hallo dr. posth.
bei unserm ersten sohn (3jahre u.4monate) haben wir als baby ihn ab und an schreien lassen. wenn wir spazierengingen und er als baby fing im kinderwagen an zu schreien, dann sind wir weitergefahren. nach dem motto, fahren beruhigt. kam aber nicht so oft vor. wir kamen merkwürdigerweise gar nicht auf die idee, ihn rauszunehmen. warum auch immer??? heute unvorstellbar. gleiches nachts, als er alle halbe stunde kam mit 9 Mon. hatten gelesen, dass man das "so macht". 2 nächte dauerte das (3/4 std) , dann schlief er durch. heute: unvorstellbar! mache mir jetzt sorgen, was es bei ihm für einen schaden (gleich welcher art) ausgelöst haben könnte? was kann passiert ein und wie erkenn ichs?
p.s. er darf aber schon seit etlicher zeit zu uns ins bett. er ist ein nettes kind, hatte keine probleme mit der eingewöhnung im kiga und ist ganz lieb. man lernt dazu...bei unserem baby machen wir natürlich auch alles anders...bin im nachhinein so traurig...:-(
gruss valerie
von
viperk
am 25.07.2011, 10:27
Antwort auf:
wieviel und welcher schaden entsteht durch schreienlassen?
Stichwort: Bindungsstörung
Liebe Valerie, Ihnen ergeht es nicht anders als vielen anderen Eltern, die weil sie es nicht richtig beurteilen konnten oder erschöpft waren, auf den schlechten Rat anderer Eltern oder "erziehungswütiger" PädagogInnen gehört haben. Aber es gibt Trost. Erstens sind nicht alle Kinder gleich empfindlich. Das bezeichnet man heute als seelische Widerstandskraft oder Resilienz. Sie ist so ähnlich zu verstehen wie die Resistenz im körperlichen Bereich. Das heißt also, dieses Kind verkraftet mehr seelische Belastung als ein anderes ohne mit Störungsverhalten darauf zu reagieren. Auch Langzeitfolgen bleiben bei diesen Kinder sicherer aus. Darüber gibt es Studien (z.B. die Mannheimer Längsschnittstudie von Prof. M. Laucht). Warum das so ist, ist schwer zu verstehen.
Zweitens: viele Eltern lassen sich falsch beraten und brechen kurzfristig ein. Dann aber merken an der von Hilflosigkeit und Angst gezeichneten Reaktion ihrer Säuglinge und Kleinkinder, dass es nicht in Ordnung ist, was ihnen geraten worden ist und was sie tun. Sie brechen es ab und machen es wieder so, wie es Ihnen Ihre empathische Empfindung vorgibt. Die Kinder gehen dann in eine Regression (s. gezielter Suchlauf), berappeln sich innerlich dadurch und bauen ihren Stress ab. Schließlich machen diese Eltern Ihren Kindern dann noch gute Angebote zum Erhalt der Bindung, genaus so wie Sie, und verhindern damit Verhaltensstörungen. So passiert letztendlich viel weniger als zu erwarten wäre.
Was aber passiert genau im Gehirn? Der negative Stress, herrührend aus Angst und Verzweiflung, wird im Gehirn gespeichert als Erfahrung mit der Lebensumwelt. Das Zentrum hierfür erforscht man gerade. Es ist das "Bestrafungssystem", das seine Zentren offenbar im Epithalamus (Habenulae) hat. Man weiß aus der Depressionsforschung, dass Störungen im Epithalamus u.a. ursächlich an der psychischen Erkrankung beteiligt sind. Serotoninrezeptoren spielen dabei ein große Rolle, aber auch Dopaminrezeptoren. Letztere sind eminent wichtig für das gegenteilige Belohnungssystem, das durch Zuwendung Beruhigung und Geborgenheit aktiviert wird (Mittelhirn - vord. Basalganglien-Schiene oder mesolimbisch-mesokortikales System). Dieses wird durch zu hohen Negativstress gehemmt und seine Rezeptoren nehmen Schaden. Schäden im Dopamin-Transporter-System kennzeichnen die ADHS. Man muss dazu sagen, dass die beiden Systeme ihre Konsolidierung im dem das Bewusstsein erweckenden Frontalhirn erfahren. Also alles, was sich da in den Netzwerken des Gehirns abbildet zeigt eines Tages seine Auswirkungen auf das menschliche Bewusstsein. Das Problem beim Stress ist, dass ständiges Aussetzen diesem Stress nicht zur Toleranz führt, sondern zu einer Senkung der Stress-Schwelle. Das Kind wird also Stress-intoleranter.
Aber Sie machen ja jetzt so viel wieder gut. Das wird sich günstig auswirken. Ich spreche ja immer von dem berühmten Nettoeffekt. So wie beim Bankkonto. Wer viel einzahlt, kann auch einiges abheben, ohne das gleich ein Minus vor dem Saldo steht. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 27.07.2011