Guten Morgen, Herr Posth!
Im Rahmen einer Fortbildung über Entwicklungspsychologie in der frühen Kindheit "warb" die Vortragende für eine Fremdbetreuung ab/um den 6. LM, da das Kind zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine exklusiven Bindungen etabliert hätte und leichter einzugewöhnen sei. Zudem hätten Experimente (in Kenia?) ergeben, dass diese früh fremdbetreuten Kinder (allerdings von Familienmitgliedern) bessere Mentalisierungsfähigkeiten aufwiesen.
Die Rechnung "Einfach = besser/richtig" ist doch noch nie aufgegangen, oder? und fehlen diesen Kindern nicht entsprechende Bindungsanteile an die Eltern? Bindungsverwirrung? Ist die Sichtweise "Je mehr Bindungspersonen desto besser" nicht etwas oberflächlich und greift das Prinzip überhaupt schon bei Säuglingen? Davon abgesehen natürlich, dass man eine Betreuung durch den Familienverbund nicht mit der Betreuung durch hiesige Krippen vergleichen kann...
Danke und viele Grüße,
Gina
Mitglied inaktiv - 06.09.2010, 10:25
Antwort auf:
frühe Fremdbetreuung aus entwicklungspsychologischer Sicht
Stichwort: Bindungstheorie
Liebe Gina, frühe Fremdbetreuung und Bindungsgesetze stehen in einem gewissen Widerspruch zueinander. Dieser Widerspruch wird aufgelöst durch die Vorgehensweise der sanften Ablösung. Das bedeutet, dass das Kleinkind schrittweise an die Ersatzbezugsperson gebunden wird. Die Bindungsgesetze gelten weltweit für alle Kinder. Es gibt nur soziokulturelle Unterschiede im Vorgehen bei den Bindungsprozessen. Diese hängen von den Lebensbedingungen der Völker und ihren religiös-kulturgeschichtlichen Vorstellungen ab. Das heißt der Logik folgend, dass die Verhältnisse von Kenia oder sonstwo in Afrika nicht auf westeuropäische Industrienationen zu übertragen sind. Die eher folkloristische Auffassung, für das Aufziehen eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf, ist auf unsere Gesellschaft in Deutschland nicht (mehr) anwendbar. Ich füge dieses "mehr" in Klammern hinzu, weil es vor einigen hundert Jahren auch in Mitteleuropa sicher andere Sozialstrukturen gegeben hat, die Einfluss auf Entwicklung des Kindes genommen haben.
Ich glaube auch nicht, dass in Kenia, im Sudan, in Ghana oder Mali die Reaktionen der Kinder auf ihre Umgangserfahrungen unter bindungstheoretischen Bedingungen betrachtet worden sind. Gleiches gilt für Indien oder Ostasien. Diese Betrachtungsweise fehlt ja sogar hier noch den meisten Studien.
Das Kind kann sich zwar vor zu vielen Bezugspersonen, die womöglich noch miteinander konkurrieren, schützen, indem es eine Hierarchie unter ihnen ausbildet. Trotzdem tun ihm die verschiedenen Einflüsse nicht gut. Die Rechnung geht also, wie Sie schon richtig sagen, nicht auf.
Vielleicht hat die Vortragende ja selbst keine Kinder, sonst müsste sie eigentlich wissen, dass ein Säugling mit einem halben Jahr schon eine Bindung zu seinen Eltern aufgebaut hat. Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 09.09.2010