Schreibaby ein Leben lang?

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Schreibaby ein Leben lang?

Sehr geehrte Ärztin, ich hätte sehr gerne gewusst, ob sich Ihres Wissens nach das "Schreibabywesen" auch im Kindesalter fortsetzt und ob es ein sicheres Anzeichen für irgendwelche "Störungen" ist. Meine Tochter war in den ersten ca. 6 Monaten ein sogenanntes Schreibaby und auch danach die meiste Zeit unzufrieden, ohne dass gesundheitliche Störungen ersichtlich waren. (Motorisch war sie allerdings "hinterher" und ist erst mit fast 1 Jahr gekrabbelt und mit 20 Monaten frei gelaufen. Auch feste Nahrung hat sie erst mit 1 Jahr langsam begonnen zu essen.) Eigentlich konnte ich sie von früh bis spät nur in der Manduca herumtragen, nur so bzw. beim Stillen ging es ihr gut. Am Ende meiner Elternzeit war ich so erschöpft, dass die Hausärztin mich krank schreiben wollte, aber ich konnte meinen Job nicht riskieren. Nach der Krippeneingewöhnung (eine kleine Einrichtung mit gutem Betreuerschlüssel, sie fühlt sich dort sichtlich wohl und trifft viele der Kinder, da wir in einer kleinen Gemeinde leben, auch außerhalb der Einrichtung) ging es mit ihr deutlich bergauf. Sie wurde immer ausgeglichener, die "guten Zeiten" waren keine Ausnahme mehr, sie hat sich immer länger selbst beschäftigen können bzw. wollen. Seit rund 1/4 Jahr jedoch ist meine Tochter (jetzt 2 1/2) wieder die allermeiste Zeit daheim (!) unzufrieden, nörgelig, weinerlich, quengelig, knatschig, ... Sie will ständig auf den Arm, nur um sich dann wieder wie ein Sack fallen zu lassen und theatralisch auf den Boden zu sinken. Sie zuppelt und zerrt ununterbrochen an meinen Kleidern herum oder will die Hände unter meinen Pulli schieben. Sie schreit und weint lange Zeiten am Stück und wiederholt dabei immer unverständliche Worte (obwohl sie eigentlich schon richtig gut reden kann). Oder sie schlägt nach mir, kneift mich, zieht mich an den Haaren usw. Wenn ich ihr androhe, weg zu gehen, wenn sie mir noch einmal weh tut (das mit dem Alternativen anbieten wie "Hau das Sofa, nicht die Mama" usw. funktioniert irgendwie nicht), und das dann auch umsetze, weint sie sogleich wieder bitterlich und ruft kläglich nach mir. Die guten Momente sind so selten geworden! Dabei kommen Kuscheln und sie alles Ausprobieren lassen bestimmt nicht zu kurz bei uns. Das alles betrifft aber nur die Zeit zu Hause, also morgens, abends (bzw. am späteren Nachmittag) und am WE. In ihrer Krippe und wenn wir unterwegs sind (Spielplatz, Schwimmbad, bei Freunden), ist sie ganz anders. Bei ihren Betreuerinnen und anderen Eltern gilt sie als ruhiges, anhängliches, intelligentes und liebes Kind. Gibt natürlich auch mal Kontra, wenn sie nach der Krippenzeit die Jacke anziehen oder den Spielplatz verlassen soll, aber alles im normalen Rahmen. Niemand kann sich vorstellen, dass sie zu Hause so ganz anders ist. Ich bin oft mit den Nerven völlig am Ende. Es kostet mich leider oft sehr viel Kraft, nicht selber aggressiv zu werden. Ich frage mich immerzu, was falsch läuft bzw. ob diesem Draufsein irgendwie gegenzusteuern ist. Um "normales Trotzverhalten" scheint es sich aus meiner Sicht nicht mehr zu handeln. Oder doch? Ich wäre wirklich sehr dankbar für Ihre Einschätzung als Expertin. Vielen Dank für Ihre Mühe!

von hollerfee am 09.02.2016, 20:28


Antwort auf: Schreibaby ein Leben lang?

