Ist mein Sohn ein Schreibaby?

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Ist mein Sohn ein Schreibaby?

Hallo Frau Bentz, mein Sohn ist nun fast 9 Wochen alt. Mein einziges "Problem" ist, dass ich ihn - außer nachts - niemals auch nur 2 Minuten alleine lassen kann. Wenn er z.B. tagsüber auf unserer Couch in seinem Nestchen liegt und ich muss kurz auf Toilette, dann fängt er an zu schreien, wenn ich das Zimmer verlasse. Egal was ich tue, ich muss ihn mitnehmen. Meistens reicht es, wenn ich ihn auf dem Arm trage aber bei nahezu 6kg halte ich das nicht lange aus. Ich trage ihn also auch sehr viel in der Bondolino-Bauchtrage, in der er eigentlich immer ruhig ist und relativ schnell einschläft. Aber das ist doch auch keine Dauerlösung bzw mache ich mir auch Sorgen, ob das so gut für seinen Rücken ist!? Es ist mein erstes Kind und ich weiss nicht, ob meine Erwartungen zu hoch sind. Ich will ihn ja auch nicht per se alleine lassen, aber muss nicht auch ein kleines Baby mal wenigstens ein paar Minuten in einem ihm bekannten Umfeld ruhig daliegen können? Kann man so einen kleinen Säugling eigentlich langsam "erziehen"? Bekannte von uns lassen Ihren Sohn immer liegend schreien und nehmen ihn nicht sofort auf den Arm. Sie gehen jedoch sofort nach dem Schreien zu ihm und halten im wortlos die Hand auf den Bauch, damit er merkt, dass sie da sind. Aber sie verwöhnen ihn nicht, sondern haben sich für diese Erziehungsmaßnahme entschieden, damit er nicht für sein Schreien belohnt wird. Was halten Sie davon? Es bricht mir das Herz meinen Sohn länger als 2-3 Minuten weinen zu lassen aber ich kann ihn auch nicht non-stop durch die Wohnung tragen. Oft beklagt er sich schon, wenn ich ihn auf den Arm nehme und es wage sitzen zu bleiben. Nur wenn ich in Bewegung bin, bekomme ich ihn ruhig. Danke vorab für Ihre Mühe. Grüße, Franziska

Mitglied inaktiv - 07.10.2015, 13:05


Antwort auf: Ist mein Sohn ein Schreibaby?

