Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Liebe Frau Dr. Bentz, ich habe bisher mit großem Interesse in Ihrem Forum gestöbert und bin angetan von ihren individuellen und empathischen Antworten. In vielen Fällen finde ich auch meine Tochter wieder. Jedoch bin ich skeptisch von einer Regulationsstötung zu sprechen: denn sowohl mir, als auch meiner Tochter geht es mit der im Folgenden beschriebenen Situation gut. Sie wird in 1 1/2 Wochen 5Monate alt. Bis sie etwa 10 Wochen alt war, hat sie viel geweint (aber nicht 3h am Tag) und ließ sich nur kurz ablegen: sah ich als normal an: sie war ja noch so klein und brauchte eben viel Nähe... Inzwischen spielt sie auch gut mal alleine und lacht den ganzen Tag viel. Unser Hauptthema ist aber seit der Geburt das Schlafen. Zu Beginn schaffte sie mal 3h am Stück: diese Zeiten sind aber lange (seltsame Formulierung ob ihres jungen Alters ;)) vorbei. Tagsüber wird sie ca.alle 1-2h müde. Einschlafen klappt nur durch Stillen oder Herumtragen. Dann schläft sie immer 20-40 Minuten und sie wird wach. Sie ist dann meist noch etwas müde, wird dann aber munterer, wenn ich sie aus dem Bett nehme und mit ihr spiele. Nach spätestens 2h muss sie wieder schlafen. Im Kinderwagen schläft sie leider nur unter Weinen ein: keine Ahnung, was sie an ihrem tollen Wagen stört? Nun zur Nacht: sie schläft neben mir im Familienbett. Ins Bett geht sie (natürlich mit Einschlafstillen) zwischen 19 und 20 Uhr. Zu Beginn ist sie alle 30 Minuten wach. Schlafe ich dann auch schläft sie auch mal 1-2h am Stück. Früh ist sie zwischen 6 und 7 wach. Aaaber: es stört uns beide nicht. Deswegen weigere ich mich hier, wie oft propagiert, von einer Störung zu sprechen! Ich denke die Zeit wird alles regeln oder liege ich da völlig falsch? Ich werde mit ihr defintiv keines der unsäglichen Schlaftrainings durchführen (auch wenn die Großeltern sich dafür aussprechen: hätte uns ja auch nicht geschadet). Über eine Einschätzung Ihrerseits unserer Situation freue ich mich. Herzliche Grüße aus Dresden!

