einfach menschlich oder versagt?

 Katrin Simon Frage an Katrin Simon Ausbilderin von Kinderkrankenschwestern

Frage: einfach menschlich oder versagt?

Hallo Frau Simon, mich plagt mein schlechtes Gewissen. Mein Sohn ist nun über 15 Monate alt und es passiert mir seitdem er 12 Monate alt ist bestimmt einmal bis zweimal monatlich, dass ich ihm gegenüber laut werde, weil er eben bestimmt Dinge nicht mehr mitmachen mag. Zum Beispiel mag er sich oft nicht anziehen lassen, ich möchte keinen Zwang anwenden, aber wenn er immer wieder wegläuft, dann fühle ich mich einfach hilflos, was dann darin endet, dass ich laut werde. Ich beschimpfe ihn nicht, aber ich sage eben sehr laut und ärgerlich "Ich möchte jetzt raus und ich will dich jetzt anziehen". Letztes bin ich auch mal kurz (10 Sekunden) in einen anderen Raum gegangen und habe die Tür geschlossen um ruhiger zu werden. Aber dennoch war ich noch angespannt und im Anschluss ihm gegenüber im Auto sehr wortkarg und kühl. Als ich runterkam, habe ich mich auch bei ihm entschuldigt. Ein anderes Mal habe ich mich gleich entschuldigt. Es tat mir so weh, den Schmerz in seinen Augen zu sehen, weil er mich doch sonst so gar nicht kennt. Ich möchte ihn bedürfnisorientiert begleiten und dann passiert mir so etwas... und das nun eben nicht nur einmal. Er ist doch noch so jung auch wenn er schon einen großen eigenen Willen hat. Dann fühle ich mich oft als schlechteste Mutter überhaupt, dabei ist er ein absolutes Wunschkind. Er wurde lange gestillt, schläft im Familienbett und ich habe ihn nie schreien lassen. Nun lese ich oft, dass sich das Selbstgefühl vorrangig in den ersten 2 Jahren entwickelt. Ich bin sehr besorgt durch diese Situationen bzw. die Häufigkeit des Lautwerdens schon Spuren in seiner Seele hinterlassen zu haben, dass er sich unzulänglich und abgelehnt fühlen könnte. Ich bin insgesamt sehr kritisch mit mir selbst und auch wenn mir mal ein genervtes "Ach Nein, Leo" oder "Ach Mensch, Leo" rausrutscht, was sicher öfter mal passiert, mache ich mir ewig Gedanken, dass er sich fehlerhaft fühlen könnte. Er wurde eben auch recht schnell mobil und krabbelte mit 7 Monaten durch die Wohnung, wo ich eben auch manchmal genervt war, wenn er immer und immer wieder z.B. die Räder des Kinderwagens ablecken wollte. Ich arbeite sehr daran, dass ich andere Wege finde und einfach ruhig und gelassen bleiben kann. Mir ist ja bewusst, dass er mich nicht ärgern will. Er ist insgesamt sehr aufgeweckt, mutig, fordert sich meine Aufmerksamkeit ein, wenn er sie braucht, kann sich aber auch mal gut allein beschäftigen. Er wirkt im Alltag auch absolut nicht verängstigt. Und ist die Tatsache, dass er weiterhin seinen eigenen Willen gut kundtut ein Zeichen dafür, dass ihm das Lautwerden noch nicht geschadet hat (er sich also nicht unterwirft)? Ich wünsche mir für ihn nichts mehr, als dass er einmal selbstbewusst und selbstbestimmt durchs Leben geht. Ich hoffe Sie können mir meine Sorgen etwas nehmen. In meinem Umfeld gehen alle wesentlich entspannter damit um, wenn sie mal falsch reagiert haben. Aber ich kann das irgendwie nicht. Beste Grüße

