Kleinkind schreit und ist unzufrieden

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Kleinkind schreit und ist unzufrieden

Hallo Frau Bentz, ich habe zwei Töchter, 3 Jahre und 16 Monate. Beide waren Schreikinder. Die Große ist zwar sensibel, aber hat sich sehr gut entwickelt. Meine jüngere Tochter bringt mich immer noch an meine Grenzen. Ich hatte eine sehr stressige Schwangerschaft. Geburt und die ersten zwei Lebenswochen waren problemlos. Dann fing es an. Schreien ohne Ende. Bis zu 12 h in 24 h. Nach etlichen Arztbesuchen, Osteopathen, Heilpraktikern hat uns nur die Zeit geholfen. Nach 9 Monaten wurde es tendenziell besser, aber bis heute ist es immer wieder “schlimm“ mit ihr. Das viele Geschreie hat irgendwie alles kaputt gemacht. Ich habe das Gefühl keine Bindung zu ihr zu haben. Oft fehlt auch die Liebe. Zur Zeit ist es wieder sehr schlimm. Dazu kommt noch, dass sie mich gefühlt ablehnt. D.h. sobald ich in ihrer Nähe bin, weint sie sofort und will hoch. Aber auch auf dem Arm wird es nicht besser. Sie kann sich erst beruhigen, wenn ich wieder weg bin. Sie lässt sich von mir nicht zum Schlafen legen, nachts nicht beruhigen, kaum wickeln usw. Bei meinen Mann klappt das alles. Ist er mit den Kindern alleine, spielt sie auch. Bin ich mit ihr alleine, geht das überhaupt nicht. Dann will sie immer nur hoch und ist dann aber doch nicht zufrieden. Ich habe vor ein paar Tagen abgestillt. Das Stillen war das Einzige, was immer gut funktioniert hat. Ich bin ratlos und auch sehr traurig. Oft kommt meine große Tochter zu kurz, weil die Kleine nur weint. Mein Mann hilft mir, ist aber oft nicht da durch die Arbeit. Können Sie mir irgendwie helfen? Danke und Liebe Grüße

