Ehemaliges Schreibaby, jetzt schreiender Dreijähriger

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Ehemaliges Schreibaby, jetzt schreiender Dreijähriger

Liebe Fr. Dr. Bentz, ich schreibe Ihnen, weil ich so langsam das Ende meiner Kräfte erreiche. Mein erster Sohn war ein Schreibaby, das über fünf Monate ununterbrochen gebrüllt hat, allein, wie auch in unseren Armen. Wir haben alles probiert, was möglich war... Nur der Nachtschlaf lief vorbildlich. Nach dieser Zeit ging es so weiter, dass er quasi ständig irgendwie in Bewegung war,hampelig, sich null für Spielzeug unteressierte, stattdessen nur getragen werden wollte. Sobald ich ihn ablegte, war Zirkus. Den Kinderwagen und das Autofahren hat er auch gehasst. Es blieb anstrengend. Krabbeln und sitzen kam verspätet aufgrund einer Hypotonie, also nicht dramatisch und er hats auch mit einem Jahr etwa schnell aufgeholt. Unsere Hoffnung, dass er mit steigender Selbstständig entspannter wird, wurde schnell zerschlagen. Es wurde anders aber nicht weniger anstrengend. Das Geschrei vor Wut blieb, sobald er nicht mittendrin war und von uns beschäftigt würde. Millionen Spielsachen interessierten weiter nicht, wenn man nicht ununterbrochen mitspielte. Das ist heute immernoch so. Aber er ist nun 3!!! Er spielt nicht alleine. Wenn ich unerwünschtes Verhalten ignoriere, findet er Wege, Aufmerksamkeit zu erhalten durch Dinge, die gar nicht gehen, wie Gewalt gegen seinen kl. Bruder( Eifersucht ist da eh n Thema, der kleine ist 7Monate und total tiefenentspannt und lieb) oder durch Hauen, Spucken, laut quietschend umherennen. Er macht alles, was nervt oder schmerzt, damit ich noch nicht einmal für 15 min etwas anderes tun kan ausser mich mit ihm zu befassen. Und das gestaltet sich chaotisch. Es wird alles für maximal fünf (ich hab auf die Uhr geguckt) Minuten gespielt, dann verliert er die Lzst und holt was neues. Manchmal klappt es immerhin vorher, das alte Spiel/-zeug wegzuräumen mit meiner Hilfe.aber die Spuelsachen sind beim höchstens Fünf Minuten Takt schnell durch. Im Haushalt helfen ist auch immer chaotisch weil er beimmitkochen sich nicht mit der kinderküche zufrieden gibt, sondern meinen echten muxer, Messer usw will. Auf nein folgt Geschrei, Sachen fliegen, er muss in sein Zimmer, das Baby brüllt vor Schreck, ich renne und räume. Ab elf Uhr muss ich hier raus. Haushalt und Chaos bleiben liegen und wir gehen runter in den Garten oder spazieren oder zum Spielplatz. Auch da muss ich mitmachen. Bei allem. Sonst ist Geheule. Ich werde nur noch doof angesehen und will auch eigentlich nirgends mehr hin weil ich mich nur noch nein sagen und das Kind schreien höre. Andere setzen sich beleidigt auf den Boden und schmollen, meiner schreit. Laut. Einkaufen... Was soll ich sagen.... Er