Frage: Vollzeitbetreuung

Lieber Herr Dr. Post, am 03.12.2004 wurde meine kleine Tochter geboren. Leider kann keiner von uns bei ihr zuhause bleiben. Nach dem Mutterschutz bin ich daher bereits seit dem 23. Feb wieder Vollzeit beschäftigt. Um meiner Tochter aber eine gute Betreuung zu ermöglichen, sind wir in die Nähe meiner Eltern gezogen (90 KM vom Dienstort). Meine Eltern können sich so um sie kümmern während wir arbeiten. Keine Frage-sie haben viel Spaß und unserem Schatz geht es bestens! Nun mache ich mir große Sorgen, dass sie bald lieber bei den Großeltern ist, als bei uns. Denn ist sie ja den ganzen Tag dort! Was kann ich tun, damit sie sich auch wieder auf ihr zuhause freut? Diese Fragen sind vorbeugend, denn sie ist ein sehr gut entwickeltes, glückliches Kind! Aber ich mache mir sehr große Sorgen und Vorwürfe, dass ich sie viel zu früh allein gelassen habe! Ich denke, dass Sie uns aufgrund Ihrer Erfahrungen sagen können, ob dieses frühe "Abgeben" sogar Spätfolgen nach sich zieht? M

Mitglied inaktiv - 28.06.2005, 08:22



Antwort auf: Vollzeitbetreuung

Hallo, Sie sprechen da einen sehr schwierigen Bereich an, der in der gesamten Gesellschaft äußerst kontrovers diskutiert wird. Während die einen behaupten, frühe Fremdberteuung störe die seelische Entwicklung eines Kindes so gut wie gar nicht, sagen die anderen, sie sei das Schlimmste, was man einem Säugling und Kleinkind antun kann. Bei diesen Stellungnahmen muß man sehr genau hinblicken, wer da argumentiert und aus welchem Grund er seine Aussagen trifft. Interessant ist, daß die schärfsten Argumente häufig von Menschen kommen, die von der Entwicklungspsychologie eines Säuglings und Kleinkindes so gut wie keine Ahnung haben. Allenfalls hier und da mal etwas gehört oder gelesen haben. Und es sind sehr oft auch Menschen, die keine eigenen Kinder haben. Von diesen Menschen finden sich, wie mir scheint, auffallend viele in der Politik wieder. Das wirft ein Schlaglicht auf die Interessenslage des argumentativen Hintergrundes. Aber es stecken auch handfeste Eigeninteressen dahinter, vor allem, was die Argumentierung pro frühe Fremdbetreuung anbelangt. Von den eigentlich betroffenen, den Säuglingen und Kleinkindern spricht man wenig oder gar nicht. Oder man unterstellt dieser Altersgruppe Kompetenzen, die man für die Rechtfertigung der eigenen Argumente braucht und verweist mit großer Geste auf das Ausland, wo diesbezüglich alles viel besser liefe. Aber was regelmäßig fehlt, sind die wirklich objektiven Studien, die das belegen können. Hingegen gibt es viele eindeutige Studien, die auf das hohe Risiko für die seelische Gesundheit eines Kindes hinweisen, das früher Fremdbetreuung ausgesetzt war (s.z.B. M. Dornes, Soziologe an der Universität Kassel in: Die Frühe Kindheit, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.) Die Gründe für frühe Fremdbetreuung sind mir hinlänglich bekannt und in gewisser Weise durchaus einsichtig. Hier im Forum versuche ich darzustellen, wie man damit auf möglichst unschädliche Weise für das Kind damit umgeht. Aber das alles ist ja unsere Erwachsenensicht. Grundsätzlich gehört ein Kind in eine intakte Familie. Der Säugling und das Kleinkind sind angewiesen auf eine sichere Bindung und eine gelingende Loslösung, damit sie zu einem individuellen und ausgewogenen Selbst gelangen können, das sie dann durch´s Leben trägt (mein Credo, für das ich hier arbeite!). Großeltern können, und jetzt komme ich auf Ihre Frage, wesentliche Teile dieser Aufgabe übernehmen, aber schnell für den Preis, daß die Bedeutung der Eltern für das Kind in den Hintergrund tritt. Das ist schwer für die Eltern, aber unvermeidlich. Wenn jedoch auf diese Weise die Grundschritte der Selbstentwicklung weitgehend störungsfrei und letztlich erfolgreich ablaufen, hat ein solches Kind ein absolut gute Prognose. Nur wenn die eigentlichen Eltern mit den Ersatzbezugspersonen zu konkurrieren anfangen, wird des schwer für das Kind und die Aussichten verschlechtern sich. Ich habe auf Ihre Frage jetzt etwas allgemeiner geantwortet, weil es mir wichtig erschien, die Verhältnisse offen und möglichst ideologisch unverfälscht darzustellen. Ihre persönliche Antwort ergibt sich aber daraus ohne Schwierigkeiten. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 02.07.2005