Frage: Freilerner

Sehr geschätzter Dr. Posth! Sie empfehlen grundsätzlich den Kindergartenbesuch für jedes Kind, spätestens mit 4 Jahren nach der Phase der Individuation. Braucht wirklich jedes Kind die Gruppe von mindestens 14 Kindern? Als Vorbereitung auf die Schule? Es gibt in Ö eine Freilerner Community und mich beeindruckt Andre Stern,cder mit G. Hüther zusammenarbeitet. Da ich ihre Arbeit hoch schätze, interessiert mich ihre Meinung zur freien Bildung. Voraussetzung ist natürlich , dass wir Eltern für ausreichend Kinderkontakte sorgen. Unser Sohn (3) hat ja auch so Freundinnen, Freunde und Spielplatz-, sowie ungeplante Kontakte weil wir tägl stundenlange altersgerechte Unternehmungen machen. Ich kenne niemanden, der seine Schulzeit (viele auch KiGa nicht) positiv erlebt hat, bis auf kl. Teilbereiche. Vielen Dank, chrpan

von chrpan am 23.06.2014, 10:14



Antwort auf: Freilerner

Hallo, das Thema, das Sie ansprechen, ist ein etwas spezielles, das den Rahmen meines Forms in gewisser Weise sprengt. Trotzdem möchte ich Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage schuldig bleiben. Den Kindergartenbesuch empfehle ich deswegen, weil gerade heutzutage die Familien immer kleiner werden und weder ausreichend Geschwister noch Nachbarskinder für das notwendige soziale Gruppenregulativ sorgen. Aber gerade die Gruppe von mehr oder weniger gleichaltrigen Kinder schafft eine enorme Bereicherung in der Persönlichkeitsentwicklung für jedes Kind. Jedes Kind benötigt den Dialog und die soziale Auseinadersetzung, um zu erfahren, wer es selbst ist, und wie es mit diesem Selbst in der Gesellschaft zurecht kommt. Auf diese Weise reift das Selbst, wird weiter ausgebaut und wo nötig zurecht "gestutzt" sowie auf vielfache Weise gestärkt. Vorausgesetzt ist natürlich eine- ich sag es einmal kurz - demokratische Umgebung. Jede Form von Vereinheitlichung und indoktrinärem Zwang muss ausgeschaltet sein. Das ist eine große Gefahr, die von staatlich organisierten Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder ausgeht. Diese Gefahr wächst, je früher die Kinder aus den Elternhäusern entfernt werden und in solche Enrichtungen - durch wie auch immer geartete Zwänge - verbracht werden. Es gibt natürlich ein großes Angebot freier Träger für die frühe Fremdbetreuung, aber auch dieses ist leicht zu manipulieren. Sogar die Familien sind zu manipulieren, aber da besteht immer noch die größte Vielfalt und die am besten gesicherte individuelle Betreuung. Die "dysfunktionale Famlie" als Negativbeispiel dagegen zu halten, ist propagandistischer Zweck, und hält auch nur den Aufruf bereit, Famlien in der Not zu helfen und sie - wo gegeben - finanziell zu entlasten oder sozial zu unterstützen. Aber neben dem Leben in der Familie sollte der Schritt in die Gesellschaft nicht vernachlässigt werden, und der gelingt nur über Kindergärten und Schulen. Drei wichtige Gründe spielen eine Rolle: den ersten hatte ich schon genannt. Der zweite ist der nützliche Wettbewerb im Leistungsstreben, der fehlende innere Motivation erzieherisch nutzen kann. Das muss kein "Wettrennen sein", mit der Ermittlung, wer der beste ist usw. Es geht nur um die Freilegung von Ressourcen, die vielleicht nicht von alleine sprudeln. Und der dritte Aspekt ist auch die Kontrolle über die Familien durch die Gemeinschaft. Da, wo soziale Enklaven entstehen, ist auch die Gefahr von Vernächlässigung, Misshandlung und Missbrauch gegeben. Der psychische Druck auf die Kinder wächst hier enorm und nicht immer im tauglichen Maße für die psychische Gesundheit. Dagegen stehen Einzelindividuuen, die das alles nicht benötigen, sondern mit sich selbst zurecht kommen und sich entwickeln, weil sie a) sehr begabt sind und b) glücklicherweise hohe Ressourcen besitzen. Davon sprechen A. Stern und G. Hüther in ihren Publikationen. Aber das ist nicht der "Durchschnitt" der Kinder. Die Realität der Kindheit funktioniert anders. Aber nur sie gibt den Maßstab vor, was an gemeinschafltichem Aufwachsen, Miteinanderauskommen und Lernen erforderlich ist. Sonst fühlen sich unendlich viele Eltern mit ihren Kindern abgehängt. Viele Grüße und danke für die Frage.

von Dr. med. Rüdiger Posth am 27.06.2014