Hallo Herr Dr. Posth,
unsere Tochter ist 21 Monate alt und wird nach wie vor überwiegend von mir betreut. Zum Papa hat sie eine gute Beziehung, finde ich; mit ihm verbringt sie gerne Zeit und kann längere Zeit mit ihm alleine bleiben, wenn ich mal weg muss. Vor ein paar Monaten war meine Mutter bei uns mehrere Wochen lang; nach einer Eingewöhnungszeit ist Jana auch mit ihr tagsüber gerne geblieben. Am liebsten bleibt sie zwar bei mir, früher war sie auch sehr anhänglich, aber Erfahrung zeigt, dass Betreuung durch andere ohne jeglichen Stress durchaus geht.
Nun wollten wir sie vor drei Monaten dreimal die Woche für zwei Stunden zu einer Freundin bringen, da ich wieder zur Uni gehe. Sie hat sich dort sofort sehr wohl gefühlt; nach Eingewöhnungszeit bin ich gegangen und sie hat es ohne Weinen akzeptiert. Etwa zwei Wochen ging alles gut. Dann wollte sie mir nicht mehr loslassen und hat nur geschrien, wenn ich ging. Also bin ich zurückgekehrt und bin wieder eine Weile zusammen mit ihr dorthin gegangen. Wenn ich da bin, genießt sie die Zeit dort, mal habe ich versucht, wieder zu gehen, schrie sie wieder und wollte sich nicht von anderen beruhigen lassen. Also haben wir für die nächsten paar Monate auf Fremdbetreuung ganz verzichtet. Nun meine Fragen:
Mir ist klar, dass meine Tochter es nicht ganz geschafft hat, eine enge Beziehung zur neuen Betreuungsperson aufzubauen. Aber WIE bauen die Kinder eine gute Beziehung zu einer neuen Betreuungsperson auf bzw. wie sollte sich diese Person (keine mit uns zusammen lebende Familienangehörige) mit dem Kind am Anfang beschäftigen, damit das funktioniert?
Könnte man schon am alltäglichen Verhalten des Kindes erkennen, dass es grundsätzlich "fremdbetreuungsreif" ist?
Wie kann ich die soziale Entwicklung meines Kindes im zweiten und dritten Lebensjahr fördern?
Vielen Dank und entschuldigen Sie bitte den langen Text!
Kati
Mitglied inaktiv - 07.01.2004, 15:59
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Liebe Kati, Nuba und auch wieder Martina, ein paar Fragen weiter unten haben ich sehr umfangreich auf dieselbe Frage geantwortet, bitte dort nachlesen. Außerdem sind im Suchlauf weitere Antworten anzusteuern.
Ich will hier nur noch einmal kurz auf das Phänomen der Anpassung von Kleinkindern eingehen, das ich im Übrigen beim Thema Kindergarten auch schon ausführlich erörtert habe. Die Fähigkeit des Säuglings und Kleinkindes zur Anpassung ist sein Segen und Fluch zugleich. Wieso? Ursprünglich wird es bei den Menschen so gewesen sein, daß in jeder Lebensphase des Kindes häufig mit dem Ausfall der primären Bezugsperson zu rechnen gewesen ist. Wenn man allein die Sterblichkeit der Mütter unter der Geburt und im sog. Wochenbett betrachtet, dann wird einem sofort klar, wieso der Säugling diese Fähigkeit besitzen muß. Aber es starben auch viele Mütter, wenn die Kinder noch sehr klein waren. Die Natur gab und gibt immer dem Überleben den Vorzug und nicht der absolut harmonischen, seelischen Entwicklung. Das hätte sich nicht bewährt und die Menschen wären ausgestorben.
Aus diesem -Ch. Darwin verzeihe mir- darwinistischen Prinzip sollte man aber keine Rechtfertigung für ein ungesundes psychosoziales Handeln gegen Säuglinge und Kleinkinder ableiten. Dazu ist ihre Seele viel zu verletzlich. Ohne echte und nachweisliche Not darf man dieses natürliche Prinzip nicht für sich beanspruchen! So meine ich.
Unser Ziel sollte sein, möglichst wenig von diesen Psychoimmunreaktionen zu beanspruchen und nicht möglichst viel. Im Gegensatz zum eigentlichen Immunsystem des Menschen, das ja auf permanente Herausforderung von eindringenden Erregern angewiesen ist, ist die Psyche eben eine System, das auf einer inneren, stabilen Grundlage basiert. Zwar gibt es einen gewissenen angeborenen Widerstand der Seele (sog. Resilienz im Gegensatz zum körperlichen Widerstand, der Resistenz), der aber bedarf solcher soliden Grundlagen, welche vornehmlich in den ersten Lebensjahren aufgebaut werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Immunsystem und Psyche besteht darin, daß die Immunität immer ein absolut solitäres Phänomen ist, die Psyche aber ein solidäres (von Solidarität). Albert Camus warf schon in seinem tiefsinnigen, philosopischen Fragen diesen eminenten Unterschied im menschlichen Existieren auf: solitaire ou solidaire, wie lebt der Mensch?
