.Ludger Nohr

von Dr. med. Ludger Nohr am 14.11.2018



Antwort auf: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Ich mache mir dennoch Sorgen um das Bonding! Ich wusste damals nicht, dass ich ihn hätte ca. 3 Tage auf meinem Bauch liegen lassen sollen. Ich habe ihn zwischenzeitlich in sein Bettchen gelegt. Er bekam am 3. Tag einen Neugeborenenikterus und daher Fototherapie. Ich saß fast die ganzen 24 Stunden im Schwesternzimmer an seinem Bett aber ich weiß nicht ob er das mitbekommen hat. Ich durfte ihn nur zum Füttern und Wickeln rausnehmen. Das nächste Drama war das Stillen. Der Kleine war sehr schwach und konnte nicht saugen (wurde zügig auf Rat der Hebamme mit Flasche zugefüttert). Ich hatte vermeintlich Probleme mit den Milchkanälen (leider habe ich mir vor Jahren Implantate einsetzen lassen). Es kam keine Milch trotz Einschuss und es folgte eine Entzündung ! Ich bekam leider vorschnell Abstilltabletten. Ich war am Boden zerstört , dann kam eine Stillberaterin zufällig dazu und plötzlich kam doch Milch (beim Abpumpen). Nur leider zu spät , denn ich hatte die Tabletten schon genommen! Alle weiteren Bemühungen scheiterten die Milchproduktion wieder anzuregen! Ich fühle mich sehr schuldig, dass ich meinen Sohn nicht habe stillen können! In den darauffolgenden Monaten habe ich versucht immer alles „richtig“ zu machen ! Habe sehr viel gelesen und mich immer weiter unter Druck gesetzt! Ich habe die Maus tagsüber bis ca. 4 Monate mind. 10 Stunden im Tragetuch gehabt (dann wurde es zu warm), habe ihn niemals schreien lassen, ihn außer dem Papa niemandem länger gegeben, viel gekuschelt und mit ihm gesungen. Tagsüber schläft er immer auf meinem Bauch. Nachts ein paar Stunden im Beistellbett und dann (wenn ich etwas geschlafen habe damit ich ausgeruht bin und seine Signale besser wahrnehme) bei mir im Bett! Ich versuche mich an alles zu halten was Säuglingsspezialisten wie Dr. Posth, Dr Juul sagen zu halten, aber es gibt gelegentlich Situationen in denen ich es nicht schaffe und ungeduldig reagiere . Dann sage ich beispielsweise „boah“ oder „jetzt ist aber mal gut“ und meckere vor mich hin. Meist nachts ... am Tag schaffe ich es besser! Ich habe dann immer ein furchtbar schlechtes Gewissen! Ich entschuldige mich dann immer ganz doll und verspreche geduldiger zu sein! Habe sogar schon mit Meditation angefangen aber ich komme immer wieder an meine Grenzen! Zumal ich eigentlich von Anfang an alles allein gemacht habe. Die ersten Monate hat sich mein Mann sehr schwer mit allem getan! Er hat ihn nicht gewickelt oder angezogen, gefüttert , beruhigt usw.! Nicht falsch verstehen , er liebt seinen Sohn sehr, aber er hat sich nur den „schönen“ Dingen wie kuscheln gewidmet! Er ist zudem ins Wohnzimmer gezogen und noch niemals nachts aufgestanden um mir mit dem Kleinen zu helfen! Manchmal sind die Nächte echt hart! Mein Sohn schläft zwar gut ein aber wird ständig wach ... ich habe seit 7 Monaten eigentlich nicht länger als 2-3 Stunden am Stück geschlafen ! Morgens weine ich manchmal heimlich bevor ich das Licht anmache um den Kleinen anzulächeln! Ich möchte meinen Mann auf keinen Fall schlecht reden! Er ist ein toller Papa er liebt die Maus und er ihn auch ! Sie haben ein gutes Verhältnis! Meine große Sorge ist nur, dass mein zwischenzeitlich ungeduldiges , genervtes Verhalten der Bindung zu meinem Sohn schaden könnte ?! Bisher sieht es zwar nicht so aus ( er lacht mich super viel an, kuschelt mit mir, fremdelt seit dem 3. Monat aber lässt sich von mir sofort beruhigen, ich kann auch den Raum verlassen ohne dass er sofort weint) aber ich habe Angst, dass er mir das zukünftig „übelnehmen“ könnte! Ich hoffe immer, dass ich eine ausreichend gute Mutter bin aber meine Fehler machen mich wirklich fertig! Vor allem da ich nicht weiß ob diese folgenlos bleiben ... Entschuldigen Sie bitte den langen Text! Das ist das erste Mal, dass ich meine Gefühle diesbezüglich in Worte fasse! Mit freundlichen Grüßen , Lisa

