Optimales Kindergarteneintrittsalter - Literatur zum Nachlesen

Dr. med. Rüdiger Posth Frage an Dr. med. Rüdiger Posth Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Frage: Optimales Kindergarteneintrittsalter - Literatur zum Nachlesen

Sehr geehrter Herr Dr. Posth, neulich sprachen Sie von einem optimalen Kindergarteneintrittsalter, welches entwicklungspsychologisch bedingt bei vier Jahren läge. Können Sie das näher erläutern? Was genau ist der Unterschied zu einem Dreijährigen? Können Sie mir Literatur nennen, wo ich das einmal genauer nachlesen kann bzw. mir entsprechende Stichworte nennen, womit ich selbst im Internet auf die Suche gehen kann? Bislang ergab meine Suche leider nichts. Vielen Dank und viele Grüße Petra

Mitglied inaktiv - 27.03.2006, 13:47



Antwort auf: Optimales Kindergarteneintrittsalter - Literatur zum Nachlesen

Kindergartenaufnahme wann? Liebe Petra, aus der pädagogischen Literatur kann ich Ihnen im Moment eigentlich nur die Broschüre von Joachim Bensel und Gabriele Haug-Schnabel mit dem Titel "Vom Säugling zum Schulkind - Entwicklungspsychologische Grundlagen empfehlen. Sie ist erschienen im Herder Verlag Freiburg. Das Problem ergibt sich daraus, daß der Zeitgeist nach früher Fremdbetreuung ruft und -häufig vorschnell- auf das Ausland verweist, wo angeblich alles viel besser läuft. Also das 4-Jahresmodell muß neu entdeckt werden (wie so manches in der Wissenschaft). Die Grenze zwischen 3 und 4 Jahren resultiert aus der kognitiven, d.h. geistigen Entwicklung des Kindes. In der Kognitionspsychologie hat sich sich eine Erkenntnis durchgesetzt, die widerspiegelt, ab wann ein Kind in der Lage ist, mentale Zustände, d.h. geistige Prozesse auch in jedem anderen Menschen zu verstehen (Theory of Mind). Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Kind gezwungen, immer davon auszugehen, daß alles, was es wahrnimmt und erlebt nur durch die eigene Brille gesehen werden kann. Es hat gar nicht verstanden, daß andere Menschen anders denken und erleben. War es selber fröhlich, hat es gemeint, daß alle anderen auch fröhlich sein müßten und gar nicht verstanden, wenn es anders war. War es wütend, dasselbe. Hatte es das Bedürfnis, die Mutter bei sich zu haben, mußte es davon ausgehen, daß dasselbe Bedürfnis auch bei der Mutter vorhanden ist und war aufgebracht, wenn die Mutter anders reagierte. Mit etwa 4Jahren nun ist das Selbst des Kindes so stark und die Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem eigenen Erleben der Dinge und dem der anders reagierenden Erwachsenen so weit voran geschritten, daß es den sogenannten Perspektivwechsel vollzieht. Recht aktuell hierzu sind die Untersuchungen von Doris Bischof-Köhler, z.B. in dem Buch "Kinder auf Zeitreise", Verlag Hans Huber. Dadurch und durch die jetzt einsetzende Fähigkeit, Gefühle zu verstehen und zu benennen, gelangt das Kind in die Lage, die eigenen Gefühle zu relativieren, mitzuteilen und zu dialogisieren (besprechen). In der Emotionspsychologie bezeichnet man das als Affekt- oder Selbstregulation. Hierdurch wächst das Selbstbewußtsein des Kindes ungemein und hieraus entspricht u.a. die Fähigkeit zu sozialkompetentem Verhalten. Machen wir ein Beispiel: Das 3jährige Kind wird zum erstenmal in den Ki-ga gebracht und soll dort ein paar Stunden ohne seine Mutter verbleiben. Wie lange die "paar Stunden" dauern, weiß das Kind noch nicht (unvollständiges Zeitgedächtnis), und daß