Frage: Heimkind

Guten Tag! Ich habe Ihr Forum für meine Frage als Tip von einer Bekannten bekommen. Tolle Sache! Also! Wir haben ein Kind im Alter von 13 Monaten aus der Ukraine adoptiert. Er ist entwicklungsverzögert, motorisch und auch geistig (Verwahrlosung). Die Schwierigkeiten, die uns tägl. begeliten sind Eßschwierigkeiten, häufiges, anhaltendes Weinen, Schlafstörungen, Angst, Überempfindlichkeit. Er robbt schon etwas und so langsam interessiert er sich auch für seine Umwelt. Er hat bei uns eine sehr liebevolle Betreung. Aber hat er denn eine Chance sich so zu entwickeln, wie er es unter anderen äußeren Einflüssen evtl. entwickelt hätte. Kann er alles aufholen? Oder ist in diesem einen Jahr zuviel zerstört worden? Haben sie evtl. auch noch Literaturtipps? Wir haben z.B. das Buch"Entwicklung-Sozialisation-Erziehung" v. Lotte Schenk-Danzinger (auch um zu verstehen, was falsch lief). Was können Sie uns noch für einen Rat geben? MfG Ch.Kirchner

Mitglied inaktiv - 28.01.2003, 19:21



Antwort auf: Heimkind

Lieber Chr. Kirchner, Ihnen und Ihrer Frau gebührt viel Respekt für das, was Sie tun. Aus Ihrer Frage spricht Realismus, und der ist angebracht. Aber 13 Monate sind noch kein Alter, in dem alles verloren wäre! Was Sie beschreiben, entspricht dem Beginn eines Deprivations-Syndroms. Das ist jener traurige Zustand im Leben eines kleinen Menschen, der aus dem wie auch immer gearteten Verlust seiner Eltern, resp.Bindungspersonen resultiert. R.Spitz machte Ende der 1940er solche Beobachtungen an Kindern in amerikanischen Waisenhäusern, wo er kriegswaise Kinder erlebte. Er nannte diesen Zustand anaklitische Depression. Ein solches Kind, das jetzt zuverlässige Eltern findet, macht vieles von dem nachträglich durch, was ein normaler Säugling auch durchmacht. D.h. man muß darauf eingestellt sein, daß es noch sehr ängstlich und anhänglich ist, und das im Übermaß, denn seine Ursprungsängste wurden ja nicht durch liebevolle Zuwendung in Vertrauen gewendet. Ebenso geht es mit der Nahrungsaufnahme oder der Trennung von der Bezugsperson im Schlaf. Hier kann aber -scheinbar widersprüchlich- Verweigerung auftreten. Man wird diesen Auffälligkeiten nur mit behutsamer Zuwendung und sanfter Gegensteuerung entgegenstreten. Also beharrlich sein, aber nachgiebig, kompromißbereit und vertrauenswürdig. Ein solches Kind muß erst einmal lernen, daß es Vertrauen haben darf. Über dieses Empfinden, welches Vertrautheit und Angstfreiheit entspricht, entwickelt es die notwendige Bindung. Ein Kind mit 13 Monaten kann das noch! Ich wünsche Ihnen ganz viel Glück und Zuversicht. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 29.01.2003