von Lippenbärchen am 09.05.2016, 08:58


Antwort auf: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Liebe Lippenbärchen! ich bin froh, dass sie diese Frage gestellt haben, denn tatsächlich führt der Begriff "Regulationsstörung" immer wieder zu Missverständnissen und Verunsicherungen. Eines vorweg: ich kann und möchte hier keine Ferndiagnosen stellen. Wenn ich hier von Störung spreche, verwende ich diesen Begriff im wissenschaftlichen Sinn, um also ein Phänomen zu benennen. Im Grund geht es ja bei derartigen Kategorien um nichts anderes. Sie dienen in der Forschung und im klinischen Kontext der Verständigung über definierte Fragestellungen. Für betroffene Eltern - und das betone ich hier immer wieder - sind derartige Kategorien nur wenig hilfreich. Sie bieten Anhaltspunkte, doch für meine praktische Arbeit ist es mir wurscht, ob ein Kind die Vollkriterien für exzessive Schreien, eine Fütterstörung oder sonstiges erfüllt. Leidensdruck ist schließlich nicht objektivierbar - eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern hat vermutlich weniger Ressourcen für ein schlecht schlafenden Kind, während eine Mutter mit Oma im Haus, Haushaltshilfe und einem engagierten Partner drei Stunden Schreierei noch gut wegstecken kann. Ich selbst finde den Begriff Regulationsstörung auch nicht geglückt und spreche daher meist auch von Regulationsschwierigkeiten. Störung suggeriert, dass hier die Schuld beim Kind liegt, es eben "krank" oder "abnormal" sei. Das ist aber ausdrücklich nicht die Definition von Regulationsstörung. Störung bedeutet hier nicht Krankheit, sondern eben eine problematisches Bild in Kontexten der Regulation (Schlafen, Essen, Spielen etc.). Das Verhalten selbst ist dabei eine Extremausprägung eine per se nicht pathologischen Verhaltens (Schreien, nächtliches Aufwachen etc.) zu sehen. Was die Ursachen betrifft, so spricht ,an von einer Trias aus Faktoren beim (a) Kind (Reifung ist sicher ein Faktor, aber auch eben auch tatsächlich auffällige neurologische Besonderheiten, genetische Disposition etc.), (b) bei den Eltern und (c) in der Eltern-Kind-Interaktion. Dier Forschung ist noch ganz am Anfang und wir verstehen unser Hirn immer noch nur zu einem Bruchteil. Hier wird die Zukunft sicher noch mehr Klarheit bringen. Klar ist auch, dass solche Definitionen damit immer einem Wandel unterliegen und sicher immer ein Ausdruck der soziokulturellen Umstände sind. Vielfach wird ja auch kritisiert, dass das Thema "frühkindliche Regulationsstörungen" ein rein westliches Modethema ist. Doch hier rate ich zur Vorsicht! Dies mag so sein, doch heißt das, dass deshalb kein Handlungsbedarf besteht, weil es eben nur ein Phänomen unserer Kultur ist? In vielen der oft zitierten Naturvölker gibt es z.B. auch keinen Begriff für Depressionen und vor ein paar Jahrzehnten galt dies noch als nette "Hausfrauenkrankheit", die man nicht ernst zu nehmen hat. Wohl kaum einer würde heute jedoch sagen, dass Depressionen einfach nur ein Modegag sind. Beim Thema "frühkindliche Regulationsstörungen " sehe ich das ähnlich. Dass wir in unserer Kultur andere Problemfelder haben, macht die Probleme meiner Meinung nach nicht weniger wichtig. Dennoch will ich niemanden eine Störung andichten - auch Ihnen nicht! Wo kein Leidensdruck, da kein Handlungsbedarf! Doch auch hier müssen ehrlichweise beide Seiten betrachtet werden. Es gibt durchaus (und gar nicht so überaus selten) den Fall, dass ein Kind unter genannten Schwierigkeiten leidet, die Eltern aber keinen Handlungsbedarf erkennen. Aus Längsschnittstudien ergeben sich Hinweise, dass Kinder, die exzessiv geschrieben haben, später ein erhöhtes Risiko haben, an weiteren Störungen zu erkranken. Ebenso kann man zeigen, dass eine frühe Intervention hilft, dieses Risiko zu minimieren. Schlecht schlafende Kinder sind wie exzessiv schreiende oder chronisch unruhige Kinder nicht per se krank, aber auch hier zeigt sich ein erhöhtes Risiko für spätere Schlafstörungen. Eltern muss daher bewusst sein, dass auch mit Abwarten ein Risiko einhergeht, und zwar das Risiko dass man den Zeitrahmen für eine recht unproblematische und zügige Behandlung verpasst und sich Schwierigkeiten manifestieren und auf andere Kontexte (Essen, Spielen, Ängste, Aggressionen) ausweiten. Davon auszugehen, dass sich alles von allein regelt, gilt zwar unbestritten für die Mehrheit der exzessiv schreienden Säuglinge (insofern ist es auch berechtigt von 3-Monats-Koliken zu sprechen), ganz eindeutig aber nicht für eben einen hartnäckigen Kern. Es kann und sollte daher keine allgemeine Handlungsempfehlung sein! Einzelbeispiele sind schön und ich freue mich wirklich für alle Eltern, wo sich die Schwierigkeiten einfach so ausgewachsen haben, doch daraus das Fazit zu ziehen, abwarten und sich mit den Gegebenheiten abzufinden, sei das einzig Richtige, kann man eben nicht gelten lassen. Vor nicht allzu langer Zeit etwa war das Thema Logopädie noch recht fremd und man ging davon aus, dass sich alles mit der Zeit gäbe. Heute weiß man, dass es für das korrekte Sprechen sensible Zeitfenster gilt und Abwarten ab einem bestimmten Zeitpunkt ein deutliches Entwicklungshemmnis darstellen kann. Die Kunst besteht also darin, genau zu gucken, wo Handlungsbedarf besteht und wo nicht. Einfache Antworten gibt es hier leider nicht. Diese Spannung muss man - übrigens auch als Profi - ertragen. Wichtig finde ich daher sowohl für Eltern als auch für Leute vom Fach, offen zu bleiben und Dinge immer wieder kritisch zu reflektieren. Kein Kind muss irgendwelchen Normtabellen entsprechen, doch wenn eine Entwicklung dauerhaft auffällig abweicht, Kinderarzt, Tagesmutter, Hebamme etc. sich Sorgen machen, lohnt sich ein genauerer Blick, denn diese Leute haben nicht nur Fachwissen, sondern auch mehr Vergleichsmöglichkeiten. Ich wehre mich deshalb gegen jede Form von Dogmatismus und möchte mein Forum auch nicht als Propaganda für irgendwelche Methoden verstanden haben. Daher nochmal Danke an Sie, dass ich dies noch einmal deutlich machen kann. Ich finde es gut und ein Zeichen von Elternkompetenz wenn Eltern wie Sie kritisch sind und nicht einfach methoden- oder obrigkeitshörig Dinge machen, die ihnen eigentlich widerstreben. Ich sehe mich auch nicht als Expertin für Lösungen, sondern Expertin für das gemeinsame Finden eines individuellen Lösungsweges. Ob Ihr Weg richtig für ihr Kind ist, kann ich daher gar nicht beurteilen. Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass Sie wie die allermeisten Eltern in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen für ihr Kind zu treffen. Doch Dogmatismus gibt sowohl bei Experten als . Wenn Eltern stur einer Philosophie folgen, weil sie meinen, dies sei der einzig wahre Weg und - aus welchen Gründen auch immer - Hinweise ausblenden, dass eine Entwicklung nicht richtig verläuft, kann es eben sein, dass sie sich blind für Lösungen machen. Dies kann sowohl das Abwarten als auch umgekehrt das Setzen auf Allheilmittel oder bestimmte Methoden bedeuten. Ich selbst sehe beides als mögliche Optionen im Rahmen meiner Arbeit, und damit wären wir wieder bei den fehlenden einfachen Antworten die a ich leider nicht bieten kann. Selbst wenn ich gewisse Dinge immer wieder gern empfehle, habe auch ich keinen Aus-Knopf oder kann keine Garantien für irgendwelche Wege geben. Vielleicht können aber Diskussionen wie diese dem einen oder anderen Impulse zu liefern und helfen sich in Entscheidungen sicherer zu fühlen – ganz gleich, ob sie nun meinen Vorschlägen entsprechen oder nicht. In diesem Sinne: für Sie und Ihre Familie alles Gute für Ihren persönlichen Weg! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 10.05.2016