seine Mutter überhaupt wiederkommt, kann es noch nicht abschätzen (unreifes Kausalgedächtnis/logische Zusammenhänge). Da es nicht allein bleiben will, empfindet es so, daß auch die Mutter es nicht allein lassen möchte. Es denkt noch absolut egozentrisch. Nun geht die Mutter plötzlich weg, und es fängt aus Gründen der folgerichtigen Trennungs- und Verlustangst an zu weinen. Jetzt müßte die Mutter ja sofort umkehren, denn das Weinen ist ja das Signal des Hilferufs. Sie kommt aber nicht zurück , und auf einmal sieht sich das Kind allein auf sich gestellt ganz fremden Menschen gegenüber in einer völlig unbekannten Situation (die wenigen Kennenlernensnachmittage sind noch keine feste Größe in seinem Gehirn). Was macht es nun? Ist es ein offensiv impulsives Kind mit einigermaßen sicherer Bindung wird es schmollen, vielleicht auch kurz Randale machen und sich dann in sein Schicksal fügen. Denn ein Kind ist enorm anpassungsfähig, damit es überleben kann. Handelt es sich um ein defensiv-introvertiertes Kind, wird es in stillem Kummer vor sich hin leiden und wahrscheinlich den ganzen Vormittag in der Ecke sitzen und an nichts teilnehmen. Solches Verhalten verstärkt sich bei Kindern mitvermeidend unsicherer Bindung. Die ambivalenten Kinder können dagegen richtig Terror machen, so daß sich die Erzieherin oft gezwungen sieht, die Mutter zu bitten, Ihr Kind wieder abzuholen. Kommt die Mutter zurück, wird das sicher gebundene Kind ihr um den Hals fallen und erleichtert sein, das ambívalent unsicher gebundene Kind wird auch der Mutter um den Hals fallen, aber nicht aufhören zu weinen oder zu schreien (schlimmstenfalls auf die Mutter einzuschlagen). Das vermeidend unsicher gebundene Kind wird die Mutter kaum ansehen und so tun, als wäre nichts Schlimmes passiert. Zwischen diesen drei Verhaltenstypen gibt es natürlich mannigfaltige Übergänge. Die Erzieherinnen werten den Anpassungsmechanismus des Kindes als erzieherischen Erfolg, der es aber mitnichten ist. Das 4jährige Kind ist am ersten Tag vielleicht auch nicht beglückt, in den Kindergarten zu kommen und von der Mutter verlassen zu werden. Es kann aber verstehen, daß die Mutter im Moment eine andere Gefühlslage und ein anderes Bedürfnis hat und sein eigenes Leid nicht 100% teilt. Dadurch kann es seine eigene Gefühlswelt besser verstehen und ordnen und sich sein Leiden bewahren, in dem es sich innerlich sagt: ich bin jetzt sauer oder traurig, weil mich die Mama verläßt und werde es ihr sagen, wennn sie zurück kommt. Es versteht ja auch viel besser, daß die Mutter zurück kommt, denn es versteht schon viel mehr von räumlichen und zeitlichen sowie ursächlichen Zusammenhängen in der Welt. Es kann auch zu der Erzieherin gehen und sich "ausquatschen", wenn es sein muß. Allerdings braucht auch ein 4jähriges und überhaupt jedes Kind erst einmal viel Vertrauen in den anderen Menschen. Die Erzieherin muß also ein großes Entgegenkommen zeigen und sich als vertrauenswürdig ausweisen. Diese Skizzen gebe ich hier in augenblicklicher Ermangelung fachkompetenter Literatur und möchte damit aufmerksam machen auf die Tatsache, daß alle Kinder unter 4 Jahren Fremdbetreuung gewöhnlich nur dadurch atraumatisch erfahren können, wenn sie ein sanfte Ablösung erleben und sich vorübergehend an eine Ersatzbezugsperson binden können, die ihr emotionales und affektives Erleben regulieren hilft. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 29.03.2006