Frage: unterschiedliche Meinungen

Hallo Dr. Posth, ich habe ein etwas anderes Anliegen an Sie: Vielleicht haben Sie es schon mitbekommen, dass in dem Forum von Dr. Busse so einige "Machtkämpfe" ausgetragen werden, z.B.: http://www.rund-ums-baby.de/kinderarzt/beitrag.htm?id=292378 Da Sie anscheinend oft zitiert werden, können Sie eventuell der Einzige sein, der die Gemüter beruhigen kann, denn so macht es kein Spass mehr. Ich finde es auch RICHTIG, dass Dr. Busse auf das Ganze nicht eingeht, den sonst wird es auf einer persönlicheren Ebene ausgetragen! Mittlerweile geht es nicht mehr darum "Kinder schreien lassen, ja oder nein" sondern dass es unterschiedliche Meinungen gibt, die doch bitte TOLERIERT werden sollen. Natürlich wäre es Schade, wenn es dazu kommt, dass nur der Arzt auf die Frage antworten darf, aber es soll dabei bleiben, dass die Damen doch einfach ihre Meinung sagen können und es soll nicht in so einem Chaos enden. Es würde mich freuen, wenn Sie sich dazu äußern können. Vielen Dank in Voraus Liebe Grüße!

Mitglied inaktiv - 16.08.2010, 11:09



Antwort auf: unterschiedliche Meinungen

Stichwort: Familie, Gesellschaft und Mutterrolle Hallo, ausnahmsweise ziehe ich Ihre Frage vor, weil ich mich gerade ein bisschen durch den Wust an Fragen und Antworten geklickt habe, der im Nachbarforum vom Kollegen Busse zum Thema Schlafen von Säuglingen und Kleinkindern zustande gekommen ist. Grundsätzlich nehme ich zu den Meinungen in den Nachbarforen hier keine Stellung. Das wäre für die qualitativ hervorragende Internetseite www.rund-ums-baby.de absolut kontraproduktiv. Und seien Sie versichert: es gibt im deutschsprachigen Raum kein anderes so versiertes Forum zu Fragen um das Großziehen von Kindern wie dieses, insbesondere deswegen, weil Sie als Eltern zu allen Fragen auf einfachste (niedrigschwellige heißt das jetzt!) Weise und zu jeder Zeit von Fachleuten (nicht Journalisten oder anderen Eltern usw.) aufschlussreiche Antworten bekommen. Wo gibt es das sonst? Das Thema Schlafen ist - wie man sagt - hoch besetzt. Der Grund ist, dass frühkindliche Bedürfnisse und elterliches Interesse auf oft schmerzliche Weise aufeinanderprallen. Das war schon immer so, und so gibt es zahllose Versionen in der Menschheitsgeschichte bis in die Neuzeit hinein, wie man mit diesem Problem am besten umgeht. Mal stand dabei das kindliche Interesse absolut im Vordergrund, mal das elterliche. Es spricht aber viel dafür, dass gerade in der hoch zivilisatorischen Neuzeit, also unser aller Gegenwart, das Problem noch einmal ein großen Schub Brisanz dazu gewonnen hat. Denn die beruflichen Ansprüche an den einzelnen Menschen, inzwischen inklusive der Frauen durch angestrebte Vollbeschäftigung beider Geschlechter, sind so hoch geworden, dass am Bett des Kindes wach verlebte Nächte in keiner Weise mehr zum täglichen Arbeitspensum passen wollen. Das ist ein Zeit- und Gesellschaftsphänomen, dem nicht mehr ausgewichen werden kann. Die Folge ist, dass immer weniger Kinder geboren werden und die meisten Eltern es bei 1 Kind belassen. Wo liegt jetzt der Fehler, fragt man sich? Bei der gesellschaftlichen Entwicklung, die keinen Spielraum mehr lässt für Intensivbetreuung des wie auch immer schwierigen Kindes? Bei der geringen Belastbarkeit der Eltern? Oder bei den unverhältnismäßig hohen Ansprüchen eines Kindes? Und da spaltet sich die Gesellschaft auf in zwei mehr oder weniger klar unterscheidbare Lager. Einmal in die, die das Bedürfnis der Eltern gegen das kindliche aufrechnen und zu einer positiven Bilanz für sich selbst kommen. Will heißen: Eltern brauchen ihren Schlaf und haben ein Recht darauf. Und zum anderen in die, die das kindliche Bedürfnis weitgehend uneingeschränkt den eigenen Interessen voran stellen. In Wahrheit finden hier und da immer wieder Kompromisse statt. Die Wissenschaft sagt heutzutage eindeutig, dass ein zu hoher kindlicher Stress tags wie nachts ungünstige Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung hat. Und ein Kind längere Zeit dosiert und/oder ohne Abhilfe durch Körperkontakt wie Herumtragen und Schmusen schreien zu lassen, ist definitiv negativer Stress. Denn, was beim Kind in dieser Situation entsteht, ist Angst bis zum Zustand der Panik. Warum weiß man das erst jetzt? Man weiß es gar nicht erst jetzt, denn unendlich viele Mütter und vielleicht auch Väter haben schon immer gewusst, dass man Säuglinge und kleine Kinder nicht schreien lässt. Einige Völker wussten das besser als andere, was Soziologen und Ethnologen schon vor Jahrzehnten herausgefunden haben. Der Mensch steht durch dieses Wissen in einem ethischen Konflikt. Das ist nicht nur auf diesem Gebiet so. Solche ethischen Konflikte häufen sich, seit die Wissenschaft immer tiefer in die Vorgänge der menschlichen Natur vorstößt. Aber deswegen die Augen davor zuzumachen, hieße Vogel-Strauss-Politik anzuwenden. Das Gegenteil scheint mir richtig. Nämlich die Standpunkte klar rücken und nach Lösungen suchen. Manche Lösungen sind kompliziert und manchmal auch etwas schmerzlich für uns Erwachsene, wie z.B. der Abgleich zwischen kindlichem Interesse nach Bindung und Zuwendung und elterlichem Recht auf Erholung. Bindung ist übrigens nicht nur ein kindlicher Anspruch, sondern ein Naturgesetz im Rahmen der soziologischen Entwicklung des Menschen. In all diesen Fällen sollte aus humanitären Gründen immer das Recht und der Anspruch des Schwächeren vor dem des Stärkeren gehen. Frühere Ansichten hierzu, sagen wir die wilhelminische Ära bis nach dem zweiten Weltkrieg, haben es nahezu ausschließlich umgekehrt gesehen. Das Kind hat hinter den Ansprüchen der Erwachsenen in jedem Punkt zurückzustehen. Diese autoritäre Erziehungshaltung hat viel Unglück über die Menschheit gebracht. Der gegenteilige Weg muss freilich noch beweisen, dass er mehr Segen über die Menschheit bringt. Alle diese Fragen, und wie man innerlich dazu steht, beeinflussen die jeweilige Meinung, die einer vertritt, wenn es um Fragen geht, wie man mit einem nicht schlafenden könnenden und vor Angst schreienden Säugling umgeht, den seine Eltern nicht auf einfache Weise beruhigen wollen oder können. Gleiches gilt für trotzende Kleinkinder oder nicht gehorchende Schulkinder. Immer wieder steht die Frage im Raum, wie gehe ich mit dem widerspenstigen Geist des Kindes um und gewähre ich ihm prinzipiell Respekt oder nötige ich ihm Unterwürfigkeit und Gehorsam ab. Diese Frage hat sich schon J.-J. Rousseau in den Zeiten der beginnenden Aufklärung gestellt und ist in seinem "Emile" zu erstaunliche Erkenntnissen gekommen, die sicher auch heute noch von Bedeutung sind. Ich vertrete hier in meinem Forum (wie auch in meinen Büchern)- wie hinlänglich bekannt ist - einen Standpunkt, der das emotionale und psychosoziale Wohl des Kindes stets im Auge hat und von den Eltern diesen gerade beschworenen Respekt vor der Entwicklung des Kindes erwartet, weil es für mich das Wichtigste im Leben eines Menschen ist, einem anderen Menschen das Leben zu schenken und ihn großzuziehen. Alles andere, ob persönliche Bequemlichkeit oder Erholungsbedürftigkeit oder gesellschaftliche Ausrichtung auf welches System auch immer, stehen dahinter an. Das heißt nicht, dass sie keine Beachtung fänden. Im Gegenteil, der befriedigende Abgleich der Interessen aller Beteiligten muss erfolgen, schon allein, damit das Kind von zufriedenen Eltern großgezogen wird und in eine Gesellschaft hinein lebt, die Gerechtigkeit und Frieden auf ihre Fahnen schreibt. Hier wären wir bei der von Ihnen brechtigterweise geforderten Toleranz. Andere Meinungen sind akzeptiert und ein Anlass zur Auseinandersetzung. Das ist Streitkultur, wie sie eine Demokratie reich macht. Auch in der anderen Meinung könnte ja eine bisher nicht beachtete Wahrheit stecken. Erweist sich aber, dass Wahrheit zugleich Unterdrückung von Interessen Schwächerer bedeutet, ist Skepsis geboten und damit verbunden das klare Statement einer Verneinung. Auch das gehört zur Streitkultur und zu dem Wunsch des Meinungsstärkeren, durch gewichtige Argumente Recht haben zu wollen. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 18.08.2010



