ein schlimmes Jahr ist vergangen..

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: ein schlimmes Jahr ist vergangen..

Hallo Frau Bentz, ich freue mich, daß es jetzt für diese Thema eine Anlaufstelle gibt! Meine Tochter ist jetzt 15 Monate (korrigiert 13 Monate). Trotz Klinikaufenthalt wurde sie ein Stillkind. Sie war und ist ein absolutes 24 Std Baby. In jeder Hinsicht. Das Wort Schreibaby verwende ich ungern... Über 12 Monate lang mußte die ganze Familie (ich habe noch eine Tochter, 6 Jahre) mit ihrem panischen Gebrüll zurecht kommen. Ich habe sie stundenlang getragen, bin mit ihr spazieren. Wir hatten nie Besuch und leider auch keine direkte Hilfe und Entlastung in der Nähe. Ruhiger konnte mein Alltag nicht mehr organisiert werden und dennoch zeigte ihre Körpersprache mir deutlich, daß ihr alles zu viel ist. Sie brauchte sehr viele Schlafpausen. Mit ca 13 Monaten hat plötzlich irgendein Hebel umgeschalten und sie hat sich mehr und mehr wie ein "normales" Kleinkind verhalten. Sie kann mittlerweile auch sehr viel lachen, krabbelt und läuft sogar! Sie benötigt aber nach wie vor meinen vollen Einsatz. Solange sie mit jemand anderem im Raum ist, kann sie sich auch auf ihr Spielen konzentrieren und scheint sehr zufrieden. Sobald sie allerdings mit mir im Raum ist oder mich sieht fängt sie an zu jammern und zu quängeln. Ich kann manchmal kaum meinen Haushalt machen, weil sie mir ständig "am Rockzipfel" hängt. Natürlich nehme ich sie dann zu mir, so wie ich es auch in den vergangenen Monaten getan habe. Aber wie gesagt, aus dem brüllen entwickelt sich jetzt ein quängeln. Wie gehe ich damit um? Ich komme mir vor wie im Hamsterrad und habe das Gefühl ich mache alles immer schlimmer... Auch das Essen ist ein Theater. Anfangs hatte sie wohl aufgrund der Magensonde sehr lange Schluckprobleme. Seit ein paar Wochen isst sie auch stückigeres Essen. Sie ist seit 6 Wochen stundenweise in einer Kinderkrippe, wo es ihr wider Erwarten sehr gut gefällt! Sie weint und jammert dort kaum. Dort sitzt sie auch brav am Tisch und isst. Bei mir zu Hause geht es scheinbar nie schnell genug und sie jammert nach allem, was auf dem Tisch steht. Sie isst zum größten Teil mit der Hand. Nach dem Essen sieht es aus wie im Schlachtfeld. Obwohl ich ihr immer den Löffel anbiete. Ich habe mit meiner großen Tochter sehr viel Erfolg mit häufigem positiven Loben anstatt Schimpfen erzielt. Bei der Kleinen scheint das irgendwie nicht zu funktionieren... Haben Sie einen Tipp für mich wie ich aus diesem Strudel herauskommen kann? Oder muß ich mich damit abfinden, daß Kinder bei Mama eben mehr jammern? Ich freue mich auf Ihre Meinung und Antwort! Viele Grüße, k.

von loostoo am 07.07.2015, 13:42


Antwort auf: ein schlimmes Jahr ist vergangen..

