Störungsbild Angst Das Phänomen der Angst tritt schon im Säuglings- und Kleinkindalter auf. Inwieweit es in diesem Alter dem Normalverhalten zuzurechnen ist, ergibt sich aus dem Verständnis der Lebenssituation eines Säuglings. Ohne Zweifel hat das ängstliche Reagieren der Säuglinge und Kleinkinder auf natürliche Weise etwas mit einem Gefühl von Unsicherheit, Bedrohtsein und der Sorge vor einem Mangel an Geborgenheit in der Mutter-Kindbeziehung zu tun. Zwillingsstudien belegen aber, dass es auch eine genetische Veranlagung gibt, zumindest für die Intensität der Entwicklung von Angstgefühlen. Bis zu einem gewissen Grad erlebt also jeder Säugling Gefühle der Angst. Diese lassen sich in dem Begriff Ur- oder Stimmungsangst zusammenfassen. Sie rühren her aus der Vorgeschichte der Menschheit, verursacht durch die zahllosen Gefahren, denen der Mensch in seinem natürlichen Lebensraum ausgesetzt gewesen ist. Insofern übt Angst grundsätzlich immer auch eine Schutzfunktion für den Menschen aus. Durch die Absicherung des Säuglings in der Mutter-Kind-Dyade werden diese Urängste abgemildert und in angenehme Gefühle eines sicheren, sozialen Gebundenseins umgewandelt. Das oft unerklärliche Schreien des Säuglings ist Ausdruck dieser diffusen Angstgefühle, die Fähigkeit zur Beruhigung durch Zuwendung ein Zeichen für entstehende Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit. Dieses Gefühl wird auch als Urvertrauen bezeichnet. Noch im Säuglingsalter bekommt die Angst aber auch ein konkretes Gesicht in der Form, dass fremde Personen zunächst ängstlich betrachtet werden und erst nach Vertrauensentwicklung und Gewöhnung akzeptiert werden (Fremdelangst). Am Übergang zum Kleinkindalter entsteht eine neue Form der Angst, die sich in dem Trennungserleben von der primären Bezugsperson im Rahmen der beginnenden Loslösung widerspiegelt. Sie führt vorübergehend zu einer starken Anhänglichkeit an die Bezugsperson. Eine erzwungene Trennung kann Angstgefühle bis zur Panik auslösen. Im Kleinkindalter gesellt sich eine dritte Form der Angst dazu, die Objektangst oder „Furcht“. Diese bezieht sich nun auf reale Objekte und wird ausgelöst durch dingliche oder situative, aber immer reale Phänomene. Am Eindrücklichsten sind die Ängste vor bestimmten Tieren oder vor gefährlichen Naturereignissen. Aber auch unkalkulierbare physikalische Eigenschaften von Gegenständen wie das Hüpfen von Bällen oder das Platzen von Luftballons lösen Angstreaktionen aus. Vier Formen der Angst sind letztendlich im menschlichen Leben zu unterscheiden: die generalisierten Angstformen, die man auch als Erlebensangst bezeichnen könnte, die Objektängste oder phobischen Ängste, die mit dem Wort „Furcht vor…“ zutreffend zu bezeichnen sind, die Panikzustände oder Agora- und Klaustrophobien, die sich auf Flucht erschwerende, räumliche, oder auch situative Begebenheiten beziehen sowie die Verlust- und Trennungsängste, die einen ungewollten Beziehungsabbruch oder den Verlust geliebter Personen und Gegenstände charakterisieren. Trennungs- und Verlustängste gehören in den Bereich der Sozialängste, in dem sich auch die Schulphobie und die Prüfungsangst wiederfinden. Aus dieser Einteilung wird ersichtlich, dass Angst immer der seelische und körperliche Ausdruck einer realen oder vermeintlichen Gefahr für den Menschen ist. Insofern hat Angst ihr Gutes. Sie wird aber dann zum persönlichen und auch sozialen Problem, wenn sie das Lebensgefühl erheblich beeinträchtigt, die sozialen Kontakte einschränkt oder verunmöglicht und die Expansion der individuellen Persönlichkeit in erheblichem Maße beschränkt. Angstgefühle spielen sich auf drei Ebenen im Körper ab. Erstens auf der geistig-seelischen Ebene, die von einem