Liebe Hollerfee, vielen Dank für Ihren sehr bewegenden Bericht! Die Frage nach der Prognose ist für viele Schreibabyeltern sehr beängstigend, in vielen Fällen aber zu Unrecht. Wie günstig eine Prognose ist hängt vor allem vom Schweregrad der Störung, von der Dauer (Persistenz), der Frage ob und wie früh behandelt wurde und letztendlich auch von den elterlichen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten ab. Grundsätzlich ist die Prognose für Schreibaby (in der Fachwelt spricht man von Regulationsstörung mit exzessiven Schreien) gut. Der überwiegende Teil hört nach 3-4 Monaten auf. Für Kinder, die über den sechsten Monat hinaus exzessiv schreien ist allerdings die Auftretenswahrscheinlichkeit für weitere Verhaltensstörungen / Regulationsstörung erhöht. So gibt es deutliche Zusammenhänge zwischen exzessiven Schreien und anderen Regulationsstörungen wie etwa Fütterstörungen, exzessives Trotzen oder Klammern, Spielunlust etc. Für die spätere Entwicklung werden vermehrt Schwierigkeiten in der Schule und Sozialverhalten berichtet. Dies macht betroffenen Eltern verständlicherweise große Angst. Allerdings ist immer zu betonen, dass dies Wahrscheinlichkeiten darstellen und keine Zwangläufigkeiten! Es ist keineswegs so, dass gilt einmal 24-Kind, immer 24-Kind. Allerdings brauchen eben manche Kinder und vor allem auch ihre Eltern nach dieser Zeit noch etwas Unterstützung. Ein Schreibaby hat die Nerven der ganzen Familie stark belastet, der Übergang zum normalen Alltag mit einem Kleinkind fällt vielen Betroffenen daher schwer. In einigen Fällen sind die Eltern immer noch im Alarmzustand und haben keinen natürlichen, unverkrampften Zugang zum Kind, die Eltern-Kind-Bindung ist belastet und „sehr verkopft“, man hadert mit schlechten Gewissen und Schuldgefühlen etc. Auf der kindlichen Seite kann es sein, dass es ein Kind immer noch Schwierigkeiten hat, Zugang zu seinen inneren Zustand zu finden (hab ich Hunger, Durst, bin ich müde) und häufig von seinen Gefühlen überflutet wird und sehr sensible auf Reize reagiert.Es ist daher nicht selten, dass Schreiambulanzen Familien bis ins Kleinkindalter hin aus immer wieder mal betreuen, da sich die Störung vom Schreien auf andere Kontexte übertragen hat. Eine Schreiambulanz bzw. Einrichtung für frühkindliche Regulationsstörungen, ein Sozialpädiatrisches Zentrum wären daher auch in Ihrem Fall für die Abklärung die richtigen Ansprechpartner. Für viele Eltern ist dies ein schwieriger Schritt, der jedoch Klarheit über die Frage bringt, ob Unterstützung benötigt wird oder nicht. Im Zweifel daher immer zu den Fachleuten, denn das ewige Grübeln und Vergleichen belastet die Eltern-Kind-Beziehung immens und kann zu einer sich selbst-erfüllenden-Prophezeiung werden (das „schwierige“ Kind bestätigt seine Rolle). Abschließend noch ein kleiner Trost: es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder sich zu Hause anders verhalten als in der Kita bzw. der Tagesmutter. Die Bindungen zu diesen Personen sind anders, die Rollen und Regeln auch. Sie als Mutter haben für Ihr Kind den meisten „Informationswert“, d.h. trotz Fremdbetreuung wird Ihr Kind im Wesentlichen sich an Ihnen orientieren, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen. Dazu gehört es auch, herauszufinden, was geht und was nicht. Eine sichere Bindung ist daher auch keineswegs durch Konfliktfreiheit gekennzeichnet – im Gegenteil! Es gibt Untersuchungen die zeigen, dass sicher-gebundene Kinder durchaus weniger gehorsam sind, weil sie sich eben der Zuneigung ihrer Eltern sicher sind. Ob bei Ihnen konkreter Handlunsgbedarf besteht, kann ichhier nicht beurteilen. Mein Rat: Quälen Sie sich länger mit diesen Fragen und holen Sie eine professionelle Einschätzung von Kollegen vor Ort ein. Selbst wenn Sie und Ihre Kleine noch etwas Unterstützung brauchen, ist dies keine Katastrophe oder gar ein Zeichen schlechter Elternschaft! Sie beide haben sich den schlechten Start sicher nicht ausgesucht, es geht daher niemals um Schuld, sondern um Lösungen! In diesem Sinne: alles Gute für Sie! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 11.02.2016


