Wenn Schreibabys groß werden!

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Wenn Schreibabys groß werden!

Ich lese seit kurzer Zeit mit großem Interesse ihn diesem Expertenforum. Ich finde mich immer wieder in Geschichten von Müttern wieder und finde ihre Antworten wirklich spitze. Sie geben sich so viel Mühe, das ist ein großes Lob wert. Meine Tochter Jasmin ist jetzt 12 Jahre alt und war mein ersten Kind, ich war gerade 23 Jahre alt als sie auf die Welt kam. Sie war bis zum fast ersten Geburtstag ein Schreikind. Lange Zeit konnte mir keiner helfen. Der Kinderarzt erklärte mir das Kind schreit weil ich so unsicher bin, die Hebamme erklärte mir das läge daran das ich nicht stillen würde, viele meinte ich hätte einfach zu früh ein Kind bekommen und sei noch nicht reif. Zwei mal waren wir im Krankenhaus das war Jasmin noch nicht einmal drei Monate alt. Beim ersten mal hat sie 7 Stunden durchgehend geschrien (sie ist ein paar mal für gut 30 Sekunden weggekippt), sie hat nicht einmal ein Fläschchen getrunken. Aber auch im Krankenhaus wurde ich nicht ernst genommen, sie wurde körperlich untersucht und am Ende wurde ich mit der Aussage Blähungen nach Hause geschickt. Als Jasmin 4 Monate alt war konnte ich nicht mehr. Ich suchte mir einen neuen Kinderarzt, einen der mich verstehen würde und zum Glück fand ich eine sehr nette Ärztin. Sie erwähnte dann auch das erste mal das Jasmin ein Schreikind sei, zuvor hatte ich noch nie davon gehört. Sie überwies mich in eine Schreiambulanz und das war unser Segen. Jasmin hörte deswegen nicht zu schreien auf, aber ich lernte damit umzugehen und das es nicht meine Schuld sei. Ich lernte Entspannungstechniken für mich und auch für Jasmin und das weniger meist mehr ist. Als Jasmin mit 9 Monaten krabbeln lernte wurde es etwas besser, obwohl die Schreizeiten immer noch sehr lang waren. Ich hatte da auch gelernt sie mal für ein, zwei Stunden bei einer der beiden Omas zu lassen um Zeit für mich zu haben. Und heute noch reden die Omas von dieser Zeit und von diesem Kind das sich einfach nicht beruhigen ließ, das war einfach unvorstellbar für sie das es wirklich ein Baby gibt das sich nicht beruhigen lässt. Als Jasmin 1 Jahr alt wurde, wurde es besser sie weint zwar noch viel, aber nicht mehr so ausdauernd. Sie konnte mit Reizen besser umgehen. Unsere Betreuerin in der Schreiambulanz sagte mal ganz treffen. "Jetzt dreht sich die Welt nicht um Jasmin herum, sondern Jasmin dreht sich mit der Welt mit". Das Gefühl hatte ich auch. Mir wurde aber ziemlich bald gesagt das extreme Schreikinder oft auch im späteren Jahren wieder ihre Phasen haben können und ich immer zu ihnen kommen kann egal wie alt Jasmin ist. Jasmin fing mit 9 Monaten an zu fremdeln und fremdelte mit 3 Jahren immer noch sehr, sie hatte nur wenig Menschen die sie an sich heran ließ. Als Baby fremdelte sie sogar für ein paar Wochen beim Papa, obwohl sie ihn jeden Tag sah. Körperlich Nähe war und ist auch heute noch für Jasmin sehr schwierig. Das war schwer für mich das zu akzeptieren, ich wollte doch mein Kind einfach nur fest halten wenn es ihr nicht gut ging, aber damit machte ich es oft noch viel schlimmer, das musste ich lernen, aber es war und ist heute noch ziemlich schwer für mich. Im Trotzalter war ich oft noch fertiger als im Säuglingsalter. Denn jetzt hatte ich nicht nur ein schreiendes Kind, sondern auch ein ums sich hauendes, windendes, beißendes, wütendes Kind. Das nicht wusste wie es sich beruhigen soll und das aber keine Nähe vertrug, aber auch nicht allein sein wollte. Ich frag mich heute noch wie ich die Zeit überstanden hab, aber ich glaub mein zweites Kind Lukas gab mir die Kraft. Er war der Ruhepol in Person. Er war so ein gutmütiges und freundliches Kind und er war auch der einzige der Jasmin immer umarmen und abschmusen durfte, er war ihr kleiner Held und das ist heute noch so. Lange Zeit war das Verhältnis zwischen Jasmin und mir echt schwierig und ich suchte mir regelmäßig Hilfen bei Psychologen, weil ich oft echt schlimme und schlechte Gedanken hatte. Ich hätte meinen Kind nie was angetan, aber der Gedanke sie einfach zu Oma zu bringen und nicht mehr zu holen kam mir leider öfter. Ich sah halt bei Lukas wie schön eine Mutter-Kind-Bindung sein kann und dann sah ich Jasmin und mich und wie kompliziert unsere Bindung war. Durch Psychologen und viele Gespräche wurde mir klar das nicht alles meine Schuld sei und das auch die Gedanken sie einfach weg zu geben normal sein, ein Schutzmechanismus meines eigenen Körpers. Weil ich einfach ziemlich oft oder eigentlich ständig an meine Grenzen getrieben wurde. Als Jasmin 8 Jahre alt war. Wurde es auf einmal besser. Ob es an mir lag das es besser wurde oder an ihr kann ich nicht sagen. Aber unsere Verhältnis zueinander wurde besser. Körperliche Nähe mochte sie immer noch nicht, aber wir konnte oft stundenlang mit einander reden. So heute ist Jasmin 12 Jahre alt. sie ist immer noch anders als ihre gleichaltrigen Freunde, sie ist immer noch unselbstständiger und anhänglicher sie braucht immer jemanden bei sich, sie kann sehr schlecht alleine sein sie vergöttert ihren Bruder immer noch (obwohl er sich langsam von ihr lösen möchte) sie ist oft sehr weinerlich und es fällt ihr schwer sich dann zu beruhigen sie schläft immer noch sehr schlecht und sehr wenig und dazu kommt jetzt die Pubertät, denn auch wenn sie geistig noch nicht die reife hat. Ist ihr Körper umso reifer. Sie ist sehr groß für ihr Alter, sie hat mit 11 Jahren die Menstruation bekommen, sie braucht jetzt schon einen BH und ihre Hormone spielen schon total verrückt. Momentan kämpft sie mit ganz schlimmer Akne. Leicht ist es nicht für sie, weil sie einfach für das ganze noch nicht reif ist, sich aber auch nicht mitteilen kann und viel mit sich selbst ausmacht und dann explodiert sie wieder. Ich glaub schon das ein so schwieriger Start ins Leben einen ein ganzes Leben lang begleiten kann und Jasmin weiß auch das sie anders ist, aber wir lernen immer noch jeden Tag aufs neue damit um zu gehen. Ich wollte ihnen das einfach mal schreiben und vielleicht lest es ja die eine oder andere Mutter. Und liebe Mütter denkt daran, ihr seit nicht alleine und um Hilfe zu bitten ist keine Schwäche sondern eine Stärke. LG Gabi