Antwort auf: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Hallo Lippenbärchen, ich bin zwar nicht Frau Dr. Bentz, aber ich antworte trotzdem mal, da ich uns in der beschriebenen Situation total wiedererkenne. Auch ich hatte Probleme damit, meinen Sohn bzw. sein Verhalten in irgendwelche Schubladen zu stecken! Er war ein Einschlafstiller, 30 Minuten-Schläfer (tagsüber) und Vieltragling. Über viele Monate habe ich nachts im 1-2 Stundentakt gestillt, die ersten Wochen hat er nachts nur auf mir geschlafen. Anfangs war ich verunsichert durch die vielen Kommentare von außen, war versucht Dinge zu ändern, aber Schlaftrainings und schreien lassen waren immer tabu für mich. So habe ich die Situation einfach angenommen und darauf vertraut, dass mein Kind schon seinen Weg geht. Was soll ich sagen - es ist so eingetroffen! Mit 11 Monaten hat er sich alleine von einem auf den anderen Tag abgestillt und seither sind die Nächte (meistens) ruhig, tagsüber schläft er 1,5-2 Stunden alleine im Bett. Vielleicht war es richtig so zu handeln, vielleicht hatte ich einfach Glück, wer weiß das schon. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ich ihm seine Zeit zum Reifen gelassen habe. Liebe Grüße, Lilliwilli