Liebe Franziska, aus Ihrem Post geht viel Sorge und Unsicherheit hervor. Doch dafür gibt es aus meiner Sicht keinen Anlass! Sie machen Ihre Sache toll und Ihr Sohn ist sicher kein Schrei- sondern einfach noch ein sehr junges Baby! Er hat offensichtlich keine Schwierigkeiten mit der Selbsregulation, sonst würde es gerade abends und nachts nicht so gut klappen. Dass Ihr Kind am Tag sich nicht gut ablegen lässt und noch viel körperliche Nähe braucht ist absolut altersangemessen und normal. Zwar gibt es Kinder (ich nenne sie Buddha-Kinder), die sich problemlos ablegen lassen und später stundenlang irgendwo zufrieden sitzen, doch in den ersten Monaten ist das eine Typ- als eine Erziehungsfrage. Natürlich kann man auch so junge Kinder dazu bringen, dass sie resignieren und einfach still sind, indem man sie ignoriert, doch dies ist keine Erziehung, sondern Dressur. Die dadurch eintretende Ruhe ist dann ein Effekt erlernter Hilflosigkeit und hat nachweislich negative Folgen auf die psychische und physische Gesundheit. Für einen so jungen Säugling ist es wichtig, dass er seine Bedürfnisse anmelden darf und dass er diese befriedigt bekommt. Hiermit legen Eltern den Grundstein für eine sichere Bindung, Urvertrauen und letztendlich auch Selbstwert. Natürlich denkt ihr Sohn noch nicht so, aber das Grundgefühl, was ihm vermittelt werden sollte ist "ich bin es wert, dass man sich um mich kümmert." Die Sorge, man könne so junge Säuglinge verwöhnen ist wirklich unbegründet. Im Gegenteil, man kann sogar zeigen, dass Kinder, auf deren Bedürfnisse promt und zuverlässig reagiert wird, ruhiger sind. Umgekehrt können Kinder, die immer erst schreien gelassen werden (ich spreche nicht von Nörgeln, Meckern, Grummeln oder Quengeln) lernen, dass sie erst richtig aufdrehen müssen, bevor man auf sie reagiert. Die Stratgie der Löschung durch Entzug von Aufmerksamkeit / Weglassen einer Reaktion (hier: Schreienlassen) ist falsch angewendet also durchaus risikoreich. Bei Ihren Bekannten etwa ist fraglich, ob nicht gerade das Schreien durch das späte Reagieren forciert wird. Er erfolgt ja eine Belohnung (Aufmerksamkeit, Nähe) nach einer Weilet, so dass u.U. das Kind also einfach nur lernt, dass es länger schreien muss, damit Mama und Papa kommen. Es ist also komplizierter als man denkt und aus meiner Sicht sicher keine empfehlenswerte Methode für Babys. Nicht immer kann und wird man prompt reagieren können und natürlich passiert auch kein schlimmer seelischer Schaden, wenn ich als Mutter mal kurz auf die Toilette muss und mein Kind dann gerade anfängt zu schreien, doch grundsätzlich halte ich diesen Anspruch für sehr wichtig.Sie sehen das ja selbst an Ihrem Sohn, der ja eingentlch sehr, sehr wenig zu schreien scheint. Klar schafft man als Eltern Gewohnheiten und sollte grundsätzlich prüfen, ob man das, was man macht auch dauerhaft durchziehen kann und möchte (z.B. nachts stundenlang spielen oder Autofahren), doch das Bedürfnis nach Nähe ist keine schlechte Angewohnheit, sondern schlicht ein evolutionär bedingt und überlebenswichtig. Sie als Eltern können sich natürlich überlegen, WIE Sie diesem Bedürfniss gerecht werden und natürlich auch gucken, wie Sie Ihren Sohn liebevoll an Dinge gewöhnen. Wenn das Tragen zuviel wird, können Sie natürlich auch den Kinderwagen nutzen oder in auf den Boden legen. Natürlich können Sie dann auch ein wenig Prostest tolerieren. Es geht ja nicht darum, dass man alle Mögliche machen muss, damit Kinder nicht schreien, denn sie können ja die Folgen ihres Handelns noch nicht absehen und wissen ja nicht, dass es nicht geht, dass nachts gespielt oder Autogefahren wird. Sie haben einfach ein Bedürfnis, sie als Eltern haben es in der Hand wie es befriedigt wird. Sie entscheiden etwa, ob ihr Kind Süßigkeiten bekommt, wenn es Hunger hat oder ob ihr Kind dann Gemüse mit Nudel auf dem Teller hat. Sehen Sie den Unterschied? Es geht nicht darum, Kindern die Bedürfnisse abzutrainieren, es geht darum zu gucken, wie sie befriedigt werden. Das kann natürlich auf mehr oder weniger sinnvolle Weise passieren ( schlechte oder gute Angewohnheiten). Gewöhnen an neue Dinge klappt am besten mit Regelmäßigkeit, Geduld und Ausdauer. Jede Sache, die Sie neu einführen, müssen Sie mindesten 14 Tage durchhalten, um zu sehen ob es klappt. Wenn Ihr Sohn also den Boden nicht so mag, dann legen Sie ihn immer mal wieder ab, nehmen ihn nicht gleich hoch, bleiben jedoch bei ihm, damit er ernt "Mama ist da. Es passiert nichts Schlimmes". Nach und nach können Sie sich - wenn er gelernt hat, sich auch mal auf den Boden zu entspannen - auch mal kurz entfernen (bleiben aber im Raum) und sprechen mit ihm ("Mama holt mal eben was zu Trinken" etc.). Gleiches gilt für den Kinderwagen etc. Legen Sie ihn im entspannten Zustand rein, halten Sie den Protest aus und nehmen ihn nur hoch, wenn er sich einschreit und versuchen Sie es beim nächsten Tag wieder und wieder. Lassen sie ihn aber nicht allein, sondern reden Sie mit ihm, legen Sie die Hand auf ihn etc. Nochmals: das Prinzip einer modernen, bindungsorientierten Erziehung steht nicht grundsätzlich im Widerspruch zu lerntheoretischen Ansätzen, wo es etwa um Dinge wie Anreize bieten oder weglassen geht. Ziel ist jedoch nicht, Bedürfnisse durch Dinge wie Liebensentzung, Bestrafen, Alleinlassen etc. abzugewöhnen und Kinder dadruch pflegeleichter zu machen, sondern diese angemessen hinsichtlich - Alter (ein Dreijähriger braucht nachts nicht vier mal die Flasche) - Art und Weise (Autofahren zu Einschlafen ist keine Lösung) - Zeitpunkt (Mitten in der Nacht wird nicht gespielt) - Situation (Ohne was vom Mittagessen gegessen zu haben, gibt es keinen Nachtisch) zu befriedigen. Also, lassen Sie sich nicht versunsichern und bleiben Sie bei Ihrem Gefühl! Ihr Kind ist doch der beste Beweis, dass Sie es gut machen! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 08.10.2015