Liebe k.! Zunächst möchte ich Ihnen meinen großen Respekt vor Ihrer Leistung zollen! Sie hatten wirklich einen nervenaufreibenden Start und haben trotzdem so viel gemeistert und Ihre Kleine scheint sich ja prächtig zu entwickeln! Hoffentlich lesen viele Betroffene Ihren Beitrag, denn trotz der angesprochenen Schwierigkeiten sieht man doch, was für klasse Kinder die ehemaligen kleinen "Schreibabys" (ich mag den Begriff auch nicht sonderlich, aber "regulationsgestört" noch weniger) werden. Was Sie beschreiben ist tatsächlich nicht so ganz untypisch. Nach meinen Erfahrungen lässt sich das Beschriebene oft so betrachten. Zwischen einem bedürftigen Neugeborenen und einen 15 Monate alten Kind sind die Unterschiede - wie Sie selbst sagen - enorm. Viele Eltern, besonders denen von ehemaligen Schreibabys, fällt die Verhaltensumstellung von Baby zu Kleinkind schwer. Während es in den ersten Monaten noch um permanente und vor allem auch prompte Fürsorge ging, ist jetzt (1) mehr und mehr die Erziehung gefragt, also Grenzen setzen, konsequent sein, belohnen etc. zum anderen aber auch (2) das Loslassen, Entdecken lassen, Automie fördern etc. Dies kenen Sie sicher alles von Ihrer großen Tochter und bestimmt auch die Konflikte, die damit verbunden sind. Bei ehemaligen Schreikindern fehlt den Eltern meiner Meinung nach ein wenig das Vertrauen in die zunehmenden Fähigkeiten Ihres Kindes. Sie waren in den letzten Monaten so sehr mit intensivster Fürsorge beschäftigt, dass die Umstellung schwerfällt. Außerdem kommt bei vielen bei jeder Unmutsäußerung Panik auf (fängt das Schreien wieder an?), so dass viel zu schnell alles getan wird, um jegliche Unzufriedenheit abzustellen - so wie es eben die Zeit zuvor auch gemacht wurde. Kurz: man ist noch zu sehr im Versorgungsmodus: Das Schreien eines bedürftigen Säuglings hat aber nichts mit dem Nörgeln eines Kleinkindes zu tun. Kleinkinder brauchen Frustrationsmomente, um an ihnen zu wachsen. Für die Kleinen ist es dabei - trotz der mit zunehmenden Alter manchmal heftigen Wutanfälle - gar nicht so schlimm. Oft können aber wir Eltern nicht damit umgehen, unser Kind unzufrieden zu sehen und reagieren fast reflexartig wie beim Baby. Und vielleicht hat Ihre Tochter daher gelernt, dass mit Hartnäckigkeit, sprich Nörgeln und Quengeln, aus einen "Nein" auch doch mal ein "Jein" wird? Auch sie muss ja aus ihrem alten "Schreimodus" raus, der ja bisher funktioniert hat. Dass Kinder die Unterschiede im Verhalten sehr genau spüren, sehen Sie daran, wie sich Ihre Kleine in der Krippe verhält. Wahrscheinlich wird ihr dort mehr zugetraut, die Aufmerksamkeit ist geteilt und es gibt klare Strukturen. Sie ist dort zufrieden, was ich als sicheres Zeichen dafür sehe, dass sie sich gut selbst regulieren kann und nicht überfordert ist, wenn sie keine 1:1 Zuwendung und permantent Unterstützung bekommt. Als Mutter ist es natürlich nicht immer einfach, zumal es ja auch ein Zeichen einer guten Bindung ist, wenn es bei Ihnen mehr Widerstände und Reibereien gibt. Fragen Sie mal andere Mütter. Häufig ist es so, dass die Kleinen woanders "pflegeleichter" sind. Ich selbst war z.B. sehr erstaunt, dass sich mein Dreijähriger in der Kita komplett alleine an- und ausziehen kann - zu Hause undenkbar... Hinzu kommt bei den Eltern in meiner Praxis oft, dass mehr oder weniger bewusst das Bestreben besteht, etwas wieder gut machen zu müssen. Viele fühlen sich schuldig und möchten den schlechten Start durch Überfürsorglichkeit und permante Bespaßung ausgleichen. Vielleicht kennen Sie solche Gedanken? Ohne Sie zu kennen, würde ich Ihnen folgende Übung vorschlagen: Sagen Sie Ihrer Kleinen beim gemeinsamen Spiel und unbedingt aus einer guten Stimmung heraus etwas wie "So, ich trinke jetzt mal einen Kaffee/ geh mal kurz duschenetc. Wenn ich fertig bin, spiele ich weiter mit". Dann nehmen Sie sich Ihre kurze Auszeit auch dann, wenn es Widerstand gibt und ohne viel Gerede. Dies immer wieder mal als spielerische Übung für die Kleine, dass sie lernt, Sie nicht mehr als erweiterten Teil ihrer selbst zu sehen und für Sie, um das "Loslassen" mehr zu üben. Sagen Sie sich dabei immer, dass anders als bei brüllenden Säugling keine Not besteht und beobachten Sie einmal, welche Gedanken und Gefühle bei Ihnen hochkommen. Sind es Dinge wie "ich bin keine gute Mutter, wenn mein Kind unzufrieden ist", "ich möchte stets für mein Kind da sein" o.Ä.? Oft sind es diese inneren Dogmen, die es uns schwer machen, entspannt mit Nörgeln umzugehen. Was das Essen angeht, so sind diese Startschwierigkeiten typisch für Frühchen und sondenernährte Kinder, aber das wissen Sie sicher. Doch dass Ihre Tochter in der Krippe problemlos isst, zeigt auch hier, dass man es ihr zutrauen kann. Beim Thema Essen plädiere ich grundsätzlich für ein hohes Maß an Gelassenheit, damit keine negative Aufmerksamkeit auf das Thema gerichtet wird. Wenn Sie es aushalten können, würde ich hier also zunächst wenig viel Aufhebens drum machen, auch "Matschen" mit Essen ist in diesem Alter (wenngleich wirklich nervig) normal und für mich eher ein positives Zeichen, dass Ihre Tochter einen sinnlichen Zugang zum Essen herstellt, was für Frühchen nicht selbstverständlich ist. Wenn Sie allerdings nur matscht und nicht isst, würde ich sie fragen, ob sie fertig ist und dann nach konkreter Ankündigung das Essen ohne weiteren Kommentare (es soll ja keine Strafe, sondern nur eine Konsequenz sein) wegnehmen. Hilfreich ist sicher auch mal nachzufragen, wie es die Erzieher machen, welche Rituale es gibt, welche Regeln usw. und diese zu übernehmen. Dass Lob und positive Verstärkung besser sind als ewiges Drohen oder Bestrafen ist richtig. Gleichsam ist es der schwierigere und langatmigere Weg. Dass Lob bei einem Kind nicht funktionert, kann ich mir kaum vorstellen, auch wenn es so aussehen mag. Doch bitte vergessen Sie nicht: das "Dagegen" ist jetzt einfach ein Entwicklungsschritt und nicht ein Zeichen, dass die Erziehung nicht klappt - eher im Gegenteil. Letztendlich sind es auch Temperamentsunterschiede, manches Kind ist eben willenstärker als andere. Allerdings ist es schon auch wichtig, dass Eltern authentisch mal ihren Unmut und Ärger und vor allem ihre Grenzen zeigen und nicht alles weglächeln. Haben Sie Mut, das Hamsterrad zu verlassen, es wir keinen Stromausfall geben (-; In diesem Sinne noch einen sonnigen Tag und alles Gute! Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 07.07.2015


