Hallo Dr. Posth,
ich war gerade im Nachbarforum (Kleinkinder, 2.Jahr), und was da diskutiert wird, hat mich extrem aufgewühlt.
Viele berichten davon, ihren Kindern "den Po zu versohlen", mit einer Selbstverständlichkeit und Dreistigkeit, die mir den Atem raubt!
Gibt es eine Studie, wieviel Prozent der heutigen Eltern zu solchen Mitteln greifen??
Käme mir einer von diesen Schlägern unter, er würde angezeigt! Ich bin vollkommen fassungslos!
Mitglied inaktiv - 13.06.2003, 14:02
Antwort auf:
Kinder schlagen
Stichwort: Strafe
Liebe Susanne, von welchem Nachbarforum ist die Rede? Wie Sie sich denken können, und wie Sie wahrscheinlich auch schon in meinen verschiedenen Antworten gelesen haben, verurteile ich jegliche Gewaltanwendung in der Kindererziehung. Auch die heimliche Gewalt, nämlich die mit Verächtlichmachung oder Herabwürdigung, Demütigung und Liebesentzug operiert. Die menschliche Seele ist gerade in ihrer ganz frühen Orientierungsphase extrem verletztlich!! Säuglinge und Kleinkinder sind vollständig abhängig von der Zuwendungsbereitschaft und Einfühlsamkeit ihrer Eltern und Erzieher. Sie bewerten sich anfangs so, wie sie sich durch Ihre Eltern bewertet erleben. D.h. werden sie ausgelacht, gedemütigt, ungerecht behandelt, mißachtet oder durch Schläge verletzt, wehren sie sich innerlich kaum oder gar nicht, sondern sie fangen an, sich selbst so zu shen und zu bewerten, als geschehe es ihnen recht. Und genau mit dieser inneren Einstellung entwickeln sie ihr Selbstgefühl und vertreten auch später als Erwachsene noch die Ansicht, es wäre ihnen recht geschehen. Das heißt übersetzt dann: "es hat mir nicht geschadet". Oder: "Meine Eltern wußten schon, was sie tun." "Ich war ja auch ein Teufelchen."
Der Irrglaube, es sei ihnen zurecht geschehen, ist so tief verwurzelt, daß die Wahrheit dafür preisgegeben wird. Wahrscheinlich wäre aber auch die Vorstellung, daß in der eigenen Kindheit schlimme Sachen passiert sind, und die auch noch von den eigenen Eltern, von denen man ja unbedingt geliebt sein will, angerichtet, daß man lieber verdrängt, als später die Kränkung sich wieder vor Augen zu führen.
Die schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller hat diese Zusammenhänge mit bewundernswerter Aufrichtigkeit und Offenheit in Ihren Büchern (alle bei Suhrkamp erschienen, zuletzt Evas Erwachen) aufgedeckt. A. Miller unterhält hierzu auch ein internationales Internet-Forum.
Wer seine Kinder schlägt, auch der berühmte Klaps auf den Po oder die Finger ist Schlagen! (selbst wenn es nicht körperlich wirklich weh tut, es tut doch seelisch weh - und das soll es ja offenbar auch, denn es wird als Erziehungsmittel eingesetzt), der riskiert, daß sein Kind Schlagen/Schläge als Machtmittel verinnerlicht (neuropsych.: im Selbst repräsentativ abspeichert) und dieses Mittel selbst! in geeigneten Situation anwendet. Bei großer Wut sogar gegen die eigenen Eltern.
Jetzt kommt natürlich der uralte Einwand, aber das Kind schlägt ja von sich aus auch. Nun gut, Schlagen ist eine evolutionsbiologisch und phylogenetisch verankerte, menschliche Verhaltensweise zur Verteidigung oder wenn nötig auch aggressiven Äußerung in einer Notsituation. Dazu gehören auch Spucken, Treten, Beißen, an den Haaren ziehen, usw. Aber hier handelt das Kind primär als "Erfüllungsobjekt" ursprünglichster, existenzieller Konditionen. Unsere Aufgabe als Erwachsener ist es, diesen notwendigen aggressiven Impuls zur Implementierung und Verteidugung des aufkommenden Selbst in der Gemeinschaft als Anlaß zu werten, den Kindern klarzumachen, daß notwendige Auseinandersetzungen in der menschlichen Gesellschaft auf andere Fähigkeiten begründet werden müssen. Denn im Gegensatz zum Tier ist der Mensch als Erwachsener in der Lage, aus Wut, Zorn sowie echter und konstruierter Benachteiligung sich selbst, die Anderen und sogar seine ganze Art zu vernichten (alle Kriege sind beredtes Zeugnis dieser Fähigkeit). Ja er kann noch mehr, er kann sogar seine Mitmenschen "scheinvernichten", in dem er sie nämlich foltert. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen können viel mehr Grausamkeit entwickeln, als sie die Natur je bereithalten würde.
