frühe Fremdbetreuung aus entwicklungspsychologischer Sicht

Dr. med. Rüdiger Posth Frage an Dr. med. Rüdiger Posth Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Frage: frühe Fremdbetreuung aus entwicklungspsychologischer Sicht

Guten Morgen, Herr Posth! Im Rahmen einer Fortbildung über Entwicklungspsychologie in der frühen Kindheit "warb" die Vortragende für eine Fremdbetreuung ab/um den 6. LM, da das Kind zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine exklusiven Bindungen etabliert hätte und leichter einzugewöhnen sei. Zudem hätten Experimente (in Kenia?) ergeben, dass diese früh fremdbetreuten Kinder (allerdings von Familienmitgliedern) bessere Mentalisierungsfähigkeiten aufwiesen. Die Rechnung "Einfach = besser/richtig" ist doch noch nie aufgegangen, oder? und fehlen diesen Kindern nicht entsprechende Bindungsanteile an die Eltern? Bindungsverwirrung? Ist die Sichtweise "Je mehr Bindungspersonen desto besser" nicht etwas oberflächlich und greift das Prinzip überhaupt schon bei Säuglingen? Davon abgesehen natürlich, dass man eine Betreuung durch den Familienverbund nicht mit der Betreuung durch hiesige Krippen vergleichen kann... Danke und viele Grüße, Gina

Mitglied inaktiv - 06.09.2010, 10:25



Antwort auf: frühe Fremdbetreuung aus entwicklungspsychologischer Sicht

Stichwort: Bindungstheorie Liebe Gina, frühe Fremdbetreuung und Bindungsgesetze stehen in einem gewissen Widerspruch zueinander. Dieser Widerspruch wird aufgelöst durch die Vorgehensweise der sanften Ablösung. Das bedeutet, dass das Kleinkind schrittweise an die Ersatzbezugsperson gebunden wird. Die Bindungsgesetze gelten weltweit für alle Kinder. Es gibt nur soziokulturelle Unterschiede im Vorgehen bei den Bindungsprozessen. Diese hängen von den Lebensbedingungen der Völker und ihren religiös-kulturgeschichtlichen Vorstellungen ab. Das heißt der Logik folgend, dass die Verhältnisse von Kenia oder sonstwo in Afrika nicht auf westeuropäische Industrienationen zu übertragen sind. Die eher folkloristische Auffassung, für das Aufziehen eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf, ist auf unsere Gesellschaft in Deutschland nicht (mehr) anwendbar. Ich füge dieses "mehr" in Klammern hinzu, weil es vor einigen hundert Jahren auch in Mitteleuropa sicher andere Sozialstrukturen gegeben hat, die Einfluss auf Entwicklung des Kindes genommen haben. Ich glaube auch nicht, dass in Kenia, im Sudan, in Ghana oder Mali die Reaktionen der Kinder auf ihre Umgangserfahrungen unter bindungstheoretischen Bedingungen betrachtet worden sind. Gleiches gilt für Indien oder Ostasien. Diese Betrachtungsweise fehlt ja sogar hier noch den meisten Studien. Das Kind kann sich zwar vor zu vielen Bezugspersonen, die womöglich noch miteinander konkurrieren, schützen, indem es eine Hierarchie unter ihnen ausbildet. Trotzdem tun ihm die verschiedenen Einflüsse nicht gut. Die Rechnung geht also, wie Sie schon richtig sagen, nicht auf. Vielleicht hat die Vortragende ja selbst keine Kinder, sonst müsste sie eigentlich wissen, dass ein Säugling mit einem halben Jahr schon eine Bindung zu seinen Eltern aufgebaut hat. Viele Grüße

von Dr. med. Rüdiger Posth am 09.09.2010



Ähnliche Fragen ähnliche Fragen

Fremdbetreuung funktioniert - trotzdem Abbruch?

Lieber Herr Posth, meine Tochter (18 M) geht seit 6 Wochen tägl. für 3-4 Std. in eine Grippe: Sie weint nie beim Abschied, begrüßt mich freudig, will dann aber weiterspielen. Zuhause singt sie viele Lieder der Gruppe nach und sagt häufig die Namen der anderen Kinder. Ansonsten ist sie fröhlich, ausgeglichen, mit einem starken Willen. Zugenommen ha...


Wann ist Fremdbetreuung in der Krippe positiv?

