Frage: Warum sind unsere Kinder so wählerisch?

Hallo Birgit! Nachdem meine Tochter von Anfang alles gegessen hat, macht mich das Essverhalten meines Sohnes innerlich agressiv. Zum Schlafverhalten von Kindern gibt es so viele Bücher, die erklären warum es für Kinder früher gefährlich war alleine zu schlafen und wie die Urinstinkte sich das auf das heutige Verhalten auswirken. Gibt es für das Essverhalten auch solche Gründe? Oder ist das die westliche Erziehung? Kinder in der Steinzeit oder heute in den Entwicklungsländern wären und würden doch schlicht verhungern wenn sie nicht essen was auf den Tisch kommt. Es macht mich so wütend, dass ich hier gesund koche, mein Kind (18 Monate) die Möglichkeit hätte eine stundenlang frisch gekochte Hühnersuppe zu essen und sich einfach weigert. Wir sind hier im Westen und unsere Kinder haben vollen Zugang zur besten Ernährung, essen jedoch lieber Toast. Woanders würden Kinder für diese Suppe Schlange stehen. Ich bin ja selber Schuld. Weigert er sich zu essen was wir essen, gebe ich ihm was anderes bevor er Nachts hungrig ist. Warum Gemüse Essen wenn es auch Joghurt gibt? Ich weiß, dass ihre Empfehlung lautet ohne Zwang alles anzubieten. Aber ich sehe es nicht ein, dass mein Kind gesundes Essen aus Wohlstand ablehnen darf. Deshalb lautet meine Frage eher:" Gibt es eine Erklärung für dieses Verhalten oder ist es nur der westliche Wohlstand?" Vielleicht fällt es mir dann leichter richtig zu handeln. Vielen Dank :-).

von Lihannon am 14.09.2018, 14:11



Antwort auf: Warum sind unsere Kinder so wählerisch?

