Tägliche Schreistunden ohne Besserung

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Tägliche Schreistunden ohne Besserung

Sehr geehrte Frau Dr. Bentz, unser Kind ist Mitte Februar 2016 geboren und entwickelt sich bis jetzt prächtig. Ich stille voll. Die ersten 6 Wochen waren der Himmel auf Erden, aber seither nimmt das Schreien immer mehr zu. Wir tragen unser Baby zwischen 3 und 8 Stunden pro Tag im Tragetuch. 8-10 Woche: Hier war wohl der Höhepunkt der Schreiphase mit abendlichen Episoden zwischen 1-3 Stunden trotz aller Massnahmen (neue Windel, Stillen etc.) In dieser Zeit haben wir unsere Tochter beim Schreien begleitet, getragen und leise zugeredet. Die Dauer des Schreiens liess sich nicht beeinflussen. Das Schreien war immer gleich, egal ob am Tag viel oder wenig los war. seit der 11 Woche: Die Schreiphasen haben sich jetzt verkürzt, allerdings tragen wir die kleine Maus zur Nacht nur noch auf dem Arm. Sie findet anders quasi gar nicht mehr in den Schlaf. Wenn man Sie dann nach dem Einschlafen auf dem Arm (was teilweise auch mal 2 Stunden in Anspruch nimmt) ablegt, wacht sie häufig sofort wieder auf und das Schreien geht von vorne los. Bisher sind wir mit dem abendlichen Tragen auf dem Arm in den letzten Wochen gut zurechtgekommen und haben uns abhängig von den Ressourcen abgewechselt. An Rituale ist auf Grund der Schreiphase, die meist so gegen 19 Uhr einsetzt, allerdings noch nicht zu denken. Tagsüber gestaltet sich die Situation ähnlich, wobei das Schreien vor dem Schlafen meist kürzer ausfällt. Je länger der Tag, desto schwerer das Einschlafen. Wir haben das Gefühl unser Kind gut zu kennen und auf die Bedürfnisse gut eingehen zu können. Sie ist eigentlich ein fröhliches Kind, lacht und bewegt sich viel, aber sobald sie müde ist, kann sie nicht einschlafen und beginnt mit dem Schreien. Unsere Frage ist nun: Haben wir irgendetwas übersehen / vergessen? Das Bedürfnis nach Nähe ist sicherlich physiologisch, allerdings befürchten wir, dass wir die Kleine auch noch mit einem Jahr zum Einschlafen auf dem Arm tragen müssen. Da es teilweise doch ordentlich an die Substanz geht, wenn man das Baby jeden Abend 2-3 Stunden tragen muss, möchten wir gerne um Rat fragen. Sollte man nochmal ein begleitetes Schreienlassen (daneben sitzen, streicheln, zuredet) ausprobieren, um das Kind in seiner Selbstständigkeit zu stärken? Gibt es andere Alternativen? Wir freuen uns über jeden Ratschlag :)