Das ist der Grund, warum die Keimzelle einer jeden Gewalt ganz früh umgelenkt werden muß in soziale Strategien wie 1. Empathieentwicklung (Mitleid). 2.Kompromißbildung (Gerechtigkeit). 3. Gesprächsführung (Verständnis) 4. Verzicht (Abgeben) und anderes mehr.
Was das Kind in der Gewissensbildung lernen muß, ist eine Moral zu erwerben und in die Selbststrukturen unauslöschlich einzubauen! Das schafft man aber nicht allein kognitiv, sondern vor allen Dingen emotional durch ganz frühes Mitleidempfinden und frühe Verzichtbereitschaft und zwar als Erfahren an sich selbst wie als Lernen an dem Anderen. Schläge jeglicher Art sind da vollkommen kontraproduktiv, weil sie allein das Machtprinzip herausfordern und die Stärke über die Vernunft erheben.
Dieses Statement ist wieder sehr lang geworden, aber ich glaube, es war wichtig, diese, hoffentlich nicht nur meine, Grundprinzipien der Verbindung von Ethik und Erziehung hier einmal zu formulieren. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 14.06.2003
Antwort auf:
Kinder schlagen
Ich habe gerade mal in das genannte Forum reingeschaut. Nach dem 3. Beitrag bin ich rausgegangen. Das ist ja wirklich unglaublich, mit welcher Selbstverständlichkeit darüber berichtet wird, dass man seine Kinder schlägt. Aus völlig nichtigen Gründen!
Ich bin genauso empört, wie du!
Franca
Mitglied inaktiv - 13.06.2003, 14:27
Antwort auf:
Kinder schlagen
eigentlich ist es nicht anders zu erwarten, die rechtfertigung beginnt ja meist mit: "mir wurde auch der hintern versohlt und es hat mir nicht geschadet..." wenn es nicht so traurig wäre müsste man über diesen satz fast lachen :c(
daten zum thema fände ich auch hochinteressant, und natürlich dr. posth's stellungnahme.
lg
sandra
Mitglied inaktiv - 13.06.2003, 21:59
Antwort auf:
Kinder schlagen
Ich habe die Postings im Kleinkindforum auch gelesen und war ebenfalls entsetzt.
Ich wurde auch geschlagen als Kind und ich kann sagen,dass es mir sehr wohl geschadet hat.Ich glaube,dass weit mehr Eltern ihre Kinder schlagen,als wir vermuten.Ich würde eher sterben,als meinem Sohn auch nur einen Klaps zu geben.Leider denken noch viel zu wenig Eltern so.LG und ein schönes Wochenende.
Mitglied inaktiv - 14.06.2003, 11:06
Antwort auf:
Kinder schlagen
...schön daß es doch noch Mütter gibt die genauso geschockt waren wie ich.
Ich glaube ich bin etwas zu gutgläubig,war völlig entsetzt über die große Anzahl der Mütter,die Klappse und Schläge völlig selbstverständlich als Erziehungsmittel einsetzten.
Mitglied inaktiv - 14.06.2003, 16:32
Antwort auf:
Kinder schlagen
Lieber Herr Dr. Posth,
ich danke Ihnen sehr herzlich für die lange Antwort (und Zeit), die Sie in diese Abhandlung gesteckt haben!
Man kann das nur verbreiten und hoffen, daß sich einige besinnen- und dafür hat sich Ihr Engagement allemal gelohnt!
DANKE
Mitglied inaktiv - 14.06.2003, 20:52