Sehr geehrter Dr. Posth,
ich lese schon länger bei Ihnen im Forum und würde gerne Ihre Meinung zu einer Thematik wissen, die mich interessiert. Ich hoffe, es ist nicht lächerlich...aber könnte es sein, dass Kinder, welche "forumsgerecht" oder nach dem Attachment-Parenting erzogen werden, später mit dem Sprechen beginnen, weil die Beziehung zwischen Mutter und Kind oft reibungsloser und auch ohne "vieler" Worte seitens des Kindes funktioniert? Wenn es nicht lernen muss zu schreien, bis seine Signale erhöhrt werden? Und andersrum Kinder, die viel schreien und Zeitaufschub hinnehmen mussten, gewillter sind, die Sprache zu erlernen, damit man sie endlich erhört? Ich weiß auch, dass Sprache genetische Faktoren besitzt, aber könnte es vielleicht einen Zusammenhang geben? Übrigens vielen Dank für Ihre tolle Arbeit. Viele Grüße
von
DeniseBecker
am 25.11.2013, 08:47
Antwort auf:
Zusammenhang Sprachentwicklung und Erziehungsstil?
Hallo, worauf Sie anspielen, ist ein überkommende, nicht mehr gültige Auffassung von einer Defizit- oder Mangeltheorie, die besagt, dass wenn ein Säugling oder Kleinkind irgendwie unbefriedigt bleibt, es gezwungen ist, sich schneller zu entwickeln und seine Fähigkeiten zu verbessern. Folglich ist man hingegangen und diesen Mangel emotional und auch rein materiell bewusst und gezielt erzeugt. Aber die Bindungstheorie hat diese Vorstellung vollkommen widerlegt. Erst das Vertrauen in die Bindungspersonen und die sicheren Bindungsverhältnisse sind die Garanten dafür, dass sich die Fähigkeiten optimal entwickeln, sofern nicht die Konstitution dagegenspricht. Das hängt damit zusammen, dass die Lebensituation des Säuglings und Kleinkinds völlig anders ist, als die eines großen Kindes oder erwachsenen Menschen. In diesem Alter kann Reibung fruchtbar sein und den menschen zu einer Anstrengung veranlassen, die er sonst vielleicht nicht bringen würde. Aber bei einem nlch vollkommen abhängigen und hilflosen Wesen funktioniert dieser Mechanismus nicht. Im Gegenteil, er löst das Gefühl aus verlassen und ungeliebt zu sein, und das widerspricht dem Prinzip der emotionalen Integration (s. meine ersten Langtexte hier auf der Seite). Die Absicherung des Säuglings in der Mutter-Kind-Dyade, die Überstimmung der Gefühle beider Bindungspartner und das dabei wachsende Selbst als in sich zusammenhängendes und in der Umwelt wirkungsvolles Konstrukt das Ichs sind die Grundvoraussetzungen für das zeitgerecht anspringen der Entwicklungsschritte. Die Entwicklung wird also dadurhc nicht verzögert oder behindert, sondern verbessert und beschleunigt. Der Entwicklungsdrang ist ja von Natur aus gegeben und genetisch einprogrammiert. Da bedarf es keines Defizits und keiner gezielten Herausforderung durch Verzögerung in der Bedürfnisbefriedigung. Übrings, Ihre Frage ist alles andere als lächerlich, sie ist eine eminent wichtige Frage. Viele Grüße und danke für Ihr Lob.
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 28.11.2013