von pacificocean am 10.12.2017, 22:04



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Liebe pacificocean, ich weiß, um Ihr schlechtes Gewissen und Ihre Gewissensbisse Ihrem Sohn gegenüber. Die emotionalen Ausbrüche tun Ihnen beiden nicht gut und fordern deshalb, dass eine Änderung eintreten sollte. Das fühlen Sie und Ihr Sohn zeigt es. Die vorangegangene Diskussion habe ich aufmerksam verfolgt und kann vielen Argumenten nur zustimmen. Wichtig ist, dass Sie für sich selbst akzeptieren, dass Sie selbst "nur" ein Mensch sind und nicht 24h Stunden am Tag als ausgeglichene immer zugewandte Mutter agieren können. Niemand würde das nur annähernd verlangen und vor allem auch selbst praktizieren können. Das innige Beisammensein mit den Eltern/ der Mutter im alltäglichen ist für ein Kind wunderbar. Denn- es lernt einen Menschen sehr authentisch kennen und nicht fachlich ausgerichtet "pädagogisch wertvoll". D.h. Ihr Kind hat die Chance auch mit echter Wut, Ungeduld usw. zu lernen umzugehen. Dies ist bei Kindern, die recht früh von fremden Bezugspersonen betreut werden, in der Form nicht möglich. Das, was Ihr Kind ausserdem lernt ist, dass Sie sich aufgrund einer vorangegangenen Diskrezpanz ihm wieder zuwenden. Liebevoll, gehalten und sich bei Ihrem Kind entschuldigen. Ja! es versteht dies kognitiv nicht- aber! es spürt Ihr Zugehen. Ihr Kind hat und wird keinen "Schaden" erleiden durch ihren Ausbruch. Aber- es täte Ihnen beiden besser, wenn es nicht mehr dazu käme, weil Ihre Emotionaltiät nachhaltig so schwermütig beeinflusst ist und sich eher diese auf Ihr Kind auswirken könnte. Was kann man tun? - haben Sie reflektiert, ob Sie u.U. Pausenzeiten für sich brauchen? Freiraum in Punkto Sport, Kultur, Freundinnen, Zweisamkeit mit dem Partner ...? Einfach mal raus und durchatmen. Die Angespanntheit ist ein Ausdruck, dass Sie an einer emotionalen Stelle überladen sind und dieser Stress abgebaut werden sollte. - machen Sie sich frei von Vergleichen zu anderen Müttern. Schauen Sie nur auf sich und Ihr Kind. Sie und Ihr Kind sind so wie Sie sind. Auch wenn es irgendwo anders augenscheinlich z.B. beim Anziehen ruhiger verläuft oder kooperativer, heisst es nicht, dass es an anderer Stelle auch dort angespannte Situationen gibt. Blenden Sie zu idealistische Empfehlungen oder die "Vorzeigemutter" aus ;). - geben Sie sich Zeitpuffer beim Anziehen oder den Dingen, die Sie miteinander vorhaben. Kündigen Sie eine anstehende Aktion an und erinnern immer wieder. Achten Sie darauf, dass Ihr Sohn nicht im Spiel ist oder kurz bevorsteht- denn dann ist verständlich, dass er länger braucht, um sich einer neuen Anforderung zuzuwenden. - Binden Sie Ihren Sohn in das eigene Handeln ein. Viele Kinder möchten selbst Tun und können oft schon viel mehr, als man glaubt. - schauen Sie, wie lange Sie sich wohlfühlen. Tatsächlich kann die Ungeduld bei Ihnen als Mama auch deshalb sein, weil die eigenen Bedürfnisse ausgeblendet werden. Spüren Sie erst bei sich. Durst stillen, kurz noch auf die Toilette, Kleidung nicht zu warm; weil einem eh schon warm genug wird in einer angespannteren Situation, alle Dinge vorbereitet, die man braucht.... - es kann helfen, wenn man eine Stresssituation durch eigenes Summen/ Singen begleitet und sich damit selbst reguliert D.h. Spannungen so abgebaut oder erst gar nicht aufgebaut werden können. Ausserdem kann sich Ihr Kind immer daran orientieren, dass es nun losgeht. - wenn dennoch die Mütze, Schuhe o.a. boykottiert werden, dann schauen Sie, ob man dies einfach im Kinderwagen, Autositz.... anpasst. Manchmal hilft der Schritt nach draussen schon, um klarer/ geduldiger zu werden. - auch Musik im Auto kann guttun! Dies sind ganz praktische Tipps. Meist aber ist der eigene Anspruch eigentlich DIE Hürde, um Situationen entspannt zu begegnen. Lesen Sie einmal das Buch " Erziehen mit Gelassenheit" von Christiane Kutik oder " Gelassen erziehen" von Jesper Juul. Beide Bücher sind großartig und nehmen viel Druck aus dem, was wir uns als Eltern als Ideal auferlegen. Und es lohnt sich, auch bei sich zu schauen ;). Woher kommt mein eigener Anspruch? Gerade jetzt kommen viele Verknüpfungen oder Spiegelungen zur eigenen Kindheit zum Vorschein. Man berührt sich über sein Kind quasi selbst. Vielleicht erkennen Sie etwas, was tief in Ihnen schlummert :). Sie sind eine tolle und liebevolle Mutter! Ganz sicher!!! Wenn Sie sich austauschen möchten mit jemanden, so gibt es vor Ort Hilfen, die man anvisieren kann. Melden Sie sich gerne wieder :). Liebe Grüße von Katrin

