24 h-Kind

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: 24 h-Kind

Liebe Frau Betz, ich danke Ihnen schon im Voraus dafür, dass Sie sich durch mein Posting durchwühlen, denn dieses wird wohl sehr lang und auch etwas chaotisch… dafür entschuldige ich mich! Ich habe das Bedürfnis, mir einfach alles von der Seele zu schreiben und bin froh, dass es nun auch ein Expertenforum für sehr anspruchsvolle Kinder gibt. Meine Tochter ist 31 Monate alt. Sie war ein sogenanntes 24 h-Baby. Durfte sie nicht an die Brust, hat sie nur geschrien. Ich musste zufüttern, weil ich nicht genug Milch hatte, also dachten wir, sie schreit vor Hunger, und gaben ihr zusätzlich die Flasche. Doch selbst wenn sie mit Sicherheit pappsatt war, schrie sie, wenn sie nicht nuckeln durfte. Einmal versuchten wir, sie anders zu beruhigen (herumtragen und leise singen im abgedunkelten Raum, Schnuller wollte sie absolut nicht). Sie schrie 2,5 Stunden, bis wir abbrachen und ich ihr doch wieder die Brust gab (sie war da elf Tage alt). Ich war nur noch am dauerstillen, vier Monate lang. Mit sechs Monaten bekam sie Beikost. Das gesamte erste Jahr war extrem anstrengend, die Nächte unbeschreiblich. Aufwachen im 1-Stunden-Rhythmus, dauernuckeln in zum Großteil unmöglichen Positionen. Jeden Tag hatte ich Nacken- und Kopfschmerzen, weil ich wieder stundenlang falsch gelegen hatte. Tagsüber war sie meist unzufrieden und quengelig, ein Lächeln war sehr selten, für ein Lachen musste man sich regelrecht zum Affen machen. ;-) Sie war und ist extrem weit entwickelt. Krabbelte mit 7 Monaten, zog sich zwei Tage später an Möbeln hoch und lief mit 8 Monaten daran entlang. Fing mit 20 Monaten an, in ganzen, grammatikalisch richtigen Sätzen zu sprechen. Mit 31 Monaten nun erzählt sie ganze Geschichten, erinnert sich an Dinge, die Monate zurückliegen, hüpft auf einem Bein, macht Purzelbäume etc., hat angefangen, die ersten Buchstaben zu schreiben (V, I, O und A) und buchstabiert einfache Wörter. Sie ist ein sehr empathisches Kind, tröstet andere, ist offen und sehr neugierig, saugt Eindrücke regelrecht in sich auf. Sie hat eine große motorische Unruhe, kommt beim Einschlafen auch einfach nicht zur Ruhe. Will bis heute nicht ohne Brust einschlafen (kann es aber), will beim Essen nicht sitzen bleiben, sondern macht nur Blödsinn, turnt auf ihrem Stuhl herum und rennt durch die Wohnung. Sind wir konsequent, interessiert sie das meist überhaupt nicht. Sie hält sich an kaum eine Regel, wir müssen schreien oder sinnlos bestrafen („Hör auf oder dein Spielzeugzug kommt weg!