schreit. Gartenarbeit geht zu zeeit oder dritt, denn einer muss meinem Sohn immer das Werkzeug wegnehmen und aufpassen, dass er nicht alles elektronische in die Steckdosen steckt. Kinderwerkbank hat er, Gartenwerkzeug, Rasenmäher hat er. Alles hat er zum mitmachen, aber nur das Echte interessiert ihn. Kinderküche hatte ich ja erwähnt.. Kneten? Muss ich, er sagt was geknetet wird. Malen? Muss ich. Puzzeln klappt, solange es nicht zu viele Teile hat. Memory zwei Minuten. Fädeln gar nicht. Kugelbahn nur einmal. Feuerwehmann zehn Minuten. Lesen? Nur Bilder gucken. Staubsaugen nur mit dem richtigen und nur, wenn auch der Stecker drin ist, das aber dann sogar gern ne viertel Stunde, aber nicht auf dem Boden, sondern er macht daraus eine Säge oder einen Bohrer und fuhrwerkt an Wänden und Möbeln rum. Sobald die ersten Anzeichen kommen, nehme ich den Sauger nach der zweiten Ermahnung weg. Unter Geschrei versteht sich. Klar ist der Protest normal. Aber weil er aus allem so ein Theater macht, muss uch viel nein sagen und er viel protestieten und es ändert sich einfach nix. Der Punkt ist, obwohl ich nicht nachgebe, nein bleibt nein, lernt er nicht. Obwohl ich bitte erkläre und schimpfe, wenn er seinem Bruder Im Gesicht befummelt, Spielzeug vor den Kopf wirft und ins Ohr kreischt...Es ändert sich nichts. Draussen sein ändert nichts. Mitspielen ändert nichts. Ignorieren geht nicht. Zu Oma bringen.. Ich glaube, da braucht er bald nicht mehr auftauchen. Ich höre mich nur noch schreien und nein sagen und weiß nicht mehr weiter. Noch so n Beispiel in Omas Garten: Sohn sitzt auf der Schaukel nachdem wir Sandkuchen gebacken haben. Er kann Schaukeln, will aber angeschaukelt wrrden und ruft Mama komm. Ich habe geraaaade von Oma einen Kaffee bekommen und wir setzten uns kurz hin. Ich rufe zurück, dass ich kurz austrinke, mit Oma spreche und dann komme. Als wenn er es nicht gehört hat, ruft er zwanzig dreißig mal Mama komm. Dann dasselbe mit Oma. Keiner kommt, aber der Kaffee schmeckt so nicht... Jetzt der Knaller: kommt Besuch, gehen wir jemanden besuchen oder ist er im Kindergarten, kenne ich diesen Jungen nicht. Er sagt bitte, danke, spielt mal allein, mal mit den Kindern, weint nicht, wenn er hinfällt, schreit nicht vor Wut, wenn was nicht klappt oder der andere Erwachsene nein sagt. Das heißt, es glaubt mir also auch kein Mensch, geschweige denn die Erzieherin dass er so ist. Und ich bin immer sicherer, dass ich schuld sein muss, oder unfähig...Auf jeden Fall muss es ja an mir liegen. Papa kommt abends erst und da, wie auch bei Oma benimmt er sich wie bei mir. Was soll ich bloss tun? Ich wollte doch nur einen süßen blonen Jungen, der mit mir kocht und mit Papa Fussball spielt. Stattdessen hatte ich drei Jahre Chaos und Geschrei und es ist kein Ende in Sicht.

