abendliches Schreien wird immer länger

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: abendliches Schreien wird immer länger

Guten Morgen Frau Dr. Bentz, unsere Tochter (7 Wochen) schreit seit etwa 14 Tagen jeden Abend mehrere Stunden fast pausenlos. zwischen 17 und 19 Uhr fängt sie an, unruhig zu werden und ist dann bis Mitternacht und länger nicht zu beruhigen. Anfangs waren es vereinzelte Abende, an denen sie vermehrt Blähungen hatte oder auch mit dem Stuhlgang gekämpft hat. Mittlerweile ist es aber jeden Abend so und die Schreizeit verlängert sich. Sie scheint auch noch mit Blähungen zu kämpfen, allerdings scheinen die erst dann zu kommen, wenn sie sich bereits in Rage geschrien hat. Außerdem hat sie vermehrt Hunger, sodass ich neben dem Stillen auch Pre-Milch gebe. Wir haben es bereits mit Fencheltee und Sab Simplex versucht, um die Blähungen zu lindern.Tagsüber trage ich sie viel im Tragetuch und gehe mit ihr spazieren. Unser Tagesablauf ist recht ruhig, Einkaufen, Arztbesuche etc. verteile ich auf mehrere Tage. Am Abend haben wir bereits Fliegergriff und Tragen, Beinbewegungen und Bauchmassage, ruhige Musik und Akupunkturpunkte im Gesicht massieren versucht, bisher hat nichts davon geholfen. Der Kinderarzt sagte, dass unsere Tochter erstmal in der Welt "ankommen" müsse und einfach noch verunsichert ist. Haben Sie noch einen Rat für uns? Herzliche Grüße, Tanja

