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Sechs bis neun

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Geschrieben von Dezemberbaby2012 am 13.03.2022, 15:27 Uhr

Keimphobie

Liebe Lotta,

dass alle deine Kinder (du sprichst von KindER, also Mehrzahl) so extrem reagieren ist eher ungewöhnlich. Ich bin mir ehrlich gesagt ein bisschen unsicher, ob der Post wirklich echt ist. Wenn er echt ist:

Du musst dringend etwas unternehmen! Bei deinen Kindern hat sich offensichtlich ein massiver Wasch- und Vermeidungszwang eingeschlichen. (Ich weiß, Ferndiagnosen sind immer schwierig, aber was du erzählt hast, ist sehr alarmierend.)

Bitte veranlasse dringend einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater. Der Kinderarzt kann dich vielleicht dabei unterstützen. Parallel kannst du auch schon einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten kontaktieren (für eine eventuelle Psychotherapie).
Wenn sich solche Zwänge manifestieren (also festigen), kann es sein, dass deine Kinder sie ein Leben lang nicht loswerden oder sie zwar vorübergehend verschwinden, in emotionalen Krisenzeiten dann aber umso heftiger wieder zurückkehren. Und sich dann leider häufig auch auf weitere Bereiche ausdehnen.

In der Anfangszeit sind Zwänge meistens noch relativ gut behandelbar. Dafür muss man aber schnell reagieren. Das Gehirn deiner Kinder ist noch im Wachstum. Die Virenerfahrung und -Angst brennt sich dort sozusagen ein. Es muss jetzt schnell sozusagen „überschrieben“ werden, damit diese Erfahrung und dieses diffuse Angstgefühl dort nicht dauerhaft eingebaut wird.

Solltest du eine längere Wartezeit bis zu einem Termin haben, kannst du dir vielleicht inzwischen ein Selbsthilfebuch oder Fachbuch zu dem Thema durchlesen, z.B.

Susanne Fricke: „Dem Zwang die rote Karte zeigen: Ein Ratgeber für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern“
Sigrun Schmidt-Traub: „Zwänge bei Kindern und Jugendlichen. Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Therapeuten“
Gunilla Wewetzer: „Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Ein Therapiemanual.“ (Achtung, Fachbuch!)
Für deine Kinder:
Katharina Armour: „Zita zähmt das Zwangsmonster. Ein Therapie-Begleitbuch“


Grundsätzlich werden Zwänge (= Zwangserkrankung/Zwangsstörung) durch eine Verhaltenstherapie behandelt.

Diese beinhaltet neben Psychoedukation (= wie funktioniert Angst) auch die Korrektur falscher Annahmen (= falsch: alle Bakterien und Viren sind böse), falscher Wahrscheinlichkeiten (falsch: wenn man eine Türlinke mit Viren anfasst, stirbst man) sowie das Aushalten von Unsicherheit (= eine minimale Wahrscheinlichkeit von 0,02%, dass etwas zum Tod führen kann, ist eine seeeehr geringe Rest-Unsicherheit. Diese muss man lernen, auszuhalten).

Dazu Entspannungsübungen (je angespannter der Körper, desto anfälliger für Angst/Zwänge) und Achtsamkeitsübungen (= lernen, auch einmal einfach nur da zu sein, nichts zu bewerten).

In schwierigen Fällen auch Medikation (z.B. bestimmte Antidepressiva), aber ich glaube nicht, dass man das bei Kindern schon macht.

Dann kommt der wichtigste Teil: Konfrontationstherapie. Das bedeutet, sich einem Reiz (= z.B. Türklinke) auszusetzen, und dann die anschließende Angst auszuhalten, ohne die Vermeidungshandlung (= das Händewaschen oder desinfizieren) durchzuführen. Man nennt das auch Reiz-Reaktionsmanagement. „Management“ deshalb, weil es nicht darum geht, die Angst einfach wegzudrücken und auszublenden, sondern sich mit der Angst bewusst auseinanderzusetzen und eben anders als vorher darauf zu reagieren.
Das ist bei Kindern schwierig, dafür würde ich an deiner Stelle auf jeden Fall fachliche Unterstützung suchen. Denn ich könnte mir vorstellen, dass Kinder da besonders aufgefangen werden müssen, damit die Konfrontation mit den einhergehenden Hilflosigkeits- und Angstgefühlen nicht zu anderen seelischen Schäden führt. Da kann dir eines der oben angegebenen Bücher vielleicht eine erste Hilfe sein, wie man das behutsam und kindgerecht machen kann.

Zwänge haben immer ganz viel mit Angst vor Kontrollverlust und Hilflosigkeit zu tun. Vielleicht kannst du im Moment besonders darauf achten, dass deine Kinder in anderen Bereichen viel Entscheidungsmacht und Kontrolle haben?
Und: Ist da vielleicht noch etwas anderes bei euch vorgefallen, was mit der Corona-Verunsicherung zusammenkam? Sowas wie Trennung, Umzug, Tod eines Angehörigen oder ähnliches? Denn wie gesagt, dass alle Geschwister recht heftige Zwänge/Ängste entwickeln, erscheint mir eher ungewöhnlich.

Und ganz wichtig: es geht hier nicht um die Schuldfrage! Das eine Kind reagiert ängstlicher, das andere weniger. Das ganze Umfeld der Kinder (also auch Schule, Klassenkameraden, Verwandte) dreht wegen Corona (teilweise zu Recht) am Rad. Da kann man nicht so aus der Ferne sagen: Die Eltern haben Schuld. Klar, wenn man vorher dafür sensibilisiert gewesen wäre, hätte man vielleicht frühzeitig gegensteuern können. Das ist aber natürlich nicht allen Eltern so bewusst. Und es ist in Zeiten von Corona ein sehr schmaler Grad zwischen Kindern Hygiene beibringen und Kindern Panik beibringen. Es geht also nicht um Schuld, sondern eher um Verantwortung. Und die, liebe Lotta, hat du eindeutig gezeigt, indem du auf das extremer werdende Verhalten deiner Kinder reagierst und dir (auch über dieses Forum) Hilfe zur weiteren Einschätzung der Lage holst.

Ganz liebe Grüße

Dezemberbaby

 
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