von Carmelitaa am 05.07.2016, 22:48


Antwort auf: Ehemaliges Schreibaby, jetzt schreiender Dreijähriger

Liebe Carmelitaa, auch für mich ist es manchmal beruhigend zu hören, dass andere ähnliche Probleme haben – privat bin ich eben auch nicht die Psychologin meiner Kinder, sondern eine Mutter und fühle mich dabei auch manchmal ratlos, überfordert oder bin einfach nur tüchtig genervt. Ich muss auch immer wieder feststellen, dass ich einen Mr.Jekill & Hide habe und bin häufig erstaunt über das Bild, was mein Ältester anderswo liefert. Wenn er dann beim Zahnarzt die Hand gibt und sich mit Namen vorstellt, und auf die Frage nach seinem Lieblingsessen „Gemüse“ antwortet, frage ich mich, ob ich nicht versehentlich ein anderes Kind mitgenommen habe. Die Komplimente für die Wohlerzogenheit meines Ältesten nehmen ich trotzdem gern mit – als Seelen-Futter für harte Zeiten. Das sollten Sie auch! Nun aber zu Ihnen: Zunächst einmal ist es ja eigentlich gar nicht so schlecht, wenn ein Kind sich anderswo besser benimmt als zu Hause. Zu Hause ist schließlich ein geschützter Raum mit Personen, denen man vertraut. Trauen Kinder sich zu Hause also mehr in den Konflikt und Widerstand zu gehen, ist dies durchaus in gewissen Rahmen Bestandteil einer gesunden Entwicklung und viel öfter als angenommen Merkmal einer guten als einer schlechten Eltern-Kind-Bindung. Sie sind die wichtigste Informationsquelle für Ihren Sohn, an Ihnen probiert er, wie das Leben funktioniert, was geht und was nicht, an Ihnen muss er sich reiben, um sich selbst zu entdecken. Hinzu kommt, dass Kinder genauso wie Erwachsene in anderen Kontexten auch andere Rollen einnehmen. Kleine Kinder experimentieren häufig mit verschiedenen Rollen, was Sie auch sehr schön am Spiel erkennen können. Auch für sie kann es zudem sehr befreiend sein, wenn sie einmal mit ganz unvoreingenommenen Augen in einem anderen Kontext gesehen werden. Natürlich kann das Ganze aber in eine ungute Dynamik abrutschen, von daher möchte ich Ihre Schwierigkeiten auch nicht kleinreden. Was dann passiert ist häufig, dass man sich gegenseitig aufschaukelt und man nur noch die problematischen Anteile sieht. Das Ganze kann dann zu einem Teufelskreis werden: das Kind ist anstrengend und entnervend – die Eltern meckern und sind ständig im Verbots- und Korrekturmodus – somit fehlt die Zeit für positive Aufmerksamkeit – das Kind steckt seine Energie in negative Dinge, um eben das letzte Quäntchen Aufmerksamkeit zu bekommen und verlernt sich diese auf positiven Wege zu holen – am Ende haben wir abgestumpfte, resignierte oder ausrastende Eltern und ein „schwieriges“ Kind. Wichtig ist es daher diese Negativspirale zu durchbrechen. Bei Ihrer Vorgeschichte ist das nicht immer so ohne Weiteres möglich. Familien mit einer Schreibaby in der Historien sind vorbelastet, oft fehlt ein natürlicher, unverkrampfter Umgang mit dem Kind selbst lange nach der Schreizeit. Kein Wunder, schließlich wurde in der wichtigen Anfangszeit das Vertrauen in das Kind und in die eigenen Kompetenzen arg strapaziert oder gar geschädigt. Es fällt schwer, in dem eigenen Kind mehr als nur ein Schreibaby, mehr als nur Anstrengung oder auch Bedrohung für das eigene Glück zu sehen. Dem Kind wiederum fällt es schwer, aus dieser Rolle herauszukommen, weil die Möglichkeiten dazu fehlen. Es wird immer noch versucht, allen Unmut abzuwenden, alles zu tun, damit das Kind sich möglichst unauffällig verhält, auf Spur ist, funktioniert und bloß nicht schreit. Vielfach kann ein Großteil der Spannung jedoch dadurch genommen werden, dass man nicht versucht, aus einem Ferrari einen Smart zu machen. Fakt ist, manche Kinder sind lauter, impulsiver, aktiver, leicht irritierbar und