von Katrin Simon am 16.12.2017



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Huhu, ich finde nicht, dass Du so falsch reagierst. Klar, es ist die Frage, wie laut Du wirst, aber ich finde es grundsätzlich richtig, dass ein Kind auch mal mitbekommen kann, wenn die Mama ärgerlich ist. Auch Mama ist ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, und die kannst Du auch authentisch äußern. Wahrscheinlich hast Du sowieso erst ein paarmal freundlich das anziehen angesagt, vielleicht vorher vorgewarnt usw., bevor Du ärgerlich rufst "Ich möchte jetzt raus und ich will dich jetzt anziehen!". Dein Kind darf einen eigenen Willen haben, natürlich, aber das heißt meiner Meinung nach nicht, dass Du Dich diesem Willen immer unterordnen solltest. Die Verantwortung ist für Dein Kind noch zu groß. Nur meine Meinung :-).

von zweizwerge am 12.12.2017, 15:54



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Danke für deine Worte. Aber Ich habe ihn schon angeschrieen und das war nicht in Ordnung. Ich war schon wütend. Ich habe zwar nicht richtig gebrüllt, aber so wie er geweint hat, habe ich ihn sicher sehr verletzt. Klar habe ich ihn vorher mehrmals ruhig gebeten zu kommen, habe das Gehen auch vorher angekündigt usw., aber er lief immer wieder weg, stand kopfschüttelnd vor mir und das Ganze ging bestimmt schon 15 - 20 Minuten so. Und dann fühlte ich mich einfach hilflos. Besonders leid tut mir, dass ich eine Weile brauchte um runter zu kommen bevor ich wieder auf ihn zugehen und mich entschuldigen konnte (ca. 5 Minuten). In dieser Zeit war ich eben noch sehr wortkarg und angespannt ihm gegenüber, habe nur kurz und knackig und nach wie vor ärgerlich mit ihm geredet. Ich weiß wie ich es anders machen kann, ich lerne ja aus jeder Situation. Dennoch mache ich mir Sorgen, dass solche Situationen wirklich Spuren hinterlassen. Es ist mir ja nun seit er ein Jahr alt ist bestimmt 6 - 7 x passiert, allerdings nie so heftig (eher wirklich nur lauter aber dennoch sehr ärgerlich geworden) und auch mit direktem anschließenden Zugehen und Einlenken meinerseits. Das einzig positive ist, dass ich immer "Ich-Botschaften" sende ("Ich bin gerade sehr ärgerlich", "Ich kann gerade einfach nicht anders damit umgehen", "Ich möchte,..") ,aber ich glaube in dem Alter ist ihm das wohl auch noch egal, er sieht nur mein ärgerliches Gesicht und hört den lauten Tonfall und ist sichtlich betroffen. Wie gesagt ansonsten bin ich sehr zugewandt und liebevoll. Und es geht auch nicht darum, dass er immer seinen Willen kriegt. Nein, natürlich nicht, wenn es danach ginge, kämen wir nie raus. Aber ich muss es eben definitiv anders begleiten, wenn er nicht mag, ich aber dennoch raus will. Oft klappt es ja auch wesentlich besser... Aber es gibt eben mal so Tage... Das ist jedoch keine Entschuldigung für mein Verhalten.

von pacificocean am 12.12.2017, 21:57



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

kurze ergänzende Frage: Sollte dies schon einen Schaden verursacht haben (es wird ja wohl emotional abgespeichert), ist es durch künftig weiterhin kontinuierlich liebevolle Begleitung wieder auszubügeln?

