Frage: Regulationsstörungen?

Sehr geehrter Herr Dr. Posth, unsere zweite Tochter, am 24. wird sie vier Monate alt, hat in ihren esten Wochen dazu tendiert, sich zu einem Schreibaby zu entwickeln. Also per definitionem: Mehr als drei Tage die Woche mehr als drei Stunden am Tag schreien oder/und unzufrieden sein. Wir haben wirklich unser Möglichstes gegeben, damit sie es nicht so schwer hat. Permanentes Tragen und nicht aufhörender Körperkontakt - Tag und Nacht. Geschrieen hat sie trotztdem aber wir haben sie immer aufgefangen und dieses Verhalten hat nicht Überhand genommen. Irgendwann wurde ihr Schreien differenzierter und richtige Schreiattaken kamen immer weniger vor, vor allem nicht so extrem. Nur ein Problem blieb nach wie vor: Sie liegt ungern, verspannt sich sehr nach einer gewissen Zeit und einschlafen kann sie extrem schwer, auch wenn ich sie immer trage (im Liegen hat sie es noch nicht geschafft, trotz meiner Bemühungen). Ich muß sagen, daß sie beim Trinken an der Brust sehr viel Luft schluckt, aber auch wenn sie Bäuerchen gemacht hat ist sehr unruhig und spuckt oft weiter. (Das nur am rande als möchliche Ursache der Unruhe.) Meine Frage ist dieses Verhalten die sogenannten Regulationsstörungen (scheint anscheinend ein Modewort und Erweiterung für die "guten alten Blähungen" zu sein), die sich nach dem dritten Monat wie von allene verflüchtigen oder liegt möglicherweise etwas anderes vor, daß man ernst nehmen sollte. Gibt es auch Therapien in diesem Zusammenhang? Wir haben das Problem unserer Kinderärztin bei der U4 beschrieben aber wie es so oft ist, waren wir nicht so ausführlich. Im nachhinein glaube ich, daß sie verstanden hat, unsere Tochter könne nicht alleine einschlafen. Das Problem ist, daß sie es auch in meiner Anwesenheit, in meinem Arm - mit Singen oder auch ohne, mit Schaukeln und Gehen und Tanzen oder auch ohne nicht tun kann. Sie kämpft verzweifelt aber es klappt nur sehr sehr schwer. Mit dem Liegen ist es ähnlich. Also abwarten und Tee trinken oder etwas tun? Vielen Dank für Ihre Antwort vorab! Dora

Mitglied inaktiv - 18.09.2003, 21:30



Antwort auf: Regulationsstörungen?

Liebe Nija, Ihre Antwort und die weiter oben auf "Schreiattacken" kann man im Prinzip zusammenfassen. Die Regulationsstörungstheorie ist die, auf die ich in der anderen Antwort versteckt anspiele. Sie stammt aus München von Fr. Prof. M.Papousek und ihren Mitarbeitern und hat das Verdienst, daß sie die einzige konkrete Bemühung im vergangenen Jahrzehnt gewesen ist, sich mit den problematischen Verhaltensweisen von Säuglingen auseinanderzusetzen. Ihr entstammt das Konzept der Schreiambulanzen, was sehr zu würdigen ist. Mein Vorstellung von der emotionalen Integration, einigermaßen klar nachzulesen in meinem Internetbeitrag über das emotionale Bewußtsein hier auf dieser Seite (link oben links), geht jedoch in eine andere Richtung und unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von nahezu allen anderen angebotenen Konzepten hier in Deutschland, z.B. auch in Hamburg von Frau R.Barth. Der Unterschied basiert hauptsächlich auf neurophysiologischen Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Was die Psychologie angeht, verweigere ich mich der Empfehlung, einen Säugling zu konditionieren, damit er lernt, seine inneren Körperzustände zu regulieren. Ich vertrete die Auffassung, daß es bei den problematischen Verhaltensweisen des Säuglings (das schwierige Temperament) letztlich nur um eine im Wesentlichen vorübergehende, emotionale Regulation von Unheimlichkeit (vor der Fremde) und Angst geht, welche allein im Verbund mit der primären Bezusperson ("Koregulation"), d.h. also in der Mutter-Kind-Dyade unschädlich zu lösen ist. Mein Auffassung geht weiter dahin, daß die dabei einsetzende Wandlung von Urangst in Urvertrauen und Unsicherheit in Geborgenheit im Säugling günstige Voraussetzungen schafft und mehrt, die nachfolgenden Problem in der Loslösung und im Trotz, als unabweisbare Erstehung des autonomen Selbst zu bewältigen. Das alles hat seine hirnphysiologischen Grundlagen in der Form, daß die am Anfang noch ungestaltete Masse an potentiellen synaptischen Verbindungen im Säuglingsgehirn nicht durch zielgerichtete Konditionierung (oder später auch Lernvorgänge), sondern nur durch positive Gefühle auf der Basis einer glückenden Eltern-Kind-Beziehung durch "Auslichtung" reduziert und damit lebensgerecht geformt wird. Die Empathie der primären (Mutter) und sekundären (Vater in der Loslösung) Bezugsperson und die damit im Gehirn ausgelösten positiven Empfindungen leisten dabei die entscheidende Arbeit. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 20.09.2003