von mariposa86 am 17.05.2016, 21:17


Antwort auf: Tägliche Schreistunden ohne Besserung

Liebe Mariposa86! ich kann gut nachvollziehen, dass Sie durch das Schreien Ihrer Tochter stark verunsichert sind, schließlich ist es ja auch ein Signal. dass bei uns eine Alarmreaktion hervorrufen soll. Dennoch - und das haben Sie richtig erkannt - nicht immer ist es uns möglich, trotz feinfühligster Art, das Schreien abzustellen. Häufig wird aber genau das suggeriert, sprich kompetente Eltern sind die, deren Kind nicht schreit. Doch Schreien ist kein pathologisches Verhalten, sondern ganz normal. Selbst exzessives Schreien betrachtet man als Extremausprägung eines an sich normalen Verhaltens. Damit möchte ich folgendes sagen: Machen Sie sich von dem Druck frei, das Schreien Ihres Babys immer verhindern zu müssen. Ein Baby darf schreien, denn es ist seine einzige Ausdruckform und ist eben nicht mit dem Schreien eines Erwachsenen gleichzusetzten. Schreien bedeutet demnach auch nicht zwangsläufig, dass einem Kind ganz schlecht geht, dass es Ängste hat oder Panik. Es fühlt sich vielleicht einfach nur unwohl und gestresst, ist übermüdet oder überfordert. Während unser einst mühsam gelernt hat, welche Dinge dann helfen, um zu entspannen und wir dann einfach ein heißes Bad nehmen, uns vor den Fernseher setzen oder einfach ins Bett gehen, müssen die Kleinen ihren Aus-Knopf erst finden. Den finden sie aber nur, wenn wir sie lassen und eben nicht durch allerlei Tüdelei und Tamtam von diesen inneren Zuständen ablenken. Es ist daher richtig, dass Sie ins Situationen, wo Ihr Kind Ruhe braucht, auch Ruhe reinbringen und eben einfach nur da sind, Nähe geben und sonst nichts. Das muss man sich natürlich erst einmal trauen, denn natürlich kommen dann Fragen auf wie "Was ist denn nur los? Was kann ich noch machen? Was mache ich falsch.."?). Doch da können Sie ruhig Ihrem Gespür vertrauen. Sie merken, wenn es um die volle Windel, den leeren Magen, oder einen Pups geht. Ebenso merken Sie, wenn Ihr Kind nicht abschalten kann und völlig überreizt wird. Dann nützt eben keine hektische Betriebsamkeit und Fehlersuche was, sondern nur Ruhe, Ruhe, Ruhe - selbst wenn das Kind schreit. Sie machen es daher richtig und gut! Wie Sie bereits gemerkt haben, nimmt die Schreidauer jetzt immer weiter ab. Wenn Sie von einem recht hohen Ausgangsniveau (=häufige Schreien) kommen, vollziehen sich die Änderungen natürlich langsamer als wenn ein Kind immer schon wenig geschrien hat. Anders: Von 3 auf 2 Stunden Schreierei bedeuten eine erhebliche Verbesserung, aber eben noch 2 Stunden Extrembelastung. Und keine Angst: Ihre Baby ist noch sehr jung. Bleiben Sie also im Hier und Jetzt. Wenn Ihre Tochter ein Jahr alt ist, werden Sie ein komplett anderes Kind im Arm halten, denn bis dahin passiert unglaublich viel! Selbst wenn Sie dann irgendwann an einen Punkt kommen, dass Sie merken, dass gewisse Gewohnheiten und Abläufe nicht mehr funktionieren, können sie diese mit Liebe und Geduld ändern. Es macht sicher Sinn, auf Dinge immer auch ein kritisches Auge zu werfen, doch in diesem Alter sollten Sie nicht allzu große Sorgen vor "schlechten Gewohnheiten" haben. Wenn Sie Ihren Alltag zunächst so stabilisieren konnten, ist es doch ok. Ich würde vielleicht versuchen, Ihr Kind eher ins Bett zu bringen und möglichst nur noch im Arm zu halten, um nicht das Einschlafen an Bewegungsreize zu koppeln. Der Idealfall "Kind wach ins Bett und ohne große Hilfe einschlafen zu lassen" ist wirklich ein sehr ehrgeiziges Ziel und klappt bei den meisten Kindern eben nicht. Es bedeutet daher auch nicht, dass Sie als Eltern versagen, wenn Ihnen das nicht gelingt. Auch wenn lerntheoretisch so ein Vorgehen richtig ist, kann man die Frage stellen, ob es denn nicht eine Überforderung der meisten Säuglinge darstellt und Eltern unnötig unter Druck setzt. Also lieber mal alle Fünfe gerade sein zu lassen. Ihr Alltag ist anstrengend genug, das geht es nicht um Perfektion, sondern um einen bestmöglichen Weg. Ihren Weg. Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg und alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 22.05.2016