von Tiffie am 01.02.2016, 09:00


Antwort auf: abendliches Schreien wird immer länger

Liebe Tanja, herrje, das kling wirklich nervenaufreibend und ich kann Ihre Sorge gut verstehen. Ich gehe mit der Meinung Ihres Kinderarztes nicht konform, auch wenn er Sie sicher nur beruhigen wollte. Sollte die Entwicklung so anhalten, erfüllt Ihre Tochter die Kriterien für exzessives Säuglingsschreien ( die sogen. 3-er Regel: 3 Stunden, an mind. 3 Tagen seit mind. 3 Wochen). Da dies ein Leitsymptom für eine frühkindliche Regulationsstörung ist, ist nicht Abwarten, sondern frühes Handeln wichtig. Ich möchte Ihnen keine Angst machen, doch leider ist es so, dass von vielen (ratlosen) Ärzten und Hebammen - zweifelsohne mit guten Absichten - verzweifeltenm Erkzern viel zu oft immer noch der Tipp gegeben wird, einfach abzuwarten. Dies ist jedoch falsch und verursacht unnötiges Leiden. Ich erlebe es in meiner Praxis immer wieder, dass Eltern sich erst sehr spät Rat einholen. Das bedeutet meist, dass sich das Problem sehr verfestigt und auf andere Kontexte ausgeweitet hat, Eltern völlig erschöpft sind, Bindungsprobelme auftreten, Ehen zerbrechen und der ganze Tag einfach nur eine ungeheure Belastung darstellt. Das muss aber gar nicht sein! Regulationsstörungen bzw. exzessives Säuglingsschreien lässt sich gut behandeln und auch die Prognose ist sehr gut, sofern man rechtzeitig eingreift. Man kann das Ganze auch ganz nüchtern als Risiko-Abwägung betrachten: - Was wäre das Risiko des Nichtstuns? Eine - je nach Studie - bis zu 25 % Chance, dass die Regulationsstörung bis zum 4. Monat und eine ca. 5-10% Chance, dass das Schreien über den 6. Monat hinaus anhällt und damit ein stark erhöhtes Risiko für weitere Regulationsschwierigkeiten in Kindheit und Jugend. - Was wäre das Risiko eines Erstgespräches in einer Schreiambulanz, einem Sozialpädiatrischen Zentrum, bei einem Kinder- und Jungendpsychotherapeuten? Zeit, etwas Überwindung und im schlimmsten Fall die Erkenntniss, dass man "überreagiert" hat und wirklich abwarten kann. Sie sehen, ich bin bei diesem Thema emotional sehr engagiert und bitte das zu verzeihen. An dieser Stelle möchte ich einfach aufklären. Wie man an diesem Forum sieht, sind viele Eltern in einer ebenso verzweifelten Lage wie Sie - und viele davon unnötig lange. Also mein Rat: Sie müssen nicht in Panik verfallen, sollten Sie aber vor Ort Hilfe bei entsprechenden Kollegen holen. Vielleicht recherchieren Sie mal im Internet oder fragen bei den Frühen Hilfen, dem Jugendamt oder dem örtlichen Kinderschützbund nach entsprechenden Adressen, sofern es bei Ihnen keine passende Einrichtung an einer Kinderklinik gibt. Vorbereitend können Sie schon mal anfangen, ein 24-h-Protokoll zu führen (Vorlagen dafür gibt es im Netz), Wichtig ist zudem, dass Sie sich vom Druck befreien, das Schreien sofort abstellen zu können. Das verführt nur dazu, alles Mögliche auszuprobieren. Viel wichtiger ist es, dass Sie versuchen, die abendlichen Schreiphasen möglichst gut zu überstehen und ruhig zu bleiben! Anstatt weiterer Reize durch Tragen, Schuckeln, Ablenken etc. empfehle ich das begleitete Schreien. d.h. Legen sich sich abend zu einer festen Zeit hin (gedanklich die Zeit abhaken und einen Zeitplan für die Ablöse machen). Kuscheln Sie sich neben Ihr Baby und machen Sie es sich möglichst bequem. Ihr Kind soll Sie spüren, aber ansonsten sollten Ihre elterlichen Maßnahmen sehr stark reduziert werden (also nur Hand auf den Bauch oder Wange streicheln ODER leise sprechen). Atmen Sie ruhig und hörbar. Versuchen Sie ganz bewusst, alle Muskeln zu lösen und sich zu entkrampfen. Dabei hilft vielen der Gebrauch von (Profi-)Ohrenstöpseln und/oder Kopfhörern, die die schrillen Obertöne dämpfen. Ihr Kind werden Sie trotzdem hören! Warten Sie generell nicht, bis Ihr Baby total erschöpft, überreizt und übermüdet ist. Manche Kinder senden eben keine eindeutigen Signale und / oder spüren Ihre eigene Müdigkeit erst, wenn es zu spät ist. Die meisten sind dabei Meister darin, sich selbst zu überfordern und immer wieder abzulenken, bis gar nichts mehr geht. Sie müssen quasi zu Ruhepausen (alle 1 bis 1,5 h) mit deutlicher Reizreduktion "gezwungen" werden. Sie als Eltern sind der Taktgeber. Wichtig wäre mir jedoch, dass Sie sich zumindest einmal an eine(n) KollegenIn vor Ort für eine prfessionelle Einschätzung wenden. Ich kann hier ja nur vermuten und sehe weder Sie noch Ihr Kind! Täglich bis zu sieben Stunden Schreien ist allerdings wirklich eine Idikation. Warum sollten Sie dies allein auf ungewisse Zeit aushalten? Ich wünsche Ihnen abschließend viel Kraft, Zuversicht und Mut! Sie werden sicher viel schneller wieder schöne Zeiten erleben, als Sie sich jetzt vielleicht vorstellen können! Es ist Zeit zum Handeln, nicht zum Verzweifeln! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 04.02.2016


Antwort auf: abendliches Schreien wird immer länger

Hallo Frau Dr. Bentz, ich danke Ihnen herzlich für Ihren ausführlichen Rat und kann Ihnen eine positive Rückmeldung geben: Das Beruhigen klappt inzwischen sehr viel besser. Mit dem Protokoll ließen sich im Alltag einige Dinge finden, die für unsere Tochter scheinbar mehr Stress bedeuten als gedacht. Auch das begleitete Schreien half nach ein paar Abenden merklich. Vielen Dank für Ihre Hilfe!

von Tiffie am 19.02.2016, 09:14