Sehr geehrter Herr Dr. Posth
Wir haben vor 3.5 Monaten unseren Sohn aus Russland adoptiert. Er war 2.5 Jahre, wog 9 kg, konnte nicht laufen und war emotional sicher sehr stark vernachlässigt. (1 Betreuerin für 90 Kinder, ass dort nur Haferbrei, war den ganzen Tag in seinem Bett, ect... ) Sie können sich die katastrophalen Zustände sicher in etwa vorstellen. Nun nach drei Monaten hat er bei uns laufen gelernt, und isst auch alles und er hat sehr gut zugenommen. Hin und wieder lacht er auch schon, er hat sich an die Natur ein bisschen gewöhnt (kannte ja kein Gras und keinen Himmel, usw.) körperlich ist er drauf und dran sich zu erholen. Aber emotional ? Wir wissen es nicht. Wird er es schaffen diese stabile Beziehung zu uns aufzubauen, wie sie sie in Ihrem Artikel beschreiben ? Wird es für seine emotionale Entwicklung reichen, dass ich (Mutter) immer für ihn da bin oder muss er zusätzlich eine Therapie machen ? Wenn ja welche ? Um Ihre Meinung wäre ich sehr froh.
Vielen Dank,
Marianne
Mitglied inaktiv - 17.11.2003, 09:30
Antwort auf:
Adoptivkind - emot. Entwicklung
Stichwort: Adoptivkinder
Liebe Marianne, Ihrem Engagement gebührt Anerkennung. Solche Kinder hätten sonst überhaupt keine Chance im Leben. Es gibt da schon grausame Dinge!
Es ist klar, daß bei sonstiger körperlicher Gesundheit Adoptivkinder schnell ihr Gewichts- und auch Größendefizit aufholen.
Aber das emotionale Defizit kann erst ganz langsam kompensiert werden. Dazu bedarf es viel Geduld, Einsicht und auch Fingerspitzengefühl der Adoptiveltern. Wenn man sich dazu psychologische Hilfe holt, ist das durchaus verständlich.
Aber zunächst sollte man versuchen, seine meist ja neue Elternrolle, die häufig mit einem Kind mitten in der Kindheit anfängt, selbst zu bewältigen. Dabei ist zuerst einmal zu bedenken, daß man es nahezu immer mit bindungsgestörten Kindern zu tun hat. Da zumeist nie eine konstante Bezugsperson zur Verfügung gestanden hat, bewegt sich diese Bindungsstörung im Bereich der Vermeidung. D.h. das Kind vermeidet es grundsätzlich, Gefühle seinen Eltern zu zeigen, obwohl es diese Gefühle hat. Diese Gefühle sind in der Regel geprägt von dem, was auch ein kleiner Säugling spürt, nämlich Sehnsucht nach Vertrauen und Zuversicht. Das Kind wird "nachladen" wollen, um doch noch eine Art primäre Bindung herzustellen. Die Vermeidung der Gefühle, die das Kind dafür seinen Adoptiveltern offerieren muß, stellen aber schon die erste Hürde dar. Eltern, die das nicht verstehen, halten die Kinder für abweisend und bindungsunfähig und wollen sie bald wieder zurückgeben. Dann erlebt das Kind einen doppelten Niederschlag.
Also wird man die feinen Zwischentöne zu erspüren suchen, die man dann zuverlässig und sehr eindeutig mit positiven Gefühlen beantwortet. Entwickelt das Kind dann das nötige Vertrauen, geht es meist zügig weiter mit allen Folgeerscheinungen der Bindung (s. mein Text). Die werden dann wie im Zeitraffer in viel kürzerer Zeit durchlaufen, was den Eltern erneut Probleme bereitet, da sie zumeist nicht begreifen, was eigentlich abläuft. Oder sie sind darauf schlichtweg nicht vorbereitet. Zu bedenken ist auch, daß die vorangeschrittene kognitive Entwicklung manche spontane Reaktion durchkreuzt und der Berechnung unterzieht. Dann darf man sich nicht ausgenutzt fühlen. Es ist logisch, daß das Kind so reagiert. Immerhin sitzt ihm immer noch die Angst vor Verstoßung im Nacken, denn das Urvertrauen hat es nur im Nachladeverfahren erworben. Jedes adoptierte Kind jenseits von 2 Jahren spürt meines Erachtens, daß die Adoptiveltern nicht die leiblichen Eltern sind. Aber das macht eigentlich nichts, denn es kann genausogut Liebe zu Adoptiveltern entwickelt, wie zu den eigenen.
Man wird verstehen müssen, daß alle Erscheinungen von leiblichen Kindern auch bei Adoptivkindern auftreten, was in diesem Fall ein sehr gutes zeichen ist. Also z.B. Anhänglichkeit, Trotz, Scham, Aggression und all die anderen Erscheinungen von Kindern, die Schwierigkeiten bereiten können, treten auch bei Adoptivkindern dann auf, was man zu akzeptieren hat und mit Befriedigung aufnehmen darf, denn es zeugt von einer entstandenen, nun doch noch weitgehend sicheren Bindung!
Auf keine Fall darf man jetzt denken, Trotz und Aggression gebührten dem Adoptivkind nicht, denn es hätte ewig dankbar zu sein. Ich glaube, daß ist der größte Fehler, der Adoptiveltern unterlaufen könnte. Alles Gute
von
Dr. med. Rüdiger Posth
am 17.11.2003
Antwort auf:
Adoptivkind - emot. Entwicklung
Hallo!
Zum Thema kann ich dir gar nichts sagen, aber dennoch:
Ich finde es so klasse und mutig, dass ihr so einem verlorenen, kleinen Jungen eine richtige Chance und Zukunft bietet! Das ist sicherlich kein leichter Weg, ein Kind aus solchen Umständen zu sich zu nehmen und diese Probleme in Angriff zu nehmen.
Ganz große Hochachtung vor eurer Entscheidung! Und alles Gute für euch und den Kleinen!!
Liebe Grüße
Nicole
Mitglied inaktiv - 17.11.2003, 13:49
Antwort auf:
Adoptivkind - emot. Entwicklung
Hallo !
Ich kann mich nur anschliessen !!
Ziehe meinen "Hut" vor Eurem Mut und wünsche Euch viel innere Stärke !
Bin gespannt, was Dr.Posth antwortet.
Als Mutter will ich aber auch an Deinen "Muttersinn" appellieren, der Dir sicher sagen wird, ob es Deinem Kind zunehmend besser geht oder etwas elementar nicht stimmt.
Du bist jetzt ja der "Profi" für Dein Kind ich kann Dir nur raten viel auf Dein Gefühl zu hören (und weniger auf Psychologenmeinung, wenn es nicht wirklich akute Probleme gibt).
Ich sage das deshalb, weil ich Leute kenne, die mit Adpotivkindern ständig in Therapie waren wo es meiner Meinung nach konstante Anwesenheit, viel Nähe, viel Zeit und vorallem viel Vertrauen besser getan hätte.
Alles Gute !!!!
Cosma :-)
Mitglied inaktiv - 17.11.2003, 14:14