Störungsbild ADHS ADHS ist das Akronym für AufmersamkeitsDefizit-Hyperkinetisches-Syndrom. Im Volksmund heißt das Störungsbild auch das Zappelphilipp-Syndrom. Betroffen sind Menschen vom Kleinkindalter bis zum Erwachsensein. Das bedeutet, dass sich die Störungen nicht immer in der Pubertät verlieren. Besonders auffällig werden die Kinder im Schulalter. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie überaus lebhaft und zappelig (also hypermotorisch) sind, nicht zuhören und sich schlecht konzentrieren können (aufmerksamkeitsgestört), sprunghaft in ihrem Denken und Handeln sind und stark impulsive Reaktionen zeigen (sich also nicht beherrschen können). Gleichzeitig sind sie stimmungslabil und oft missmutig. Zum diesem nervösen, unruhigen und impulsiven Typ gibt es auch ein Gegenstück, den Träumer-Typ. Die Träumer (ADS) sind eher still, wie abwesend, hören nicht zu, sind unorganisiert, finden sich in der Umgebung nicht zurecht, trödeln und passen in der Schule schlecht auf. Wollte man auch für diese Kinder Heinrich Hoffmann mit seinem Struwwelpeter bemühen, dann käme für sie am besten der Hans-guck-in-die-Luft infrage. Der praktische Arzt H. Hoffmann war aber nur ein guter Beobachter von typisch kindlichen Verhaltensweisen und hatte damals mit seinem Buch lediglich allgemeine, pädagogische Hinweise für Eltern geben wollen. Die Frage, ob ADHS oder ADS in den letzten Jahren tatsächlich stark zugenommen haben oder nur sehr viel häufiger diagnostiziert werden, ist unbeantwortet. Solche kindlichen Verhaltensauffälligkeiten hat es aber, Hoffmann sei der Beweis, schon immer gegeben. Beide relativ häufigen Störungsbilder im Kleinkind- und Schulalter spiegeln Verhaltensweisen wider, die in abgeschwächter Form auch bei völlig normalen Kindern vorkommen. Das macht die Diagnosestellung oft recht schwierig. Denn es gibt bis heute keine absolut sicheren, d.h. trennscharfen Unterscheidungskriterien zwischen „noch normal“ und „schon auffällig“. Die Erforschung des Störungsbildes hat ergeben, dass wenigstens ein Teil der ADHS-auffälligen Kinder genetische, d.h. erbliche Anlagen für dieses Störungsbild besitzt. Diese genetisch bedingte Ursache betrifft spezielle Dopamin-Transporterstörungen im Stirnhirn, wo alle hochdifferenzierten geistigen, emotionalen und sozialen Prozesse gesteuert werden. Diskutiert werden derzeit aber auch erworbene Rezeptorstörungen im Dopaminsystem, die durch falschen Umgang mit unruhigen und viel schreienden Säuglingen verursacht worden sind. Hinweise aus Tierversuchen legen diese Entstehungsmöglichkeit nahe. Auch eine Kombination aus genetischer Veranlagung und falscher Behandlung in der Säuglingszeit könnte als Ursache für das spätere Störungsbild infrage kommen. Als nach heutigem Kenntnisstand sicher kann gelten, dass eine ungünstige psychosoziale Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes grundsätzlich ein höheres Risiko für eine spätere ADHS-Symptomatik darstellt, unabhängig davon, ob Anlagefaktoren vorhanden sind oder nicht. Die hieraus resultierende ADHS-Symptomatik ist regelmäßig mit problematischem Sozialverhalten gekoppelt. Dabei stehen aggressiv-oppositionelle Verhaltensweisen im Vordergrund. Medizinisch-psychologisch spricht man von einem Hyperkinetischen-Syndrom mit gestörtem Sozialverhalten. Die Verhütung oder wenigstens Abmilderung von ADHS von Anbeginn spielt die entscheidende Rolle in der Behandlung (Primärprävention). Das bedeutet, dass bereits im Säuglingsalter auf verdächtige Verhaltensweisen zu achten ist. Als verdächtig gelten solche Säuglinge, die stark irritabel in ihrem Befindlichkeitszustand sind, d.h. schnell und ausdauernd schreien, schlecht schlafen, Fütterungsprobleme aufweisen und allgemein impulsive Reaktionen zeigen. In der Kinderheilkunde wurde für diese Verhaltensauffälligkeiten der Begriff Regulationsstörungen im frühen Kindesalter geschaffen. Ob das damit verbundene, vorgebliche Krankheitsbild auch tatsächlichen Krankheitswert besitzt, muß aber vorerst offen bleiben. Allzu schnell geraten auch etwas temperamentsschwierige Säuglinge in den Status krank zu sein. Immerhin ergibt sich aus solchen Beobachtungen eine Empfehlung für die Eltern, wie sie günstig mit ihrem schwierigen Säugling umgehen können. Zur Basisdiagnostik des ADHS gehört ein Instrumentarium aus Direktbeobachtung