von Lisa0909 am 13.11.2018, 07:56



Antwort auf: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Liebe Lisa, ich bin zwar nicht Hr. Dr. Nohr, hoffe aber, es ist ok, wenn ich dir dazu auch antworten darf. Ich denke, die meisten Eltern haben den Anspruch, alles richtig zu machen. Bemühen sich nach Kräften und haben ein schlechtes Gewissen, wenn mal etwas daneben geht. Das ist auch gut so und vollkommen in Ordnung. Ich habe aber das Gefühl, nicht nur du, sondern inzwischen sehr viele Mütter (ich nehme mich da nicht aus!) unterliegen dem irrigen Druck, wirklich perfekt sein zu müssen. Jedes Detail muss stimmen, weil das Kind durch jeden "Fehler" einen Schaden nehmen könnte. Dazu werden dann viele Ratgeber gelesen, die oft noch den Eindruck verstärken, das nahezu jede Schwäche einen irreparablen Schaden nach sich ziehen könnte. Es sind Ratgeber - keine Gesetze. Sie geben eine bestimmte Meinung zur bestmöglichen Erziehung wieder - aber es sind keine unumstößlichen Gesetze, die bei Nichteinhaltung zu dramatischen Konsequenzen führen. "Perfekt" gibt es nicht. "Perfekt" ist auch nicht authentisch. Glaub mir, jede Mutter wird ihr Kind mal anfauchen, anmotzen und sicher auch mal die Nerven verlieren und schreien. Perfekt wäre jetzt, sich dessen bewusst zu sein und darüber nachzudenken, wie man eine solche Situation bzw. das eigene "Nerven verlieren" in Zukunft wohl vermeiden könnte. Gute Eltern reflektieren ihr eigenes Verhalten und überlegen, in wie weit sie zum verhalten des Kindes positiv beitragen, aber eben auch negativ und versuchen dies besser zu machen. In fast allen Familien ist es so, dass der Vater weniger Zeit hat - deswegen sind diese Kinder doch noch lange nicht alle irgendwelchen Schäden dadurch ausgesetzt. Du schreibst selbst, sie haben ein gutes Verhältnis zueinander. Dann ist doch alles gut. Ich habe ein wenig den Eindruck, du bist sehr unsicher und willst deswegen alles perfekt machen. Aber wie schon gesagt: perfekt ist nicht authentisch. Auch Mütter dürfen mal genervt sein, müde, ungeduldig - das gehört zum Leben dazu. Und Kinder dürfen dies auch ruhig erleben. Ich denke, du solltest dir selbst ein wenig mehr Unperfektheit zugestehen. Und wieder lernen, deinen Gefühlen zu vertrauen - nicht nur irgendwelchen Ratgebern. Ob du dein Baby 3 Minuten auf dem Bauch hattest oder 3 Tage wird nicht dafür verantwortlich sein, wie es sich entwickelt oder wie eure Bindung ist. Solche Dinge entstehen aus einer Fülle an verschiedensten Dingen. Sie stehen und fallen nicht durch eine einzige Sache, die nicht perfekt war (und dabei ist "perfekt" ja nun auch etwas, was im Sinne des Betrachters liegt und nicht in Stein gemeißelt ist). Du machst dir so unendliche viele Gedanken darüber, was alles nicht perfekt gelaufen ist - aber dein Baby scheint doch glücklich zu sein. Darauf solltest du dich konzentrieren. Darauf, was du alles offenbar sehr gut gemacht hast. Die Summe der positiven Erfahrungen, die dein Kind bisher gemacht hat, überwiegen doch eindeutig die, die in deinen Augen hätten besser laufen können. Und das ist das entscheidende: die schönen Dinge sollten die nicht so schönen überwiegen - das ist das normale Leben. Wenn du das Gefühl hast, aus dieser Schleife von "wo muss ich besser werden, was hab ich nicht perfekt gemacht" nicht mehr gut herauszukommen, würde ich dir raten, zB eine Eltern-Kind-Gruppe zu besuchen. Tausch dich mit anderen Müttern mal aus. Du wirst schnell merken, wie unperfekt alle sind und die Kinder dennoch glücklich. Vielleicht hilft dir das ein wenig, eine etwas entspanntere Sicht auf euer Familienleben und dich als Mutter zu bekommen. Bei allen Bemühungen wird nämlich eines nicht wirklich gut sein: eine ständig angespannte Mutter, die mehr darüber nachdenkt, ob sie alles richtig gemacht hat, als die Zeit mit ihrem Kind zu genießen. Alles Gute!