Die Anpassung für den Säugling bedeutet die Verdrängung seiner wahren Gefühle. Das kann er, soweit er innerlich im obigen Sinne stabil ist, meisterlich. Und die Erwachsenen, die es für die Bestätigung ihres vermeindlich richtigen Handelns so wollen, nehmen es ihm dankbar ab. Wird die Verdrängung aber mit der Zeit doch einmal zur seelischen Last, weil sich Beanspruchung auf Beanspruchung schichtet, dann geht die innere Stabilität verloren und die Seele bricht unter der Last zusammen. Auf einmal wundern sich alle, wieso das Kind so aggressiv und unsozial reagiert, wieso es -wie man heute sagt- ausklingt. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, sagt der Volksmund. Hat er nicht Recht? Viele Grüße
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 09.01.2004
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Hallo !
Ich lese hier öfter rum und Dein Beitrag hat mich beeindruckt !
Ich finde es toll, was Du Dir für Gedanken machst !
Ich habe meinen Grossen damals in ähnlichem Alter vormittags für 3 Stunden in eine liebevolle Kleinkinderbetreuung mit gutem Personalschlüssel gegeben.
Dennoch hat er beim Abgeben fast immer geweint und wollte mit mir mit.
Laut Erzieherin war der Schmerz aber weg, sobald ich zur Tür raus war.
Ich bin dem nicht weiter nachgegangen, habe mich aber immer gefragt, ob es jetzt wirklich o.k. ist, dass ich seinen Protest einfach ignoriere oder nicht.
Bin gespannt was Dr.Posth dazu sagt.
Liebe Grüsse
Natascha
Mitglied inaktiv - 07.01.2004, 19:50
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Hallo Natascha,
vielen Dank für Deinen Beitrag! Ich denke, wenn Dein Sohn sich in der Krippe sofort beruhigen konnte, dann war es auch nicht so schlimm. Bei uns war es am Anfang sehr schön und ruhig, nachher aber auf einmal echt extrem. Keiner konnte meine Tochter beruhigen :(, und ich wollte und konnte das Schreien-Lassen weder ihr noch der Betreuung zumuten. Fast alle anderen meinten aber, ich sollte doch wieder gehen, sie gewöhnt sich schon.
Das ist ja das Traurige am Muttersein in der heutigen Gesellschaft: man ist als Mutter hin und hergerissen und es gibt häufig Schuldgefühle, egal wofür man sich entscheidet. Ich wäre unglücklich, mein Kind in der Fremdbetreuung schreien zu lassen, aber so bin ich auch nicht besonders glücklich. Mal abgesehen von Situationen, in denen man aus finanziellen Grunden arbeiten gehen muss -- wenn eine Frau nach der Geburt des Kindes kaum Gelegenheit hat, eigenen Interessen nachzugehen, so verliert sie einen wesentlichen Teil von sich selbst. Wie kann ich dann meine Tochter später überzeugen, dass Bildung wichtig ist, wenn ich es selber nicht so richtig schaffe, Bildung/Arbeit und Familie zu vereinbaren. Aber das ist schon kein Thema für dieses Forum :).
wünsche Dir noch einen schönen Abend,
Kati
Mitglied inaktiv - 07.01.2004, 21:08
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Hallo Kati,
tja, ganz so ist es ...
je mehr ich mich damit auseinandersetze, desto mehr verwerfe ich allerdings meine working- woman-theorie.
gesellschaft hin oder her, mein bauchgefühl sagt mir, dass ich bei so kleinen kindern meine priorität woanders haben sollte.
mein grosser wird jetzt 5, braucht mich immer noch sehr, aber geht auch schon etwas "seine eigenen wege" (übernachtet gerne mal bei oma und opa und sogar einem freund, verabredet sich nachmittags, geht gerne in den kiga etc.)
aus dieser erfahrung heraus bin ich beim zweiten jetzt noch vorsichtiger, weil ich gemerkt habe, dass diese wertvollen ersten jahre so wichtig sind.
wir sollten die zeite mit unseren kleinkindern einfach geniessen sofern wir die möglichkeit haben und uns darüber freuen.
ist aber manchmal gar nicht so leicht und oft muss man sich vor "der gesellschaft" regelrecht rechtfertigen, wenn man ein 2 jähriges kind noch ausschliesslich selbst betreut.
gute entscheidungen !
natascha
Mitglied inaktiv - 08.01.2004, 13:24
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Diese Konflikte kenne ich auch sehr gut. Für mich bin ich jetzt zu dem Schluß gekommen, daß ich in erster Linie sehen muß, was für mich richtig ist. Egal ob ich Vollzeit-/Teilzeit oder gar nicht berufstätig bin, es wird immer jemanden geben, der dies für eine Mutter nicht für angebracht hält. Ich bin mit meinem 24-Std.-Job derzeit ganz zufrieden (und ehrlich gesagt, auch ein bischen stolz darauf), werde im letzten Jahr der Elternzeit voraussichtlich auf 30 Std. erhöhen und kann mir mittlerweile nach der Elternzeit eine Rückkehr in eine Führungsposition in unserem Unternehmen gut vorstellen. Das ist für mich und meinen Mann der richtige Weg. Unserem Sohn geht es gut dabei. Darauf kommt es an! Es gibt nicht nur einen Weg!
Mitglied inaktiv - 09.01.2004, 14:24
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Hallo !
Als kurzes Feedback für Ihre Mühe:
Danke für die tiefgehend Antwort !
Ich kann sehr viel für mich daraus ziehen (und vorallem für das Verständnis für meine Kinder !).
Gruss
Natascha
Mitglied inaktiv - 12.01.2004, 08:26
Antwort auf:
Fremdbetreuung
Korrektur: ausklingt muß natürlich heißen ausklinkt.
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 12.01.2004