Antwort auf: Schreibaby ein Leben lang?

Ich hab deine Geschichte gerade gelesen und sie erinnerte so an die Zeit als meine Tochter noch klein war. Sie war ein Schreikind und das fast ein Jahr lang. Sie hatte wie deine Tochter grobmotorische Probleme, sie aß erst mit gut einem Jahr feste Nahrung oder überhaupt etwas anderes als Milch. Die Trotzzeit so zwischen 2 und 4 Geburtstag war eine Katastrophe, ungefähr so wie du es beschrieben hast. Mit dem Schulalter wurde es etwas besser, obwohl sie immer noch viel Aufmerksamkeit brauchte und sich einfach nicht alleine beschäftigen konnte und schnell sehr weinerlich wurde. Sie ist heute 12 Jahre alt. Sie ist immer noch sehr anhänglich. Sie ist viel unselbstständiger als andere Kinder in ihrem Alter. Sie kann sich immer noch nicht alleine beschäftigen (Computer und Fernsehen mal ausgenommen). Sie schafft es nicht Freunde anzurufen und sich mit ihnen zu treffen, sie braucht bei sehr vielen Dingen Hilfe. Und zu dem ganzen kommt jetzt auch noch die Pubertät dazu. Ich wurde damals sehr lange in einer Schreiambulanz betreut (fast drei Jahre lang) und da meine Tochter wirklich ein Kind war das sehr lange schrie wurde mir schon gesagt das sich das auch auf später auswirken kann. Es kann sein das sie immer etwas anders oder langsamer ist als andere (Kann - muss aber nicht). Ich kann inzwischen sehr gut damit umgehen. Schwierig waren so die ersten 8 Jahre, ab da wurde es besser, ob es da an mir lag oder an meiner Tochter weiß ich nicht, es wurde einfach besser. Auch das Verhältnis zwischen uns beiden wurde besser. Eine Kuschlerin war sie nie und wird sie auch nie sein, Körperkontakt ist nicht das ihre, das musste ich damals in der Ambulanz mühsam lernen, das mein Kind den direkten Kontakt nicht mag. Es tut mir heute oft noch weh, das ich sie nicht einmal in den Arm nehmen kann oder sie mir mal ein Bussi gibt, aber sie halt so. Ihr schwieriger Start hat eindeutig ihr Leben geprägt und die ganze Familie musste lernen damit um zu gehen. Ich wünsch dir alles erdenklich gut. In schlimmen Zeiten tat es mir gut wenn ich wusste das ich nicht alleine bin. Hol dir Hilfe, das ist keine Schwäche das ist Stärke wenn du das machst. Du wirst dort lernen deine Tochter besser zu verstehen. Lg Gabi PS: ich hab nach meiner Tochter noch zwei Söhne bekommen (keine Schreikinder zum Glück) und die sind wenn sie nicht zu Hause sind auch die liebsten Engel, kaum kommt die Mama ist der Teufel los und ich kann mir ständig anhören, als du nicht da warst waren die soooo brav. Das ist das Los als Mutter.

von Gabi1981 am 23.02.2016, 20:24