diffusen, schwer erklärbaren Empfinden von Unbehagen und Bedrohung gekennzeichnet ist. Zweitens auf der körperlichen, die alle vegetativen Erscheinungen der Angst umfasst wie Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern, Atemstörungen (Hyperventilation), Benommenheit, Konzentrationsverlust, Harn- und sogar Stuhldrang usw. Schließlich gibt es noch die dritte Ebene, die des Verhaltens. Der von Angst befallene Mensch versucht zu flüchten, meidet die potentiell Angst auslösenden Situationen, Tiere und Menschen, zieht sich aus der Gesellschaft zurück oder sucht sich Hilfsmittel, mittels derer er die gefürchteten Situationen überstehen kann. Auch Kinder zeigen schon alle diese Angstsymptome, allerdings je nach dem von ihnen bis dahin erreichten Entwicklungsstadium. Ein sicher gebundenes Kind verliert dann seine Angst, wenn es sich in den Arm seiner primären Bezugsperson flüchten kann, oder sich von seinem Loslösungsvorbild oder einer akzeptierten Ersatzbezugsperson ausreichend beschützt fühlt. Aber auch viele phobische Ängste, wie die Dunkelangst, die Angst vor bestimmten Tieren, sowie auch die Trennungsangst und Verlustangst verlieren so ihren Schrecken. Im Schulalter und in der Adoleszenz nehmen alle Angstformen sehr viel kompliziertere Strukturen an und sind zunehmend im Selbst sowie in der Persönlichkeitsgestaltung des Kindes und Heranwachsenden verankert. Insbesondere die sozialen Ängste, zu denen die Schulangst oder die Auftrittsangst in der Gruppe gehört, werden zu einem großen Entwicklungsproblem. (Die Schulphobie ist im Gegensatz zur Schulangst die Angst vor der Schule und eine Form der Trennungsangst). Ein besonderes Problem in der frühen Kindheit stellen die imaginierten oder Phantasieängste dar, welche sich in dem Grusel vor Gespenstern, Monstern oder bösen Tieren äußern. Mit dieser kindlichen Neigung wird häufig pädagogischer Missbrauch getrieben. Von Natur aus ängstlich veranlagte Kinder sind ein leichtes Opfer solcher Einflüsse. Angstverhalten wird generell durch Lernen am Modell verstärkt. Auf dieser Grundlage basieren viele Empfehlungen an Eltern, auf die Ängste ihrer Kinder günstig einzuwirken. Ungünstig ist die Konstellation immer dann, wenn auch die Eltern von Ängsten geplagt sind und diese nicht mehr verbergen können. Therapeutische Interventionen zur Behandlung von zu starken Ängsten basieren im Wesentlichen auf verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Im Zentrum steht die Desensibilisierung in kleinen Schritten. Sie besteht in der Hauptsache darin, dass das Kind oder der Heranwachsende mit der ihn belastenden Situation oder dem Angst verursachenden Objekt durch eine Annäherung in kleinen Schritten konfrontiert wird. Die nächste Stufe wird immer erst dann genommen, wenn die vorausgehende bis zur inneren Beruhigung toleriert wird. Bei Kleinkindern sollte eine Hauptbezugsperson den Prozess begleiten. Im Schulalter kann das auch ein(e) Therapeut(in) übernehmen. Die harte Konfrontation mit der Angst auslösenden Situation oder dem Objekt, das so genannte flooding, ist eigentlich nur für Jugendliche und Erwachsene erprobt und setzt den ganzen physischen Einsatz des Therapeuten voraus. Er muß die Angst- oder Panikreaktion mit seinem Patienten bis zur inneren Beruhigung aushalten. Darüber hinaus gibt es noch kognitive Bewältigungsstrategien und gezielte Entspannungsübungen in der Konfrontation mit der spezifischen Angst. Als eine kurzzeitige, auf bestimmte Vorgänge oder Anlässe bezogene Behandlung der Angst gelten Psychopharmaka, allen voran die Tranquilizer und bestimmte Antidepressiva. Ihre Wirksamkeit ist unbestritten, die Gefahr der Abhängigkeit aber groß.
von Dr. med. Rüdiger Posth am 08.01.2007