Sehr geehrter Dr Posth,
ich lese seit längerer Zeit diesen Forum und kenne Ihre negative Einstellung zum Langzeitstillen. Andererseits stimmen Sie den derzeitigen Ernährungsempfehlungen zu und schreiben, dass ca. einjährige täglich ihren halben Liter Milch brauchen. Ich sehe darin einen Widerspruch.
Hat die Evolution uns tatsächlich so weit gebracht, dass Menschenkinder der Loslösung wegen früh abgestillt werden müssen, um danach den weiterhin bestehenden Milchbedarf mit der Milch einer anderen Tierart (z.B. Rind) zu decken? Mir sind in der Natur keine Beispiele für ein solches Entwicklungs- und Ernährungsmodell bekannt, vielmehr bekommen Jungtiere Muttermilch eben solange, bis sie keinen Milchbedarf mehr haben. Warum soll Mensch Ausnahme sein?
Wie sehen Sie das?
Danke und Gruss,
Milena.
Mitglied inaktiv - 10.10.2005, 15:36
Antwort auf:
Loslösung und Milchbedarf
Liebe Milena, das Langzeitstillen bedeutet für mich ein Zeitrahmen, der über das 1. Lebensjahr hinausgeht. Bis zum Ende des 1. lebensjahres gelten die Prinzipien der primären Bindung. Erst dann setzt die Loslösung ein. Die Problematik, die sich im ersten Lebensjahr ergibt, bezieht sich einzig auf die Nächte. Der Nahrungsrhythmus des ersten Lebenshalbjahres wird in das zweite hinein ausgedehnt, das heißt in der Regel auch nächtliches Stillen. Das werden die Menschen in Urzeiten so gemacht haben, aber es hat die Frauen nicht gestört. Heutzutage wird das fast immer zum Problem. Im zweiten Lebenshalbjahr werden die Mütter aber schon immer zugefüttert haben. Auch in Urzeiten. Das natürliche Signal hierfür war und ist der Durchbruch der Zähne. Auch die Verdauungsleistung im Darm paßt sich dem an. So betrachtet ergibt sich ein evolutorisch sinnvolles Gefüge.
Die Zufuhr eines nicht artgerechten Eiweißes ab dem 2. Lebensjahr in Ersatz für die Muttermilch ist gängige Aufassung heute. Wie das die Menschheit vor Tausenden von Jahren gemacht hat, weiß niemand genau. Es ist aber davon auszugehen, daß auch damals schon tierische Quellen dafür verwendet wurden (in Ostasien aber z.B. Soja als pflanzliches Eiweiß). Schon sehr, sehr früh haben die Menschen Tierarten domestiziert. Damit haben sie ihr Überleben gesichert.
Wenn diese Ernährungsstrategie nicht funktionierte, gab es Opfer unter den Menschen. Kinder verhungerten oder waren krank durch Mangelzustände (z.B. Rachitis). Die Mütter konnten ja auch nur solange stillen, als sie selbst ausreichend ernährt waren und nicht gleich wieder mit einem neuen Kind schwanger waren. Das war aber in Urzeiten leicht der Fall. Wie sie sehen, hat schon alles seinen Sinn, aber heutzutage sind die Kinder gesünder, größer und widerstandsfähiger. Die Kindersterblichkeit in den ersten zwei Lebensjahren ist extrem zurückgegangen, verglichen mit Zeiten noch vor 100 Jahren, geschweige denn mit Urzeiten. Ich hoffe, ich konnte Sie einigermaßen überzeugen. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 13.10.2005