des Kindes und Fragebögen an Eltern, Lehrer(innen) und ab 10 Jahren aufwärts auch an die Betroffenen selber. Aus oben genannten Gründen wird außerdem die genaue Anamnese immer wichtiger. Wegen der möglichen genetischen Komponente ist immer auch die genaue Familienanamnese unerlässlich. Bekannte Fragebögen sind z.B. der CBCL, TRF/YSR, FBB-HKS/SBB-HKS und neuerdings der SDQ für Eltern, Lehrer und Erzieher. Als Verlaufsbeobachtung und v.a. auch zur Einschätzung der Wirksamkeit der Therapie benutzt man die Conner-Skalen. Die gesamte Diagnostik wird nicht nur durch den Graubereich zwischen noch normal und schon auffällig erschwert, sondern auch durch die möglichen psychischen und neurologischen Begleiterkrankungen. Ein ADHS ohne eine solche Begleiterkrankung ist die seltenere Variante. Sehr wichtig ist außerdem die exakte Abgrenzung gegen Verhaltensauffälligkeiten bei Intelligenzminderung und Wahrnehmungsstörungen (z.B. auditive Wahrnehmungsstörung). Bei schlechten Leistungen in der Schule ist immer an das Vorliegen von Teilleistungsstörungen zu denken, wie v.a. die Leserechtschreibschwäche (Legasthenie). Beim reinen ADS ist alternativ ein depressives Erscheinungsbild auszuschließen. Im neurologischen Bereich ist auf eine begleitende Tic-Störung zu achten. Die Therapie ist häufig noch umstrittener als im Einzelfall die Diagnose selbst. Es konkurrieren miteinander die Verhaltenstherapie und die medikamentöse Therapie. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie spielt eine eher untergeordnete Rolle. Wirksamer ist hier noch die interventionelle Elterngesprächstherapie mit direkter Beeinflussung des familiären Systems. Unter den Verhaltenstherapien hat sich das Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten, kurz THOPP, entwickelt von Prof. Döpfner an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Köln einen weithin bekannten Namen gemacht. Dagegen steht die rein medikamentöse Therapie mit Methylphenidat als der bekanntesten Substanz. Aber auch Amphetamin kommt (z.B. in den USA) zur Anwendung. Beides sind Substanzen aus dem Bereich der Psychostimulantien. Psychostimulantien wirken auf die Verfügbarkeit des Neurotransmitters Dopamin (s.o.) in der menschlichen Hirnrinde, insb. im Frontalhirn. Als ein weiteres wirkungsvolles Medikament hat sich in der letzten Zeit Atomoxetin erwiesen. Diese Substanz stammt aus dem pool der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und wirkt vornehmlich auf die Noradrenalin-Rezeptoren. Diese spielen eine besondere Rolle in der Aufmerksamkeitssteuerung des Gehirns. Auch der Antrieb wird positiv beeinflusst. Beide Substanzen besitzen nicht unerhebliche Nebenwirkungen, so dass die Nutzen-Risiko-Abwägung in jedem Behandlungsfall sorgfältig vorzunehmen ist. Andere Substanzen wie z.B. Pemolin sind hauptsächlich Ersatzmittel, die selten zur Anwendung gelangen. In den Gesellschaften für Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie hat man sich in der Behandlung des ADHS inzwischen auf die generelle Empfehlung zur multimodalen Behandlung geeinigt. Multimodal heißt, dass alle Behandlungsformen in aufeinander abgestimmter Form zum Einsatz gelangen sollen. Das heißt im Speziellen, dass medikamentöse Therapie und Psychotherapie sich ergänzen müssen und nur gemeinsam ein Behandlungsoptimum erzielen können. Ist also die Diagnose zweifelsfrei gestellt und ist der Belastungsgrad für die Umwelt wie auch in rückwirkend für das Kind selbst zu groß, wird eine Art Therapievertrag geschlossen, in dem genau festgelegt wird, wie vorzugehen ist. Es macht Sinn, die Wirksamkeit der Medikamente zunächst eine Zeitlang gegen ein Scheinmedikament zu testen. Es macht auch Sinn, die medikamentöse Therapie auf den jeweiligen Tagesbedarf abzustimmen und z.B. in klar als Freizeit definierten Zeiten abzusetzen. Die Wirkung der Therapie incl. der potenziellen Nebenwirkungen ist genau zu überwachen. Bei der Behandlung dürfen die psychischen Begleiterkrankungen nicht außer Acht gelassen werden. Insbesondere bei den das ADHS begleitenden aggressiv-oppositionellen Verhaltensstörungen (s.o., deutlich mehr als die Hälfte der Fälle) hat sich die Doppeltherapie von Medikament und Verhaltenstherapie der alleinigen medikamentösen Therapie als deutlich überlegen erwiesen.
von Dr. med. Rüdiger Posth am 11.08.2006