Sexuelle Identität

Dr. med. Ludger Nohr Frage an Dr. med. Ludger Nohr Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Frage: Sexuelle Identität

Sehr geehrter Herr Dr. Nohr, angeregt durch die vorangegangene Frage "3-jährige möchte ein Junge sein" möchte ich Ihnen gerne die Frage stellen inwieweit sich geschlechterneutrale "Erziehung" auf die Findung der sexuellen Identität auswirken kann. Unser Sohn (4 Jahre) darf seit Anfang an frei aufwachsen in Bezug auf Farben, Kleidung, Spielzeug etc. Ausschließlich "typische" Jungen-Sachen gab es noch nie. Hierauf hat vorallem meine Frau immer sehr geachtet. In der Vergangenheit spielte er viel mit Puppen, er trägt bei heißen Temperaturen lieber Röcke und Kleider statt Hosen usw. Er spielt auch nicht favorisiert nur mit Jungen (sondern mit Mädchen und Jungen). Wir sprechen auch selten von "Mädchen" und "Jungen" sondern von Kindern. Zur Entwicklung von Kindern in diesem Alter las ich öfter, dass Jungen als auch Mädchen sich eher für das eigene Geschlecht interessieren und dass Jungen "typische Jungen-Sachen" und Mädchen "typische Mädchensachen" spielen würden (dazu gab es auch eine Erklärung, die mir leider entfallen ist). Dies ist bei meinem Sohn absolut nicht der Fall. Ich finde dies zwar nicht besorgniserregend frage mich aber doch, inwieweit sich diese geschlechterneutrale "Erziehung" auswirken kann. Auch habe ich das Gefühl, dass er sich eher seine Mutter und nicht mich als Role model ausgesucht hat. Ich danke für Ihre Antwort.

von RichardSaum am 21.06.2021, 13:52



Antwort auf: Sexuelle Identität

Hallo, die sexuelle Identitätsentwicklung und die unterschiedlichen Einflüsse darauf sind ein spannendes Thema. Grundsätzlich kann man sagen, dass es neurobiologische und Umgebungseinflüsse gibt, die in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich wirksam sind. So ist die für die sexuelle Entwicklung wichtige Hirnregion bei Jungen und Mädchen bis ca. zum 4 LJ ähnlich ausgebildet, bleibt dann bei Jungen gleich und verkleinert sich bei Mädchen. Trotzdem kann man auch schon früher bei vielen Jungen eine Hinwendung zu mehr "technischem" Spielzeug sehen, während sich Mädchen mehr von "sozialem" Spielzeug (Puppen usw.) angezogen fühlen. Zu diesen neurobiologischen Voraussetzungen kommt dann recht früh meist eine Einstimmung durch die Umgebung auf das Geschlecht. Das verstärkt dann i.d.R. die Selbstannahme und verfestigt sich mit der Zeit mehr und mehr zu einer sex. Identitätsvorstellung. Die Möglichkeit der Nichtfestlegung bedeutete für Ihren Sohn sicher eine Freiheit in der Entwicklung. Allerdings wird im KK- Alter die Wirkung der sozialen Kontakte (KiTa, Verwandschaft, Nachbarschaft) immer größer. Das kann man nicht vermeiden, sollte aber darauf achten, dass nicht zu viele beschämende Erfahrungen gemacht werden müssen oder diese zumindest aufgefangen werden können. Leider kann unsere Gesellschaft (soziale Gruppen überhaupt) nicht gut mit Verhalten umgehen, das von der eigenen Annahme abweicht und somit das Selbstbild potentiell bedroht. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Die Zeit, in der Sie üblicherweise Rollenvorbild sind (die Lösung der ödipalen Frage durch mehr Identifikation und Hinwendung zum Vater) kommt noch und es wäre schön, wenn Sie dafür zur Verfügung stehen würden. Dr.Ludger Nohr

von Dr. med. Ludger Nohr am 22.06.2021



Antwort auf: Sexuelle Identität

Haben Sie vielen Dank für Ihre Antwort. Wir leben in der Großstadt, bisher kam es soweit uns bekannt ist nicht zu beschämenden Kommentaren von Dritten (früher eher betont positive Kommentare, die ich eher für übertrieben hielt). Bei Spiel-Verabredungen mit Mädchen will er z.B. Prinzessin sein, bei Verabredungen mit Jungen dann eben Pirat. Es freut mich, dass Sie die ödipale Phase noch ansprechen, denn die geht bei uns jetzt los (bzw. ist sie für uns seit einigen Wochen auffällig - "Papa soll weg" und "Mama, Du bis süß." ) Wenn Sie hierfür noch einen Tipp hätten wie wir Eltern uns "gut" verhalten wäre ich sehr dankbar.

von RichardSaum am 22.06.2021, 14:21



Antwort auf: Sexuelle Identität

Sie sollten ehrlich damit umgehen. Das heißt, dass Sie schon zeigen können, dass Sie die "Zurückweisung" betrübt, dass Sie das aber aushalten und nicht auf gleicher Ebene reagieren. Sie sollten also Ihr Gefühl weder unterdrücken noch verschweigen, aber weiter zur Verfügung stehen. Ist gar nicht so einfach. Dr.Ludger Nohr

von Dr. med. Ludger Nohr am 23.06.2021