Bindung Schreibaby

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Bindung Schreibaby

Hallo Frau Bentz, ich habe eine vielleicht ungewöhnliche Frage, die mich dennoch seit längerem umtreibt. Mein Sohn ist fast 2 Jahre und war ein Schreibaby. Monatelang pendelte ich zwischen Wohnort und Schreiambulanz hin und her, setze die gelernten Dinge um. Die Zeit davor war der Horror und ich war oft sicherlich nicht die "Mama Sanftmütig" die andere bei ihren friedlich schlafenden Babies gut sein konnten. Dazu kam eine postnatale Depression. Ich war fix und alle, sass oft heulend neben dem brüllenden Kind oder bin leider sogar einige Male laut geworden oder musste kurz aus dem Raum um mich wieder zu fassen. Ich bin oft gerädert und schweigend mit dem KiWa gelaufen, oft stundenlang. Mein Kind hat sich ebenbürtig zum Papa hin orientiert, wobei er bei Krankheit oder Aua immer zu mir will. Insgesamt ist er sehr intelligent, redet grammatikalisch korrekt in ganzen Sätzen. Ich bilde mir ein, dass er allerdings viel zu zutraulich zu Fremden ist. Er hat nie gefremdelt und lässt sich von jedem hochnehmen. Beim Abgeben bei der Tagesmutter weint er wenn ich gehe, freut sich wenn ich komme, dreht aber oft auf halben Weg in meinen Arm wieder zum Spielen ab. Haben Sie Erfahrungen, ob die Bindung zu den Eltern bei Schreibabies eine schlechtere oder belastetere ist - ehrlicherweise steht man mit Schreibaby doch allzu häufig kurz vor dem Nervenzusammenbruch und ist selten genauso liebevoll-geduldig wie das ohne Gebrüll der Fall wäre, auch wenn dies ja immer keiner zugibt :-( Und wie sieht das bei Geschwistern aus, wenn ein Schreibaby kommt, das doch viel Zeit und Nerven bei den Eltern fordert? Haben Sie aus Ihrer Praxis Erfahrungen wie diese den kleinen Schreier verkraften?