Hallo Lihannon unser westlicher Lebensstandard ist definitiv nicht schuld. Das Phänomen gab und gibt es schon immer und ist auf dem gesamten Erdball zu beobachten. Dieses allzeit und allüberall zu beobachtende Phänomen bildet zumindest den Grundstein einer evtl (mehr oder weniger ausgeprägten) mäkeligen Esskarriere bei Kindern, dem sog. picky- eating. Der Beginn des picky-eating hat definitiv seinen Ursprung in unseren Genen. Soweit kann ich dir zunächst versichern, dass das Verhalten deines Kindes vorerst noch völlig normal ist. * Aber jetzt kommt eine zweite dir mutmachende Antwort auf die Frage nach Gründen und auf die Frage ob man als Eltern einfach abwarten sollte, wie man erzieherisch eingreifen kann und/oder ob sich hier jemals etwas ändern wird. Ja, man kann sehr viel tun, um die Situation zu verbessern. Zuerst einmal darfst du tief einatmen und ausatmen. Denn Wut und Aggression sind völlig fehl am Platz und wirken eher kontraproduktiv. Schlimmstenfalls entwickelt sich hieraus ein Machtkampf. Ein erster Ansatz für dich könnte sein; - es gibt nur das, was du bei Tisch anbietest. - keine Snacks zwischendurch und auch kein Betthupferl - die Milchmenge anpassen (ca 300 ml Kuhmilch) - Wiederholungen bringen - Essen zwanglos zum Kennenlernen anbieten Alle Kinder dieser Welt haben eine Präferenz für Speisen mit den folgenden Merkmalen: süß, fettig, weich, mild gewürzt, bunt, kohlenhydratreich, klare Formen Für Kinder haben Speisen mit den genannten Kriterien ein sog. gutes sensorisches Level Beispiele: Toastbrot = weich, tendentiell süßlich. Quetschie = süß, klare Form. Nudeln = weich, kohlenhydratreich. Alle typischen Kindergerichte stimmen mit diesen Eigenschaften überein. Kurz gesagt: Kinder präferieren diese Speisen. An diese Speisen sind sie sozusagen genetisch angepasst. Auch angepasst bzw durch die Mutter via Schwangerschaft und Stillzeit geprägt sind Kinder auch an den Geschmack von Speisen, die die Mutter in dieser Zeit sehr häufig konsumiert hat. Auf diese Weise werden Kinder in Geschmacksfragen kulturell vorgeprägt. Damit Kinder lernen, ihren Erfahrungsschatz in Geschmacksfragen zu erweitern, müssen sie lernen auch andere Aromen zu akzeptieren. Dies lernen sie in dem sie eine neue Speise immer wieder in kleinen Probiermengen kosten und sich an den neuen Geschmack und weitere Eigenschaften der Speise gewöhnen. Sie müssen durch Wiederholung lernen, auch andere Speisen zu mögen. Im Babyalter funktioniert das Geschmackstraining via Brei und Fingerfood. Es wird hier bereits zu Vielfalt im Angebot geraten. Der Geschmack ist zunächst nur ein Kriterium zur Bewertung einer Speise. Erst wenn das Lebensmittel im Körper verdaut ist und den Körper nährt, kann das Kind (unbewusst) über Gefallen oder Nichtgefallen entscheiden. Wenn der Körper Gutes mit der verzehrten Speise erfährt, wächst der Appetit darauf, die Lust auf Wiederholung. Was Babys bereits mit der Beikost kennenlernen konnten und akzeptierten, das bildet meist weiterhin die Basis für die kommende Zeit bis zum 18 Lm (+/-). Um diese Zeitspanne herum verweigern sie häufig ganz plötzlich das, was sie zuvor gerne gegessen haben und möchten noch nicht einmal mehr Neues versuchen. Ihre Ernährung scheint ggf sehr einseitig und monoton zu werden. An diesem Punkt seid ihr gerade angekommen. In der Zeitspanne um den 18. Lm herum, beginnt eine neue Ära für dein Kind. Es ist jetzt definitiv ein Kleinkind und entdeckt die Welt immer selbstbestimmter. Ernährung für Kleinkinder beinhaltet jetzt mehr als nur die Versorgung des Kindes mit Kalorien und Nährstoffen gemäß den Empfehlungen zur Nährstoffzufuhr. Jetzt zählt auch der Spaß beim Essen, das Vermitteln unserer/eurer Esskultur = Ernährungserziehung. Für euch Eltern ist die Phase evtl eine Herausforderung, aber ihr müsst lernen den Drang nach Autonomie zu respektieren und angemessen darauf reagieren. Kinder testen auch beim Essen gerne ihre Grenzen und ihre Möglichkeiten. Wenn du allabendlich einen Joghurt vor dem Schlafengehen gibst, wird sich dein Kind an dieses Ritual gewöhnen. Es ist dann "seine" Essenszeit. Hier erfährt dein Kind evtl sogar besonders viel Aufmerksamkeit und Zuneigung - ein verstärkender Effekt, der die Situation für die eher weniger optimale Essweise weiterhin begünstigt. Möglicherweise erhält dein Sohn mit seinem verweigernden Essverhalten am Esstisch wiederum eine ähnliche Fürsorge (besondere Aufmerksamkeit durch dich, oder eher negativ geladen durch Wuttendenzen (?) - hier jedoch provoziert durch die Verweigerungshaltung.... Wie wäre es, wenn du den Joghurt zu den üblichen Mahlzeiten anbietest und zusätzlich deinem Kind einen Teller hinstellst, mit allen Köstlichkeiten der Mahlzeit? Reserviere einen bestimmten Teller für dein Kind, besonders empfehlenswert sind Teller mit mehreren Kammern. Hierdrauf platzierst du alles, was die Mahlzeit zu bieten hat und lässt dein Kind einfach zwanglos darin herummatschen und spielen. Etwas wird er sicherlich davon essen. Auf diese spielerische Weise kann dein Sohn Neues kennen lernen, in seinem Tempo. Und zwar zwanglos. Den Joghurt (o.a.) kann er zusätzlich essen / gefüttert bekommen. Evtl ein paar Minuten später, damit er genügend Zeit hat, das Neue auf dem Teller zu erfahren. Betrachte den gedeckten Esstisch als Abenteuerspielplatz, den es mit allen Sinnen zu entdecken gilt. Beim Essen lernen sind alle Sinne beteiligt: der Sehsinn, Riechsinn, Geschmackssinn, Tastsinn (Hände und Mundraum, Zunge), Hörsinn, Gleichgewichtssinn und: Emotionen Erst das Zusammenwirken all dieser Sinneseindrücke ergeben für dein Kind ein Ganzes. Dieses Zusammenwirken hat einen großen Einfluss auf das Essverhalten und die Akzeptanz von (neuen) Speisen i.A. Ich habe oben die Eigenschaften von Essen beschrieben, für das sich alle Kinder begeistern. Bestandteil der Ernährungserziehung ist es aber auch, Kinder an neue Geschmacks-Erlebnisse heranzuführen und sie auch mit beim ersten Eindruck weniger beliebten Speisen vertraut zu machen. Hierfür sind manche Kinder schneller zu begeistern und manche Kinder akzeptieren Neues nur sehr schwer. Eine Faustregel besagt, dass häufig bis zu 10, gar 15 Kontakte mit einer neuen Speise stattfinden müssen, bevor sie das Kind wirklich mag. Das "Mögen" basiert wiederum auf der Gewöhnung. Die Gewöhnung braucht Zeit. Verstärkende Effekte für die Gewöhnung und die Akzeptanz von Neuem können sehr verschieden sein. Manchmal hilft eine besondere Atmosphäre - bspw im Restaurant, bei Oma, mit Papa, etc. Auch je häufiger diese Speise angeboten wird, spielt eine große Rolle für die Bereitschaft zum Probieren. Dies sind nur einige Beispiele unter vielen anderen. Nun habe ich schon wieder einmal sehr viel geschrieben und hoffe, dass ich dir ein bisschen Mut machen konnte. Hole dein Kind aus der Komfortzone und erlebt die gemeinsamen Mahlzeiten mit viel Spaß und Freude. Also dann Grüße Birgit Neumann *es kommt jetzt darauf an, was du/ihr (als Eltern) daraus macht

von Birgit Neumann am 15.09.2018