Frage: Jetzt schon einen eigenen Willen?

Hallo lieber Herr Dr. Posth, erst einmal vielen lieben Dank für Ihre wertvolle Arbeit hier im Forum und ich möchte auch diesmal wieder gern auf Sie zurückgreifen und versuche mich ganz kurz zu fassen. Benjamin, fast 6 Monate alt, zeigt sehr bockige Verhaltensweisen. Wenn er z. B. nicht von meinem Brötchen abbeißen darf, weint er schrecklich. Nehme ich ihn nicht hoch und er hat vorher schon etwas gemeckert, kreischt er auch los. Genauso ist es, wenn er an Spielzeug nicht heran kommt oder ich es ihm wegnehme, dann wird er äußerst bockig und weint oder meckert mich total voll. Aus der Badewanne will er auch kaum raus, wenn er einmal drin ist. Weiß nicht so recht, ob ich ihm jeden Wunsch erfüllen soll oder ob er nicht schon beginnt sich auszutesten bei seiner Mama. Er wird sehr liebevoll erzogen, nie schreien gelassen und ich beschäftige mich rund um die Uhr mit ihm. Was kann ich tun? Ist das schon der eigene Wille? Und wenn ja, wie damit umgehen? LG Isabell

Mitglied inaktiv - 23.10.2006, 12:24



Antwort auf: Jetzt schon einen eigenen Willen?

Stichwort: erster Wille Liebe Isabell, meiner Auffassung nach ist die Äußerung von Bedürfnissen im Säuglingsalter noch nicht mit dem eigentlichen menschlichen Willen gleichzusetzen. Noch handelt es sich nur um Bedürfnisäußerung und das Gefühl des Drangs, dieses Bedürfnis sofort befriedigt zu bekommen oder sofort umsetzen zu können. Steht dem Säugling dabei die Wirklichkeit im Wege (zu der auch die elterliche Reaktion gehört), protestiert er je nach Temperament und Charakterveranlagung sofort und heftig. Nun ist es ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, durch vermehrte und gezielte Frustrationen den Säugling im Aushalten von Entbehrung und Untersagung der Bedrüfnisbefriedigung zu mehr Toleranz erziehen zu können. Das Gegenteil wird der Fall sein. Denn ein Säugling kann noch nichts lernen im klassischen Sinne. Er kann dabei nur sein Vertrauen in die Bindung verlieren, was zu einer der beiden Formen der unsichern Bindung (s. mein Langtext, link oben links) führen wird. Außerdem wird er immer ungeduldiger und unleidiger werden, denn seine Gefühle der Sicherheit hat er gleichzeitig eingebüßt. In der emotionalen Integration, das Konzept, das ich hier vertrete, führt prompte Bedürfnisbefriedigung aber zum Urvertrauen und zu sicheren Bindung und je mehr negative Gefühle im Säuglingsalter in der Mutter-Kind-Dyade in positive Gefühle gewandelt werden, desto günstiger und beherrschbarer wird der eigentliche Wille, der dann im zweiten Lebensjahr mit dem Ichbewußtsein und dem eigene Selbst zusammen auftritt. In dieser Erklärung steckt die Antwort auf Ihre Frage. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 25.10.2006