Frage: anlage-Umwelt-Diskussion

Guten morgen Dr. Posth, mich würde mal interessieren, in weit mittlerweile erforscht ist, in welchem Maße Anlage und Umwelt ein Kind prägen. Anlass dazu gibt mir die Diskussion mit der Familie meines Mannes und besonders mit meinem Schwager.. Er und seine Frau haben einen 3 Monate alten Sohn. Von anfang an vertreten sie die Meinung "Bloß nicht verwöhnen", d. h. sie lassen ihr Kind auch mal schreien, wenn sie meinen, dass es eigentlich "nichts haben kann". Sie tragen ihn so gut wie überhaupt nicht herum, um ihn ja nicht daran zu gewöhnen, manchmal liegt er sehr lange wach und alleine in seinem Bettchen. (Nicht falsch verstehen, sie lieben ihr Kind sehr, aber sie vertreten halt diesen Grundsatz mit dem Verwöhnen) Mein Mann und ich sind da genau anderes. Soviel körperliche Nähe wie möglich, sofortige und zuverlässige Befriedigung seiner Bedürfnisse, Integration in unseren Alltag etc. Nun ist es so, dass mein Sohn von Anfang an sehr aktiv und "anstrengend" war, d.h. er fordert meine Aufmerksamkeit gerade zu. Er spielt zwar schön alleine, aber nur kurze Zeit.Er hat von Anfang an sehr wenig geschlafen (13 Stunden/ Tag) Und wenn er etwas will (sofern man das bei einem 8 Monate alten Kind so sagen kann), dann kann er das sehr gut einfordern. Kurz und gut, er ist ein supertolles aber sehr forderndes Kind. Mein Neffe hingegen, ist sehr ruhig, schläft viel, bleibt ohne zu meckern auch lange Zeit alleine, er ist ein ganz zufriedenes Kind. Meine Verwandtschaft zieht daraus den Schluss: Wir haben unsern Sohn verwöhnt => also ist er anstrengend, fordernd und so weiter. Mein Schwager und seine Frau hingegen machen es richtig => also haben sie ein "liebes" Kind. (Ich bin mit meinem Sohn so wie er ist 100% zufrieden, ich liebe ihn total!! Das ist die meinung meiner Schwiegereltern und des Schwagers + Frau) So, nun habe ich lange erzählt und die eigentliche Frage lautet, ob diese Merkmale, die meine Schwiegereltern als "gut" herausheben und als "schlecht" bezeichnen, nicht einfach NUR Charakter und Typfragen sind !!! Vielen Dank fürs Lesen und für ihre Antwort. P.S.: Ich glaube, dass mein Sohn und ich eine stabile und sichere Mutter- Kind - Bindung haben. Dennoch ist er zur Zeit extrem anhänglich. Ich hoffe, das ist normal ? (Gefremdelt hat er nur sporadisch bei ganz wenigen Personen, die extrem "aufdringlich" waren, ansonsten kaum merkbar) Vielen Dank für Ihre Mühe und Ihre Antwort Anna Feldmann

Mitglied inaktiv - 16.03.2004, 07:51



Antwort auf: anlage-Umwelt-Diskussion

Liebe Anna, der Wissenschaftsstreit in bezug auf Anlage oder Umwelt, was die Charakterbildung angeht, geht ständig hin und her. Im Moment sieht es nach ungefähr fifty-fifty aus. Aber auch das kann sich wieder ändern. Ja, die "Anlage-Vertreter" sind wieder im Vormarsch, seit man glaubt, bald das menschliche Genom entschlüsselt zu haben. Problem ist nur, daß es viel zu wenig Gene gibt beim Menschen, die ungeheure Vielzahl der Verschiedenheiten im Charakter zu erklären. Da müssen also noch viele andere Einflüsse dazukommen. Ich meine, aus der Bindungstheorie, der Vorstellung von der emotionalen Integration (mein Konzept) und der Selbstentstehungstheorie werden die fehlenden Bausteine kommen, die für Entwicklungsvielfalt der Persönlichkeiten notwendig sind. Aber natürlich gibt es Anlagen, und daß Ihr Neffe(?) so verträglich erscheint, kann durchaus hauptsächlich an seinem "günstigen Temperament" liegen. Ebensogut kann ein auffallend ruhiges, ausgeglichen scheinendes Kind wenigstens am Ende des 1. Lebensjahres ein unsicher-vermeidendes Kind sein, was einen Risikofaktor darstellt für komplizierte Loslösungsprozesse im weiteren Verlauf (z.B. aggressiv-oppositionelles Verhalten). Ein solches Kind erschien nur deshalb so ruhig, weil es mit Macht zur Ruhe konditioniert worden ist. Die guten Wirkungen zugewandten, einfühlsamen Verhaltens in den ersten drei bis vier Lebensjahren erweisen sich immer klarer dann, wenn das Kind im weiteren Verlauf seines lebens in größere soziale Zusammenhänge kommt (Kindergarten, Schule, Jugendgruppe, Großfamilie, Beruf usw.). Viele Grüße und weiter so!

von Dr. med. Rüdiger Posth am 17.03.2004



Antwort auf: anlage-Umwelt-Diskussion

Hallo, bin zwar nicht Dr. Posth, habe mir aber auch mal Gedanken dazu gemacht. Ich denke, dass Veranlagung schon eine gewichtige Rolle spielt, also ob ein Kind fordernd und temperamentvoll ist oder eher ruhig und genügsam. Die Umwelt feilt aber an dieser Veranlagung ganz entschieden herum, so kann aus einem ruhigen Baby durch falsche Handhabung sicher später ein kleiner Tyrann werden. Oder aus einem fordernden Baby später ein ausgeglichenes und in sich ruhendes Kind, das mit seinem Temperament gut umzugehen weiß. Insofern denke ich, dass dein Schwager eventuell ein ruhiges Baby hat, was die Veranlagung betrifft. Durch Schreien lassen und alleine lassen kann sich das aber später problemlos ins Gegenteil verkehren. Bei deinem Kind liegt vielleicht ein starkes Temperament vor, das aber eventuell durch euer liebevolles Zutun später kein Problem sein wird. Ich denke, erst im zweiten Lebensjahr liegen die Karten auf dem Tisch. Also sollte dein Schwager den Mund nicht zu voll nehmen. Und du darfst also gespannt sein wie es in ein oder zwei Jahren aussieht... Alles Gute, Kerstin

Mitglied inaktiv - 16.03.2004, 08:41



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