von pacificocean am 12.12.2017, 22:44



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Ganz ehrlich, ich finde, du solltest als allererstes aus deinem Teufelskreis eine "perfekte, liebevolle" Mutter sein zu müssen raus. Überraschung: du bist 100% liebevoll, aber nicht perfekt! Wie KEIN Mensch! Das scheint dich doch recht zu stressen. Ansonsten schließ ich mich Zweizwerge an. DEin Sohn ist auch kein Säugling mehr. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ein Kind lernen muss, dass es auch andere Menschen mit Bedürfnissen gibt die es gilt zu respektieren. Nur so funktioniert eine Gesellschaft. Ansonsten hätten wir lauter kleine Egoisten und Anarchie um es jetzt ganz bewusst zu übertreiben. Das heißt jetzt nicht, brüllen etc. ist generell ok, sondern ich möchte, dass du dich von dem Gedanken befreist, versagt zu haben. Wie sähe denn für dich die Alternative aus? Wichtig ist, dass du deinem Kind nicht sagst, DU bist blöd etc, sondern dein Verhalten ist jetzt nicht ok. Oder ich hab dich lieb aber akzeptiere nicht, dass du dieses oder jenes veranstaltest. Es wird! Versuche dich zu entspannen und selbst zu akzeptieren. Dann wird alles leichter

von Mrs. Winterbottom am 13.12.2017, 12:07



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Ja, vom Perfektionismus zu befreien bzw. zu lernen mir selbst zu verzeihen, ist in der Tat eine wichtige Aufgabe für mich. Dennoch belastet mich die Sache sehr, da mein Kind vermutlich noch nicht versteht, dass ich ICH-Botschaften gesendet habe. Und den Raum wechseln um etwas durchzuatmen, hat mein Kind vermutlich als "Ich liebe dich nicht mehr"-Reaktion verstanden, da er wirklich sehr weinte. Ebenso mein Wortkarg-sein. So langsam glaube ich diese Raumwechsel-Strategie sollte man nur bei älteren Kindern machen und ihnen vorher sagen, dass "ich eben gerade einen Moment für mich brauche". Ich möchte, dass er sich immer geliebt fühlen kann, auch wenn er gerade anders reagiert als ich es möchte... Und genau das habe ich eben verbockt, ich als sein Ort der Sicherheit sende ihm solche Signale... und ich kann es nicht loslassen...

von pacificocean am 14.12.2017, 15:04



Antwort auf: einfach menschlich oder versagt?

Also ich persönlich finde dem Kind verbal (also auch mal laut und ärgerlich werden) 1000 mal besser als sein Kind zu schlagen. Gewalt anwenden würde ich niemals, dann besser mal verbal und das Kind schlimmstenfalls nehmen und ein paar Meter weiter von einem wegsetzen. Damit es so merkt, dass etwas von ihm falsch gemacht wurde. Natürlich vorher einige Male das Kind ermahnen und wenn es nicht horcht es aufnehmen und wo anders hinsetzen. Das Weinen ist natürlich schlimm, aber in dem Moment merkt er sicher, dass etwas von ihm falsch gemacht wurde. Anders geht es halt nicht mit dem Lernen in dem Alter. Nur durch erklären kann man den Kindern leider nichts verständlich machen. Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Soll Dein Kind etwa krank werden, weil es wie erwähnt Kinderwagenräder ableckt, da muss man es wegsetzen. Da kann ja sonstwas ekliges dran sein... Wie die Vorredner schreiben ohne das ein Kind an Grenzen kommt geht es nicht. Sonst wird das mal ein erwachsener Egoist. Wir Erwachsene können ja auch nicht einfach machen was wir wollen. Regeln gibt es überall und nur so können wir letztenendes zusammen leben. Und man muss das Kind ja auch vor Gefahren beschützen, zB muss man es an der Strasse festhalten, wenn es sich losreissen und zu einem fahrenden Auto rennen will. Das ist lebensgefährlich. Da kann man ihm seinen Willen nicht lassen. Versuche mal anziehen auf dem Bett oder Wickeltisch im Liegen und Sitzen... dann kann er Dir nicht wegrennen. Mütze und Jacke zur Not vor der Haustür anziehen, damit er merkt draussen ist es tatsächlich kalt. Alles Gute!

von Mikro81 am 20.12.2017, 08:30