Antwort auf: ein schlimmes Jahr ist vergangen..

Vielen lieben Dank für Ihre freundliche Antwort Frau Bentz! Ich bin gespannt, wie sich die nächsten Wochen entwickeln. Ich werde ihren Übungsvorschlag in jedem Fall umsetzen! Mit ihrem Kommentar "viele fühlen sich schuldig" treffen Sie wirklich ins Schwarze. Und was bei mir hinzukommt ist die Tatsache, daß ich nach diesen langen, schlimmen Monaten einfach merke, daß mir jegliches Weinen sehr an die Substanz geht. So erwische ich mich einfach oft dabei, daß ich die Kleine gleich zu mir nehme sobald sie anfängt zu jammern; weil ich das Geschrei einfach nicht mehr ertragen kann... und jedem und allem gleichzeitig gerecht werden zu wollen kommt noch hinzu. Auf der Strecke bleibt dann zu 100% man selbst! Vielen Dank und viele Grüße, k.

von loostoo am 08.07.2015, 12:58


Antwort auf: ein schlimmes Jahr ist vergangen..

Auch wenn ich nicht die Threaderoeffnerin bin - Danke fuer Ihre Antwort, der Beitrag haette von mir sein koennen. Gleiches Alter, aehnliche Probleme. Allerdings ist bei uns die aeltere Schwester fast 4, somit noch etwas juenger. Danke, dass sie erwaehnen, das Wutanfaelle etc. in Gegenwart der Eltern ein Zeichen guter Bindung sind und nicht das Gegenteil. Ich zweifle momentan auch ziemlich an mir und meiner Erziehung. Danke fuer die Ermutigung, das Gequengele auch mal einfach geschehen zu lassen, das ist naemlich wirklich nicht leicht. @loostoo, ich wuensche Dir viel Geduld und gute Nerven. Ich bin sicher, in 1-2 Jahren kann man ueber so manches lachen, auch wenn es im Moment nicht so aussieht. Ich fuehle und leide mit Dir! LG, Katrin

von NinnyM am 22.07.2015, 12:18