von Lilliwilli am 09.05.2016, 15:03


Antwort auf: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Vielen Dank für deine Antwort. Ich denke auch, dass das wichtigste Vertrauen ins eigene Kind ist!! Deine Geschichte zeigt gut, dass Kinder eben ihren eigenen Plan haben und nicht unbedingt von einer Störung gesprochen werden kann. Nochmal danke für deinen Erfahrungsbericht!!

von Lippenbärchen am 09.05.2016, 15:15


Antwort auf: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Liebe Frau Dr. Bentz, sie haben meinen Blick auf die Sache tatsächlich nochmal geweitet. Vielen Dank dafür! Wäre denn z.B. das begleitete Weinen im Alter von 5 Monaten schon angemessen?

von Lippenbärchen am 11.05.2016, 06:44


Antwort auf: Wirklich Entwicklungs-/Regulationsstörung?

Gern geschehen! Zu Ihrer Frage: Zunächst ist das begleitete Weinen keine streng umrissene Methode - d.h.es sammelt sich sehr viel um den Begriff. Sie ist daher auch weniger untersucht als z.B. Ansätze wie das Ferbern - das muss man ehrlicherweise zugeben. Ich selbst betrachte sie als Kompromiss zwischen rein lerntheoretischen Vorgehen und bindungsorientierten Ansätzen. Ich folge dabei explizit nicht der Argumentation einiger Vertreter, die die Auflösung post- pre- oder perinataler Trauma in den Fokus stellen über die sich ein Kind ausweinen muss. Hier wird für meine Begriffe der Traumatbegriff wieder einmal zu sehr gedehnt. Ich folge vielmehr der Argumentation, dass Teufelskreise, die aus Reizhunger- Überstimulation- Gewöhnung- stärkere Reize und damit Ablenkung von inneren Zuständen- durch "ruhige" (= reizarme) Beruhigung aufgebrochen werden können, ohne gleich die - wie es eine der Schreiberinnen hier nannte - die "verhaltenstherapeutische Keule" herausholen zu müssen. Insofern finde ich die Methode auch ab fünf Monaten alten Kind angemessen, vorausgesetzt, es ist gesund und man hat Alltagsgestaltung, Schlafhygiene etc. zuvor genauer betrachtet und ggf. optimiert. Solche Maßnahmen können schließlich nur greifen, wenn die Grundlagen des gesunden Schlafs gewährleistet sind. Ein stressfreies Allheilmittel ist begleitetes Weinen jedoch auch nicht! Gerade weil sich die Verbesserungen nicht so schnell und deutlich zeigen, wie etwa beim Ferbern, geben Eltern oft viel zu früh auf, was die Lage dann weiterhin verschlimmern kann. Begleitetes Weinen kann übrigens auch bedeuten, dass Sie Ihr Kind einfach nur auf dem Arm halten, aber aufs Gegen, Schuckeln, Singen etc. verzichten. Das fällt manchen Eltern gerade bei sehr jungen Kindern leichter, als sich neben ihr brüllendes Kind zu legen. Nochmals alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 11.05.2016