von cube am 13.11.2018, 09:40



Antwort auf: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Wenn ich solche Stimmungen hatte, habe ich mir immer folgendes vor Augen geführt: Die Menschheit wäre ausgestorben, wenn unsere Babys so empfindlich wären, dass sie wegen vollkommen normaler Reaktionen ihrer Eltern gleich ein Trauma bekämen. Dazu kommt: Dein Kind darf und soll doch auch lernen, Gefühle auszudrücken, auch sogenannte "negative" Gefühle gehören dazu. Wie soll es das lernen, wenn Mama nicht auch mal genervt ist. Wie soll es verstehen lernen, dass auch Genervtheit oder mal schlecht gelaunt zu sein ganz normal ist und keine Katastrophe bedeutet? Sei Du selbst, lerne Dein Kind kennen - es ist ganz anders als Du vielleicht hineindenkst und viel robuster als Du Dir vorstellen kannst! Genieße die Zeit! Sie ist so zauberhaft und kommt nie zurück! Ach so, lass Deinen Mann wissen, wenn Du an Deine Grenzen kommst. Meinem fiel das auch schwer, mal zu wickeln oder so. Aber es musste eben sein, und dann können sie auch alles, was nötig ist, unsere Männer.

von Schniesenase am 13.11.2018, 12:26



Antwort auf: Ich schaffe es nicht „perfekt“ zu sein

Liebe Lisa, mir ging es ganz ähnlich mit dem Streben nach Perfektion und ich kann mich den anderen Antworten nur anschließen - wirklich niemand ist perfekt und wichtig ist, dass du dich deswegen nicht ständig verunsicherst und dir Vorwürfe machst, sondern die Zeit mit deinem Kind genießt. Nach deiner Beschreibung bist du eine tolle Mutter! Was ich nochmal betonen wollte: Beziehe deinen Mann stärker ein - es ist auch sein Kind und er sollte sich auch an den "harten" Teilen des Elternseins beteiligen. Sag ihm, dass du an deine Grenzen stößt und nachts vor Müdigkeit weinst (auch das kenne ich). Man kann sich gar nicht vorstellen, wie hart dieser ständige Schlafmangel ist und wie er auch alle emotionalen Probleme verstärkt. Selbst wenn dein Mann einmal pro Nacht aufsteht und den Kleinen beruhigt, würde dir das sicher sehr helfen. Mir fällt alles deutlich leichter, seit mein Mann die "Morgenschicht" übernimmt (wickeln, anziehen, Frühstück geben) und ich noch ein bisschen ausschlafen kann, statt nach einer schwierigen Nacht wieder gleich "an die Arbeit" zu müssen. Ich wünsche euch alles Gute!

von Malena87 am 15.11.2018, 11:16