Mitglied inaktiv - 27.11.2015, 12:57


Antwort auf: Bindung Schreibaby

Liebe Where2Go! schön, wieder von Ihnen zu hören! Wenn ich mich recht erinnere, ist Ihr jüngstes Kind ca. ein halbes Jahr alt? D.h. Sie haben sich nach einem Schreibaby wieder dafür entschieden, es nochmals zu wagen. Das ist Ihnen nach dieser Vorgeschichte sicher nicht leicht gefallen, doch vermutlich hätten Sie diese Entscheidung nicht getroffen, wenn nicht Vieles sehr positiv verlaufen wäre, oder? Dennoch ist Ihre Sorge mehr als verständlich und ich bin mir bei all Ihrer regen Beteiligung in diesem Forum auch ziemlich sicher, dass Sie schon zig Sachen zu diesem Thema gelesen haben. Dann wissen Sie auch, dass es natürlich bessere Startbedingungen geben kann als die, die Sie beschreiben und ja, es gibt einen Zusammenhang zwischen postpartalen Depressionen und exzessiven Schreien und Bindungsschwierigkeiten. ABER: 1) Haben Sie sich die Situation ausgesucht und laut "Hallo, bitte eine Depression. Mir ist so langweilig mit meinem Neugeborenen!" gerufen? Eine postpartale Depression ist eine Krankheit mit einem enormen Leidensdruck und sicher nicht "Schuld" der daran Erkrankten. Sie hätten auch an Krebs erkranken und durch monatelange Hospitalisierung die Bindung zu Ihrem Kind gefährden können, bloß die Frage der Schuld hätte da wohl weniger im Raum gestanden. 2) ein statistischer Zusammenhang ist keine "Null-oder-Eins" Aussage! Ob in Ihrem Fall das eine oder das andere sich bedingt hat, lässt sich nicht sagen, ebenso nicht, wie groß der Einfluss anderer Faktoren war. Letztendlich sind die Gründe für exzessives Schreien noch nicht vollständig geklärt und im Individualfall lässt sich dies im Nachhinein nur vermuten, nicht belegen. Es könnte ja auch sein, dass das Schreien die Depression mit ausgelöst hat - und dann? Das macht die Sache für Sie beide ja nicht besser oder schlechter. 3) Bindung ist eben keine statische Größe, sondern ein (Lern-)Prozess. Auch wenn wir zweifelsohne einen Grundstock in der Kindheit legen, heißt es nicht, das ein schwieriger Start oder eine Krise ein unveränderliches Schicksal darstellen! Selbst im hohen Alter ist es immer noch möglich, korrigierende Bindungserfahrungen zu machen. Mal angenommen, Ihr Sohn hätte durch Ihr Verhalten einen "Knacks" weg - was ich nicht beurteilen kann - so heißt es nicht, dass er zu Ihnen dauerhaft eine unsichere Bindung entwickeln wird. Bindung entsteht aus Bindungserfahrungen und nicht Momentaufnahmen und Sie haben noch sehr viel Zeit, gemeinsame positive Bindungserfahrungen zu machen! 4) nicht alles Verhalten, was Eltern dafür halten ist wirklich Bindungsverhalten. So kommt es besonders bei Eltern wie Ihnen, die für dieses Thema sensibilisiert sind, häufig zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Ihr Schilderung der Reaktion beim Abholen ist dafür ein gutes Beispiel. Man kann das Abwenden nach der freundlichen Begrüßung eben als "Abwenden", "Vermeidung" etwa im Sinne von "Er liebt die Tagesmutter mehr als mich", "ich habe ihm nicht gefehlt", "ich bin überflüssig" interpretieren oder auch als "er ist noch gerade im Spiel", "er möchte, dass wir zusammen noch hierbleiben" , "er fühlt sich sicher, also ist er so selbstbewusst und selbstständig". Fragen Sie einmal bei anderen Müttern nach. Sie werden sehen, nicht nur Ihr Kind braucht beim Abholen etwas Zeit, trödelt oder ist sogar übellaunig. Wenn das ein sicheres Zeichen für unsicher gebundene Kinder wäre, müssten in meiner Kita 80% diesem Typus entsprechen... Oft hilft ein klares Übergaberitual nicht nur beim Abgabe, sondern auch beim Abholen. Ähnlich wie morgens muss es dann halt nur umgekehrt laufen, sprich die Tagesmutter übergibt Ihnen Ihren Sohn und verabschiedet sich. " Guck, ... deine Mama ist da. Du wirst abgeholt. Tschüss und bis morgen!" Wenn Ihr Kind noch im Spiel ist, können Sie es u.U. noch kurz(!) fertig spielen lassen ("Ich hol schon mal die Tasche, dann komme ich wieder") und es sollte immer auch die Möglichkeit gegeben werden, dass sich Ihr Kind verabschiedet. So ist auch für Ihren Sohn klar, was für ein Programm jetzt läuft (nämlich nicht, dass Mama dableibt und mitspielt). Übrigens: natürlich binden sich die Kinder auch an die Erzieher / Tagesmütter. Dies ist aber kein Zeichen für eine Bindungsstörung, sofern keine gravierenden Distanzlosigkeiten hinzukommen. I.d.R. können Kinder sehr genau zwischen den Rollen von Erziehern / Tagesmüttern und Eltern differenzieren und haben eine deutliche Hierarchie zugunsten der Eltern. Auch wenn Ihr Sohn seine Tagesmutter sehr mag, wird sie nie eine Konkurrenz für Sie darstellen. Die letzten beiden Absätze aber nur am Rande... Wichtig ist mir nur bei diesem sehr ernsten und wichtigen Thema, dass Sie nicht auf diesen Schuldgefühlen sitzen bleiben. Das wiederum birgt nämlich die Gefahr des Überkompensierens. Es ist weder möglich noch nötig, Vergangenes ungeschehen zu machen. Sie können es jetzt und in Zukunft -gut (nicht perfekt!) und - richtig (nicht immer recht) machen und das zählt! Was oft dabei hilft ist das Aufschreiben dieser Gedanken - ggf. auch mit dem Ziel, diese später Ihrem Sohn zu zeigen. Abschließend möchte ich mich nochmal für Ihre Offenheit bedanken! Ich bin mir sicher, es gibt unter den Lesern hier viele betroffene Frauen, die Ähnliches durchgemacht haben und denen es sicher hilft, Ihre Worte zu lesen! Nochmals alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 30.11.2015