Frage: Dreijährige

Sehr geehrte Frau Henkes,  ich würde mich über ihre Einschätzung freuen. Ich hoffe, meine Sorgen sind unbegründet.  Es geht um unsere Tochter, die bald 3 wird. Sie ist ein sehr lebhaftes, offenes, fröhliches und sehr sensibles kleines Mädchen, das wir über alles lieben.  Sie freut sich grundsätzlich über Menschen und geht gut auf alle zu. Wenn sie zB mit anderen Kindern hüpft, tanzt oder Trampolin springt, lacht sie dabei die ganze Zeit aus vollem Hals.  Sie wächst zweisprachig auf und spricht deutsch altersentsprechend gut, versteht in der zweiten Sprache alles, spricht sie aber recht wenig. Mein Mann und ich sprechen untereinander auch Englisch und ich habe inzwischen den Eindruck, dass sie auch davon sehr viel versteht.  Sie denkt viel mit und machte schon früh viele Dinge eigenständig von denen sie wusste, dass sie nun anstehen. Beispiel: Jemand bemerkt, dass unser Kännchen mit Olivenöl leer ist, sie überhört das, rennt los und holt die große Flasche zum Nachfüllen, weil sie es wohl das letzte mal so beobachtet hat.  Sie ging mit einem Jahr 4 Tage/Woche zu einer tollen Tagesmutter und das hat prima geklappt, nun geht sie seit Oktober in einen Kindergarten, die Eingewöhnung verlief unkompliziert und sie geht sehr gerne hin. Sie verhält sich wohl sozial und ich habe noch nie irgendein kritisches Feedback bekommen.  Sie hat schon als Baby bei melancholischer Musik geweint und weint immer noch bei manchen Liedern, die ich ihr erst vorsingen soll, dann weint sie aber und ich höre auf.  Sie hat uns schon immer als Eltern viel gefordert, im Sinne dass sie als Baby schlecht schlief, und immer in Bewegung sein wollte. Ich konnte mich zB nicht mit ihr auf dem Schoß hinsetzen, da hat sie immer gemeckert.  Und sie fordert nach wie vor so viel Aufmerksamkeit.  Sie redet in einer Tour.  Wenn sie mich ruft, dann in Endlosschleife und maximaler Lautstärke, bis ich mich ihr ganz zugewendet habe.  Sie unterbricht uns bei Unterhaltungen eigentlich andauernd lautstark.  Sie singt in einer Tour vor sich hin und ich habe den Verdacht, dass das vielleicht nicht nur Ausdruck von Musikalität oder Freude, sondern auch ein Stressventil sein könnte.   Wenn ich ihr etwas verbiete, singt sie lauter und mit aufgerissenen Augen. Oft rudert sie dann mit den Armen.  Heute beim Abendessen hat sie so gut wie nicht stillgesessen.  Sie versucht ständig überall draufzuklettern. Sobald ich mich hinhocke, versucht sie, mir auf die Schultern oder auf die Knie zu klettern. Ich sage ihr jedes Mal hör auf, ich verliere das Gleichgewicht.  Wenn sie an meiner Hand läuft hängt sie sich meistens mit viel Gewicht rein. Sie klettert auf den Hochstuhl ihrer 9 Monate alten Schwester und hinter mich auf meinen Stuhl. Turnt im Buggy rum und dreht sich, bis sie sich irgendwo einklemmt.  Regelmäßig tut sie sich weh wenn sie sich irgendwo dranhängt und abrutscht, dann geht ein sirenenartiges Geheule los.  Heute beim Abendessen wollte sie auf meinem Schoß sitzen, hat dort aber ständig die Füße auf die Tischkante gestützt und den Po hochgedrückt, sodass es unmöglich war. Beim Wickeln dreht und windet sie sich oft, dass ich aus der Haut fahren könnte, weil ich natürlich nicht möchte, dass der Windelinhalt neben der Wickelunterlage auf dem Teppich landet.   Ich bin eigentlich ein eher ruhiger Mensch und werde von anderen als sehr geduldig wahrgenommen, aber die letzten Tage spüre ich mich sehr oft tief durchatmen.  Mein Mann ist das komplette Gegenteil, und hat wahrscheinlich ADHS.   Und daher kommt meine Sorge: spricht aus ihrer Sicht das beschriebene Verhalten für ADHS?  Sie kann sich durchaus alleine beschäftigen, geduldig puzzeln, sich um ihre Puppe kümmern. Hat schon mit eineinhalb Jahren mit großer Motivation so lange geübt, bis sie sich selber ihre Sandalen anziehen und sogar die Riemen durch die Ösen friemeln konnte.  Spricht das nicht dagegen? Oder entsteht ADHS eh erst später und das heißt gar nichts? Ist alles vielleicht einfach altersentsprechend normal und ich bin bloß am Limit mit einer völlig normalen Dreijährigen und Baby?  Haben Sie Tips für mich?  Bitte entschuldigen Sie den langen Text, ich habe versucht, ein möglichst gutes Bild zu zeichnen.   Vielen Dank im Voraus.  

von Aurelianna am 20.11.2023, 21:25



Antwort auf: Dreijährige

Guten Tag, ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Sie beschreiben eine typische lebhafte Dreijährige. In diesem Alter können Kinder Eltern durchaus an ihre Grenzen bringen, vor allem, wenn zwei Kinder zu betreuen sind. Oft hilft es, das kindliche Verhalten besser zu verstehen. Vermutlich ist Ihre Tochter unbewusst noch mit der Entthronung durch die Schwester und der damit einhergehenden Rivalität beschäftigt. Sie fordert Ihre permanente Aufmerksamkeit ein, weil sie die unbewusste Angst hat, die Schwester könne mehr Beachtung finden. Gleichzeitig ist sie vermutlich in der Trotzphase und möchte ihren Willen behaupten. Es handelt sich um einen beliebten Kindertrick, die Stimme zu erheben, um das elterliche Verbot nicht zu hören. In dieser Phase ist es wichtig, dass Kinder erleben, dass sie ihren Willen durchsetzen können, also wirkmächtig sind. Gleichzeitig müssen Sie jedoch auch lernen, dass das nicht immer möglich ist. In diesem Alter helfen klare elterliche Handlungen oft besser als Worte oder Erklärungen. Wenn Dreijährige einem Impuls nachgehen, sind Worte und Versprechungen vergessen. Der Impuls ist noch zu stark und das kindliche Gewissen noch nicht genügend entwickelt. Wenn Ihre Tochter also auf ihrem Schoß sitzt und sich gegen den Tisch stemmt, muss sie herunter. Sie müssen sich auch nicht ständig von ihr im Gespräch unterbrechen lassen. Sie können mit ihr schrittweise üben, ein wenig zu warten. Der Bewegungsdrang von aktiven Kindern zeigt sich auch beim Wickeln. Sie können ausprobieren, die verkoteten Windeln im Bad oder der Badewanne zu wechseln. Da lässt sich alles unkompliziert säubern. Ihre Tochter lernt dabei, dass Sie souverän mit ihren Willensbekundungen umzugehen wissen und Lösungen finden. Mit Ihrer Unterstützung kann Ihre Tochter so allmählich lernen, Grenzen zu akzeptieren und Ihre Regeln einzuhalten. Sollten Sie bezüglich ADHS weiter besorgt sein, sollten Sie Ihren Kinderarzt darauf ansprechen. Er kennt Ihre Tochter und kann ihr Verhalten über die Zeit einschätzen. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ingrid Henkes

von Ingrid Henkes am 21.11.2023