Frage: Krippenbetreuung

Sehr geehrter Herr Dr. Busse, ich muss meinen Sohn, wenn er 1 Jahr geworden ist in die Kinderkrippe geben und habe deshalb schon jetzt ein ganz, ganz schlechtes Gewissen. (Ich selbst mußte nicht in die Krippe, aber in den Kindergarten bin ich nie gern gegangen. Ich war froh, wenn mich meine Mutter mittags abgeholt hat.) Unser Kind (8,5 Monate) ist bis jetzt ein sehr plegeleichtes, fröhliches, ausgeglichenes Baby. Er ist nur ein bischen faul was die Bewegung anbelangt. Sind die Studien zur Entwicklung der Kinder, die die Krippe besuchen eher negativ oder doch auch positiv? Evtl. könnte ich den Beginn der Krippenbetreuung auch noch etwas hinausschieben oder mit ganz wenigen Stunden beginnen. Was ist sinnvoll bzw. für mein Kind das Beste. Danke für Ihre Antwort im Voraus!

Mitglied inaktiv - 05.11.2007, 07:16



Antwort auf: Krippenbetreuung

Stichwort: Fremdbetreuung Hallo, vermutlich meinen Sie mich und nicht Dr. Busse. Die Studienlage zur frühen Fremdbetreuung oder Krippenbetreuung ist unzureichend. Das liegt daran, dass viele sehr wichtigen Fakten und Erkenntnisse aus der Psychologie der frühen Kindheit noch gar nicht in solche Studien mit aufgenommen sind, also z.B. Bindungsvoraussetzungen, Loslösungsprozesse, Ersatzbindungsphänomene, Fragen zur Selbstentwicklung, Ursachen von Trennungsangst und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit und vieles mehr. In nahezu allen Studien werden nur spätere Lebensdaten ausgewertet sowie schulischer Werdegang und allgemeine, soziale Anpssungsbereitschaft (das meist mit sehr simplem Umfrage- und Fragebogenkonzepten). Da allerdings scheint es keine grob schädlichen Auswirkungen zu geben. Aber auf die individuelle emotionale Entwicklung, das Selbstwertgefühl und die Angstbereitschaft eines Menschen scheint die frühe Fremdbetreuung (so wie bisher konzipiert) eher negative Auswirkungen zu haben. Das will man aber nicht gerne sehen, weder im Westen noch im Osten (von Deutschland). Studien aus dem Ausland mit Berücksichtigung der Bindungs- und Loslösungsphänomene in der frühen Kindheit sind mir nicht bekannt. Viele der Erkenntnisse hierzu sind aber auch noch relativ neu. Das betrifft auch die inzwischen durch bildgebende Techniken nachvollziehbaren Auswirkungen früher sozialer Einflüsse auf die Organisation des menschlichen Gehirns. Das Kapitel Hirnforschung bleibt aber einstweilen der Wissenschaft vorbehalten. Sie sehen, wie kompliziert das alles ist. Das hindert aber die Verfechter der frühen Fremdbetreuung nicht daran, diese weiter als das Nonplusultra zur Befreiung der Frauen von Haus und Hof und als Rechtfertigung für den ungebremsten Berufsaufstieg der Männer darzustellen. Das Kind droht hintenüber zu kippen. Da Kinder keine eigene Stimme in der Gesellschaft haben und nur über eine schwache Lobby verfügen, muss die Gesellschaft warten, bis die Auswirkungen ihrer derzeitigen Propaganda Jahre später in einer möglichen Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten evident wird. Das heißt nicht, dass ich ein genereller Feind der frühen Fremdbetreuung bin, nur kindgerecht muss sie aufgezogen werden mit familiärer Struktur, sanfter Ablösung, konstanter Ersatzbezugspersonen, begrenztem Kind-Betreuer-Schlüssel (OECD!), lebensfreundlicher Umgebung und geschultem, emotionalen und kognitiven Angebot. Nur das Beste kann gut genug für unsere Kinder sein, denn unsere Kinder sind unsere Zukunft. Sollten wir das im Übereifer des Gefechts vergessen haben? Das Gesagte zu fordern ist progressiver als das, was heute als progressiv der Bevölkerung verkauft wird. Mit verstaubter und rückständiger Familienpolitik hat das überhaupt nichts zu tun. Auf solche Polemik verzichten auch inzwischen alle Fachleute, die in dieser Frage etwas auf sich halten. Zugegeben, ein weiter Weg zur kindgerechten Fremdbetreuung liegt noch vor uns, und er wird viel Geld verschlingen, aber Geld, das wie in der Umweltpolitik gut angelegt ist. Hoffentlich konnte ich Ihre Fragen damit zufriedenstellend beantworten. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 06.11.2007