Antwort auf: unterschiedliche Meinungen

Hallo an alle, schön, dass meine Antwort ein so großes Echo ausgelöst hat. Auch wenn ich nicht immer richtig verstanden worden bin, so ist doch klar geworden, dass Standpunkte besser offen ausgetragen werden sollten, als sich mit seiner Meinung voller Groll von der Bühne abzuwenden. Auf die Feinheiten in der Argumentation des Anderen zu achten, beugt Missverständnissen vor. Das nehme auch ich für mich in Anspruch. So ist mit dem Wort "Lager" keine gesellschaftspolitische Haltung gemeint, sondern ein Ort für bestimmte Meinungen. Diese Formulierung lässt die deutsche Sprache zu. Auch möchte ich keineswegs zwischen Kindern und Eltern polarisieren, sondern im Gegenteil, einen Interessensausgleich herstellen, der beiden etwas bringt. Ich selbst weiß nur zu gut, wie anstrengend es ist, Kinder großzuziehen. Und mit den Fehlern die dabei passieren können und dann auch zu nicht unerheblichen Auswirkungen im Verhalten der Kinder führen, werde ich ja tagtäglich in meiner Praxis und hier im Forum konfrontiert. Worum es mir in der Hauptsache geht, ist durch richtige Beratung der Eltern Verschlimmerungen zu verhüten. Wenn es geht, will ich so beraten, dass Verhaltensauffälligkeiten und -störungen gar nicht erst entstehen. Die Eltern habe ich dabei immer mit im Blick und die gesellschaftlichen Schwierigkeiten sind mir wohl bewusst. In beiden Büchern habe ich gerade dazu am Schluss immer ein etwas längeres Kapitel geschreiben (ein Unterfangen, dass die meisten anderen Autoren in Beratungsbüchern gerne umgehen). Noch einmal viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 20.08.2010