“), das zieht dann meistens. Wir fühlen uns schlecht, weil es manchmal laut wird, oder weil die Strafen oft sinnlos sind, aber anders geht es meist nicht. Und ich bin langsam, nach 2,5 Jahren, mit meiner Kraft am Ende. Ich weiß nicht, was ich erziehungstechnisch falsch gemacht habe, oder ob überhaupt. Sie bedankt sich, sagt bitte, danke und wünscht Gesundheit, wenn jemand niest, hält sich die Hand vor den Mund, wenn sie hustet oder niest, holt sich beim Naseputzen ein Taschentuch, zieht sich selbständig an (wenn sie will…), macht sich ihr Frühstück selbst. Sie wird in der Krippe, in die sie drei Stunden pro Tag geht, als sehr lieb, hilfsbereit und selbständig beschrieben. Und doch frage ich mich, ob nicht ihre „Baustellen“ und die Tatsache, wie anstrengend sie ist, auf meine Kappe gehen. Immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich sie anschaue und mich frage, was mit ihr nicht stimmt – oder ob ich es bin, mit der was nicht stimmt. Jetzt ist ihr Brüderchen neun Wochen alt, und hier herrscht das totale Chaos. Meine Tochter will abends natürlich noch immer in den Schlaf gestillt werden, mein Sohn will abends auch mal clustern und seine Schmusezeit mit Mama. Meine Tochter hängt mir immer noch (oder wieder?) sehr am Rockzipfel, mein Sohn braucht mich aber natürlich auch sehr. Ich habe das Gefühl, alles allein machen zu müssen, weil Papa sie immer noch nicht ins Bett bringen kann. Wenn er das versucht, schreit sie stundenlang dermaßen, dass ich schon oft zu meinem Mann gesagt habe, das ist nicht normal (natürlich nicht in ihrem Beisein). Oft ist es so, dass ich sie ins Bett bringe, aufspringe, sobald sie eingeschlafen ist, meinen Sohn stille, und eine Stunde später (sie wacht immer noch oft auf bzw. hat heftige Träume…) muss ich wiederum ins Schlafzimmer und sie beruhigen. Sie träumt auch sehr heftig, verarbeitet nachts alle Eindrücke, schreit und schlägt um sich. Sie kommt einfach nicht zur Ruhe, nicht einmal nachts. Ich habe seit sage und schreibe 2,5 Jahren keine vier Stunden am Stück geschlafen. Nun grüble ich, ob sie evt. ADHS oder etwas Ähnliches hat, weil sie so extrem zappelig ist. Fernsehen darf sie gar nicht, wir sind sehr viel draußen, sie macht viel Sport. Trotzdem ist sie IMMER überdreht und in Bewegung, so als könne sie nie genug kriegen. Auch läuft sie durch die Wohnung und macht seltsame Geräusche, hat die Zunge heraushängen und prustet herum. Den halben Tag geht das so. Und ich frage mich einfach langsam, ob das alles noch normal ist... :-( Wird das irgendwann besser? Wird es leichter oder nur anders? Gibt es Wege, mit schwierigen Situationen besser umzugehen? Ich danke Ihnen tausend Mal fürs Lesen und dass Sie sich die Zeit für eine Antwort nehmen!