hochsensibel. Manche Kinder sind eigenwilliger und haben ein enormes Durchhaltevermögen, so dass gängige Erziehungsmethoden eben auch manchmal an ihre Grenzen stoßen. Diese Kinder fallen mehr auf, stören mehr und werden als schwieriger erlebt, weil sie mehr Erziehungs- und Selbstregulationskompetenzen von uns verlangen. Oft ist dafür in unserem hektischen Alltag keine Zeit und der Druck von außen auf die Eltern sehr groß. Anstatt Stärkung und Unterstützung die sie bräuchten erfahren sie oft nur Kopfschütteln oder wohlmeinende Tipps wie man müsse eben nur konsequent sein und hart durchgreifen. Doch kaum einer wird dies so leicht dahinsagen, wenn er mit einem Kind konfrontiert wird, bei dem Ignorieren dazu führt, dass es einen Tag lang nichts isst, weil es keine Schokolade gibt oder sein Zimmer zertrümmert, wenn eine Auszeit ausgemacht wurde. Leicht sieht anders aus und mit pauschalen Lösungen kommt man oft nicht weiter. Das zu akzeptieren und sich zuzugestehen, dass es eben auch schwierig ist (und sein darf) ohne dass man selbst ein Vollversager ist, ist häufig schon die halbe Miete. Die andere Hälfte liegt im Durchbrechen der Negativspirale. Warum gehorcht ein Kind? Im besten Falle nicht, weil es uns oder drohende Strafen fürchtet, sondern weil es unsere Aufmerksamkeit und Anerkennung will. Wir müssen den Kindern dann zeigen, wie das auf positive Weise gelingt und uns dem zuwenden, was klappt. Echte, gezielte und freundliche Aufmerksamkeit ist dabei viel wichtiger als halbherzige Permanentbespaßung. Besonders müde und gestresste Eltern tappen immer wieder in die Falle, dass sie emotional gar nicht richtig beim Kind sind, aber dennoch immer mehr oder weniger genervt in die Interaktion treten, ohne dabei den Blick für die eigentlichen Bedürfnisse zu haben. Besser wäre mehr Klarheit: Schenken Sie dem Kind insbesondere bei kritischen Situationen (anziehen, Zähne putzen, Essen, aufräumen etc. ) oder Übergangssituationen (in die Kita bringen oder abholen etc.) besonders intensive, liebevolle und ungeteilte Aufmerksamkeit. Das bedeutet mehr Zeit einplanen und weniger Pflichten pro Tag, bei denen das Kind „funktionieren“ muss. Wenn Sie nicht in Interkation treten wollen, weil Sie gerade eine Pause brauchen oder mit etwas beschäftigt sind, dann signalisieren Sie dies deutlich („Ich trinke jetzt erst den Kaffee aus und dann komme ich“), lassen aber wenn möglich auch nicht durch Provokationen abbringen. Wenn Ihr Kind dann zetert, schreit, etwas runterschmeißt, kaputt macht etc. ignorieren Sie dieses Verhalten und beseitigen Sie alles kommentarlos bzw. - wenn wieder Ruhe ein gekehrt ist - gemeinsam („so, jetzt sind wir alle nicht mehr so gestresst. Hier ist etwas kaputtgegangen. Das müssen wir jetzt aufräumen“). Diese Maßnahmen wirken nicht sofort, aber schon nach relativ kurzer Zeit können sich Verbesserungen einstellen, sofern im Gegenzug genügend Aufmerksamkeit auf positiven Dingen liegt. D.h. loben, loben, loben! Es reichen dabei schon kleine Dinge „prima, dass du so lieb gewartet hast“, „toll, einen Socken hast du schon geschafft“ oder „ich hab mich sehr auf dich gefreut!“ Manchmal ist es aber von allein nicht möglich, einer festgefahrenen Dynamik zu entkommen. Hier kann es sinnvoll sein, sich Hilfe bei einer Erziehungsberatungsstelle, einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zu holen oder eine Familientherapie zu machen. Vergessen Sie dabei nicht, Sie haben ein etwas größeres Päckchen zu tragen als andere und möglicherweise ein Kind, was seine Eltern mehr fordert. Betrachten Sie es daher nicht als Versagen, sondern als Fortbildung bzw. Aufbau von Spezialkompetenz. In diesem Sinne, alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 11.07.2016