von sukaseli am 03.06.2016, 10:42


Antwort auf: Kleinkind schreit und ist unzufrieden

Liebe Sukalesi! Vielen Dank für Ihren offenen Bericht! Es tut mir leid zu hören, dass Sie mit beiden Mädels so einen schweren Start haben/hatten. Es ist daher verständlich und im Übrigens auch nicht ungewöhnlich, dass zwiespältige Gefühle aufkommen, doch nur wenige Betroffene trauen sich so offen darüber zu sprechen. Was die Liebe und Bindung zu einem Kind betrifft, so ist es ein weitverbreiteter Irrtum, dass diese sofort da ist. Bei manchen ist es sicher so, andere müssen sich erst einmal aneinander gewöhnen und sind zunächst mal einfach nur erschöpft. Gefühle dieser Art sind also keineswegs ein Zeichen, dass Sie eine schlechte Mutter sind. Dennoch können sie ein Ausdruck einer ernsthaften Erkrankung sein, weshalb ich sie nicht auf die leichte Schulter nehmen würde. Hinter vielen „Bindungsproblemen“ steckt nichts anderes als eine postpartale Depression, die auch noch weit nach der Geburt zum Tragen kommen kann. Unbehandelt kann diese für langes Leiden sorgen. Die Erkrankten müssen dabei nicht dem typischen Bild einer Depressiven entsprechen. Viele auch gar nicht darauf kommen, dass sie erkrankt sind, weil man sich eben noch so durchschlängeln kann. Gucken Sie doch mal auf http://www.schatten-und-licht.de/index.php/de/. Dort gibt es einen kurzen Selbsttest, der erste Anhaltspunkte liefert sowie weitere Infos. Depressionen unter und nach der Schwangerschaft treten gehäuft im Zusammenhang mit exzessiven Schreien auf. Was nun zuerst da war – die Erkrankung oder das Schreien – wird man im seltensten Fall herausfinden. Es ist jedoch auch unerheblich, denn es geht niemals um Schuld, sondern um Behandlung einer Erkrankung. Schwangerschaftsdepressionen sind auch keine Persönlichkeitsschwäche, sondern eine vorwiegend hormonell bedingte Erkrankung und müssen entsprechend behandelt werden. Hilfreich ist hier meist eine Kombi aus Medikamenten und Psychotherapie. Ersteres um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken und schnell Linderung zu bringen, letzteres um langfristig zu stabilisieren. Sollte sich mein Verdacht erhärten, wäre der nächste Gang zum Hausarzt oder Psychiater. Gleichsam sollten Sie sich um einen Platz für eine Psychotherapie kümmern. Entsprechende Listen hat Ihre Krankenkasse. Doch so oder so würde ich Ihnen raten, sich weitgehend Entlastung und Hilfe zu organisieren. Dies muss nicht in der Familie sein, es gibt auch gute Programme, die entsprechendes leisten, insbesondere die Frühen Hilfen. Sofern Ihre Kleine noch nicht in einer Krippe / Kita oder bei einer Tagesmutter ist würde ich vorschlagen, dies als nächsten Schritt anzubahnen. Es geht dabei nicht darum, dass Sie zu schwach oder inkompetent sind, um sich um Ihre Kinder zu kümmern. Sie haben in den letzten Jahren (!) ein absolutes Marathonprogramm mit extremer Belastung für Psyche und Physis hinter sich gebracht. Beides – Körper und Seele- brauchen daher eine Erholungsphase. Unter Dauerstrom, Angst und Erschöpfung ist alles auf „Alarm“ geschaltet. Da ist naturgemäß wenig Platz für die Liebe. Doch dies muss nicht so bleiben! So schwerwiegend die Schwierigkeiten jetzt auch sein mögen, so gut lassen sich sowohl Ihre als auch die Schwierigkeiten Ihrer Tochter behandeln! Was diese betrifft: alle bisherigen Maßnahmen umfassten die körperliche Ebene. Exzessives Schreien ist aber in den seltensten Fällen ein organisch bedingtes Problem, sondern Folge von gestörten Selbstregulationsprozessen und Teufelskreisen in der Interaktion mit dem unruhigen Kind. D.h. hier muss man anders ansetzen. Dies können Schreiambulanzen, Früherkennungszentren oder Sozialpädiatrische Zentren leisten. Bevor Sie weiter von Termin zu Termin hetzten würde ich dort Hilfe suchen, wo man auf diese Probleme spezialisiert ist und eine umfassende Hilfe gewährleisten kann. Im Übrigen bestünde noch die Möglichkeit eines stationären Aufenthalts gemeinsam mit Ihrer Jüngsten und ggf. auch der Großen in einer Mutter und Kind Einrichtung einer Klinik. Das mag erstmal abschreckend wirken, doch ist es für viele Familien eine wirklich exzellente Chance, ohne Trennung von Mutter und Kind(ern) eine intensive Behandlung zu bekommen, die die eigene Psyche stabilisiert und auch die Bindung zum Kind fördert. Das waren jetzt ziemlich viele Infos zum Nachdenken. Abschließend noch eines: Ihre Kleine lehnt sie ganz sicher nicht ab! Dass sie Ihren Vater problemloser begegnet, ist vermutlich einfach darauf zurückzuführen, dass die Interkation nicht ganz so durch das Schreien belastet ist, wie die zwischen Ihnen. Sicher ist Ihr Mann einfach etwas erholten und kann entspannter sein, da er eben nicht den ganzen Tag das Theater hat. Wäre die Aufgabenverteilung umgekehrt, wäre es vermutlich genau umgekehrt. Mit mangelnder Liebe zu Ihnen hat das aber nichts zu tun! Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen alles Gute! Wenn Sie die Stärke hatten, schon einmal eine solche Krise mit Ihrer Ältesten zu überstehen, werden Sie sicher auch die Kraft haben, sich aus dieser Krise herauszumanövrieren. Doch bitte diesmal mit Unterstützung und nicht allein. Auch Mutterschiffe brauchen mal einen Lotsen in schwierigen Gewässern. Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 06.06.2016