von Kekskopf am 21.07.2015, 18:58


Antwort auf: 24 h-Kind

Liebe Kekskopf! hui - klingt nicht gerade, als ob es bei Ihnen je langweilig werden würde!! Ich muss sagen, mir kommt das Ganze in einigen Dingen sehr bekannt vor, denn mein Ältester ist auch so ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen... Doch auch wenn ich bei Ihrem Bericht teilweise schmunzeln musste, ich kann sehr gut nachvollziehen, wie anstregend das Ganze für Sie sein muss. Zunächst einmal bin ich sowohl als Fachfrau wie auch als Mutter immer etwas zwiegespalten: Grundsätzlich finde ich es gerade bei Kleinkindern sehr wichtig, nichts voreilig zu pathologisieren, damit die Kleinen nicht schon einen dicken Stempel abbekommen - was gerade bei ADHS zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Anderseits ist es natürlich auch wichtig, festzustellen, ob ein Kind besondere Bedürfnisse -auch an die Erziehung - hat. Das alles ist aus der Ferne nicht zu beurteilen, aber wenn Sie sich unsicher sind, ist es manchmal besser, man lässt einfach mal einen Blick von einem neutralen Dritten auf Ihr Kind werfen. Vielleicht gibt es bei Ihnen in der Nähe ein Früherkennungszentrum? Ansonsten wären Kinder- und Jugenpsychotherapeuten und/oder zunächst auch einmal eine Erziehungsberatungsstelle mögliche Anlaufstellen. Ich selbst bin keine ausgewiesene Expertin zum Thema ADHS und es ist m.E. viel zu früh für eine Diagnose dieser Art, doch aufgrund Ihrer Schilderungen stellt sich für mich eher folgendes Bild da: Kinder mit dieser Störung sind über verschiedene Kontexte hinweg sehr unruhig, leicht ablenkbar, nicht bei der Sache und halt "störend". Eine wichtige Frage: Ist das bei Ihrer Tochter auch so? Gibt es Dinge, auf die sie sich gut konzentrieren kann (in ihrem Alter wären das so 15 Min.), gibt es Personen, bei denen sie "pflegleichter" ist? Dann wäre ich weniger besorgt, was dieses Thema angeht. Ihre Kleine scheint ferner extrem intelligent zu sein. Dies gepaart mit einer ausgeprägten Willenstärke und vielleicht Ihrer Unsicherheit an der ein oder anderen Stelle bietet viel Sprengstoff! Und jetzt ist auch noch Konkurrenz im Haus! Wie Sie selbst sagen, ist man manchmal als Eltern ratlos, welche Form der Konsequenz man noch "androhen" kann und verfällt ins ewige "wenn, dann.." und die Kleinen lernen "wenn - dann eben doch nicht". Sinnlose Strafen oder Androhungen durchschaut Ihre Tochter sofort. Es ist zudem verdammt schwer, konsequent zu bleiben, wenn man erschöpft und müde ist. Ich fnde daher, Trotz und Wut mit Gelassenheit ins Leere laufen zu lassen, weitaus wirksamer und nervenschonender. Wichtig finde ich, dass man sich mit seinen Bemühungen um Konsequenz auf die wirklich wichtigen Dinge konzentriert und dann ein Handlungsschema zur Lösung entwickelt. Mein Vorschlag: Fassen Sie doch mal gemeinsam mit Ihrem Mann die drei wichtigsten Konfliktsituationen" , also das, was am meisten stresst, zusammen (wie z.B. vom Papa ins Bett bringen lassen). Dann überlegen Sie sich vorher (!), wie Sie sich in Zukunft verhalten wollen und zwar (a) wie wollen Sie einen Anreiz für gewünschtes Verhalten schaffen ("wenn das gut klappt, dann...") und (b) wie reagieren, wenn Ihre Tochter das gewünschte Verhalten nicht zeigt, (z.B. einfach das Theater durchziehen. Papa bringt ins Bett.Punkt. Und bleibt notfalls vor der Tür sitzen und legt die Kleine immer wieder hin ohne Diskussion). Wichtig ist, dass Sie Ihrer Tochter vorab und immer wieder klar und einfach deutlich machen, was von ihr erwartet wird. In diesem Alter kann sie gut schon 3 klare Regeln verstehen (z.B. Wir bringen immer abwechselnd ins Bett... u.ä.). Seien Sie zudem kreativ und versuchen Sie Ihre Kleine mit Dingen, die sie begeistert, abzuholen. Schön sind immer auch Ideen, womit den Kleinen spielerisch das Gefühl vermittelt wird, dass sie selbst auch noch Handlungsmöglichkeiten und Einfluss haben und nicht einfach nur "gehorchen" müssen. Ich arbeit z.B. gern mit großen, farbigen Sanduhren und mache daraus einen Wettbewerb, (z.B: "wie lange halte ich es bei Tisch noch ruhig aus", oder "wer kann schneller die Legosteine aufräumen") Manchmal können Situationen auch schnell durch kleine Albernheiten entschärft werden "So, jetzt bekommst du eine Kitzelstrafe". Oft ensteht Trotz auch durch Langeweile oder dem Wunsch nach etwas Aufmerksamkeit, dem man so mal nachgeben kann, ohne die Situation zu eskalieren Es ist natürlich entscheidend, dass Sie auch die Kraft und den Mut haben, den Gegenwind auszuhalten - was bei willenstarken Kindern eine echte Herausforderung ist! Daher sind Pläne und Absprachen wichtig, damit Sie nicht erst in einer Situation, die schon stresst, entscheiden müssen, was Sie tun. Bei all dem vergessen Sie aber bitte nicht: Ihr Kleine ist sicher sehr, sehr klug, dennoch heißt das nicht, dass sie auch emotional wirklich reif und verständlich ist. Manchmal ist es einfach der Kontrast zwischen dem natürlichen Kleinkindverhalten und dem, was sie alles weiß, so groß, dass man zuviel erwartet und sie überfordert. Ich hoffe, ein paar Anregungen gegeben zu haben und wünsche Ihnen und Ihrer Rasselbande für die Zukunft alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 22.07.2015