Sohn (2 J 4 Mon.) besucht seit Sept.Krippe von 8.30-1230.12 Kinder zw. 2-3. Eingewöhnung sanft, Tempo frei v. KIND wählbar. Es wird sehr a. d.Kinder geachtet&eingegangen. Sohn ist sehr impulsiv, wirkt draufgängerisch, ist aber eig. S. sensibel. geht s.gerne dort hin&will auch immer, habe aber schon d.Gefühl, dass es ihm noch lieber wäre, wenn ich d...


Verhalten bei kurzer "Fremdbetreuung"

Lieber Herr Posth, Unser 2. Kind, 1,5 Jahre wurde bisher nicht fremdbetreut. Er wird noch teilweise gestillt, Familienbett und viel getragen. Ist ein sehr fröhliches aufgewecktes Kind. Kein Schnuller, kein Schmusetier. ¨Schläft nur durch stillen ein oder teilweise unterwegs im Tragetuch auf dem Rücken. Deshalb war ich zu den Schlafenszeiten eige...


schadet 1 Woche Fremdbetreuung durch Familiemitglieder?

Mein Sohn ist 17 Monate alt. Wurde bis jetzt eigentlich nicht fremdbetreut (ausser ein Paar mal ganz kurz für 3-4 Stunden, und das auch nur von Familienmitgliedern). Vor 3Monaten wurde er noch für 2 Tage von seiner Oma betreut (nach einer FG von mir), was super geklappt hat. Nun ist es so...Mein Mann und ich haben zu unserer Hochzeit eine Reise nac...


Kurze Fremdbetreuung-wie vorbereiten

Hallo, mein Sohn fast 11 Monate, wurde bisher noch nie fremdbetreut. Gestillt bis 7 Monate, schläft nur mit Einschlafbegleitung in unserem Bett ein und lege ihn dann in sein Bett in unserem Schlafzimmer zum Schlafen. Schläft bis auf wenige Unterbrechungen sehr gut. Sonst sehr fröhlicher und aufgeschlossener Junge, bisher kaum gefremdelt, macht scho...


Angststörung und frühe Fremdbetreuung

Lieber Dr. Posth, mein Sohn (2,4J) ist sehr ängstlich, fürchtet sich teilweise. Viel getragen, bis 1,5J gestillt, kein ferbern, seit Geburt schlafe ich im Kinderzimmer. Kita (1,6J) mit nur 1:2,5. Eingewöhnung sanft, 6 Wochen. Klappte gut, bis Gruppe größer wurde. Geht 3 h täglich hin. KV beschäftigt sich erst seit unserem Auszug vor 9 Mon. intensiv...


fremdbetreuung krippe

Hallo, mein 17 mo alter sohn, sehr temperamentvoll, nie schreien gel, sehr anhängl., schläft bei uns im eig. Bett, lange gestillt, laufen u zahnen ab 11 mo, wurde bis auf 1x von oma noch nie fremdbetreut. gehen 1x die wo gemeinsam krabbelgruppe, 1x wo zur spielsgruppe (jew. 2 std). gehe in 4 Mo wieder arbeiten, 2 Vormittage die Wo. Suche eine Kripp...


Fremdbetreuung und Anhänglichkeit/Schlafen

Sehr geehrter Dr. Posth, ich weiß, die Fremdbetreuung im zweiten Lebensjahr ist nicht ideal, aber wenn sie notwendig ist, ist es dann besser, das Kind jeden Tag zur Kita zu bringen, wie es viele Erzieherinnen befürworten (Regelmäßigkeit, Trennungsschmerz beginnt nicht immer aufs Neue) oder sollte man es nur an den tatsächlich benötigten Tagen hinb...


Bindung Fremdbetreuung

Sehr geehter Dr. Posth,vielen Dank für ihre letzteAntwort zurBindungstheorie.Mir stellt sich noch immer grundsätzlich dieFrage, ob jedes Kind, welches in die frühe Fremdbetreuung ohne wirklich sanfte Ablösung"muss",eine unsichere Bindung entwickelt?Ich gehe eigentlich davon aus, im ersten halbenJahr alles für eine sichereBindung für meineKinder get...


Fremdbetreuung ab wanm

Sehr geehrte Frau Henkes,  Unsere Tochter (erstes Kind) ist mittlerweile 6,5 Monate alt und normal entwickelt auch bei der letzten U-Untersuchung war alles normal. Sie wird gestillt +Beginn Beikost seit 3 Wochen Mittagsbrei und schläft im Familienbett neben mir (nicht in der Mitte). Sie ist insgesamt ein sehr fröhliches und aufmerksames Baby. ...