von Gabi1981 am 23.02.2016, 21:18


Antwort auf: Wenn Schreibabys groß werden!

Liebe Gabi 1981! vielen, lieben Dank für Ihren sehr anrührenden Bericht, die offenen Worte und das Dankeschön! Ich bin über Beiträge wie den Ihrigen immer sehr froh, denn ich kann hier sicherlich viel schreiben - die Worte einer betroffenen Mutter mit so viel Jahren an Erfahrung haben einen ganz besonderen Wert. Ich denke, viele Leser fühlen sich ins Herz geschaut. Ihr Bericht macht einerseits klar, dass man bei exzessiven Schreien eben nicht davon reden kann, dass "Babys halt weinen", sondern dass es sich dabei um eine komplexe Störung handelt, die nicht nur die Eltern, sondern auch viele Fachleute überfordert. Ferner geht es eben nicht um Schuld, weder bei den Eltern, noch beim Kind. Sie zeigen zudem, wie wichtig eine Behandlung dieser Schwierigkeiten ist. Wieviel Leid hätten sie sich sparen können, wenn man Sie eher ernst genommen hätte. Sie haben sich nicht entmutigen lassen und haben dann Ihren - sicher nicht einfachen Weg - gemeinsam gefunden ohne sich selbst zu verlieren. Dafür verdienen Sie Respekt und ich denke, dass Ihre Tochter eines Tages ebenso denken wird - spätestens wenn sie selbst ein Baby auf dem Arm hält. Was ich aber als Fazit besonders wichtig für Betroffene finde, ist Ihre Aussage, dass der Schritt, sich Hilfe zu suchen, eine Stärke darstellt. Es nützt niemanden etwas, alles allein schaffen zu wollen und dabei eine perfekte Fassade zu wahren. Wenn wir Mütter (und Väter) einfach ehrlicher zueinander wären, wäre dafür ein wichtiger Schritt schon getan. In diesem Sinne, bewahren Sie sich Ihre offene und reflektierte Art! Liebe braucht keine perfekten Kinder und keine perfekten Eltern - und genau das leben Sie so schön! Herzlichst, Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 27.02.2016