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Geschrieben von KH am 07.08.2004, 16:49 Uhr

Leseprobe

4. März 1973
Daly City, Kalifornien

Ich habe große Angst. Meine Füße sind kalt, und mein Magen knurrt. In der Dunkelheit der Garage strenge ich meine Ohren an, um auch das leiseste Knarzen von Mutters Bett zu erhaschen, wenn sie sich oben in ihrem Schlafzimmer umdreht. Der Art von Mutters trockenem Husten kann ich entnehmen, ob sie noch schläft oder demnächst aufstehen wird. Ich bete, dass sie sich nicht wach hustet. Ich bete, dass mir noch etwas Zeit bleibt. Nur noch ein paar Minuten, bevor ein neuer Tag in der Hölle beginnt. Ich schließe die Augen, so fest ich kann, und murmele ein kurzes Gebet, obwohl ich weiß, dass Gott mich hasst.
Weil ich es nicht wert bin, ein Mitglied der »Familie« zu sein, liege ich ohne Decke auf einem alten, ausgeleierten Feldbett in der Garage. Um es so warm wie möglich zu haben, kugele ich mich ganz fest zusammen. Ich ziehe mir das Hemd über den Kopf, damit es wie ein Zelt wirkt, und stelle mir vor, dass die Luft, die ich ausatme, Gesicht und Ohren irgendwie warm hält.
Meine Hände stecke ich entweder zwischen die Beine oder in die Achselhöhlen. Wenn ich mich stark genug fühle – aber nur, wenn ich ganz sicher bin, dass Mutter schläft –, hole ich mir von einem Haufen Schmutzwäsche einen Lappen und wickele ihn mir um die Füße. Um warm zu bleiben, würde ich fast alles tun.
Warm bleiben heißt am Leben bleiben.
Ich bin seelisch und körperlich erschöpft. Schon seit Monaten kann ich selbst in meinen Träumen nicht mehr entfliehen. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht wieder einschlafen. Mir ist einfach zu kalt. Ich kann nicht verhindern, dass meine Knie zittern. Ganz vorsichtig reibe ich meine Füße aneinander, weil ich irgendwie das Gefühl habe, dass Mutter schnelle Bewegungen hören könnte. Ich darf nichts tun, was Mutter nicht ausdrücklich erlaubt hat. Obwohl ich weiß, dass sie in der unteren Koje des Stockbetts im Zimmer meines Bruders eingeschlafen ist, habe ich das Gefühl, dass sie mich weiterhin unter Kontrolle hat.
Mutter hat mich immer unter Kontrolle.
Meine Gedanken beginnen sich im Kreis zu drehen, als ich mich mit größter Anstrengung an Vergangenes zu erinnern versuche. Ich weiß, dass die Antworten, die mir helfen können zu überleben, in meiner Vergangenheit liegen. Außer von dem Gedanken an Essen, Wärme und Überleben wird mein Leben nur von einem einzigen Wunsch beherrscht: Ich möchte wissen, warum Mutter mich so behandelt, wie sie es tut.
Schon meine ersten Erinnerungen an sie haben mit Vorsicht und Angst zu tun. Als ich vier Jahre alt war, konnte ich dem Klang ihrer Stimme entnehmen, was für ein Tag mir bevorstand. Immer wenn Mutter geduldig und freundlich war, war sie meine »Mami«. Aber wenn sie schlechte Laune hatte und sich über alles aufregte, verwandelte sich »Mami« in »Mutter« – eine kalte, böse Frau, die zu unerwarteten Gewaltausbrüchen neigte. Bald hatte ich solche Angst, Mutter in die Quere zu kommen, dass ich nicht einmal zur Toilette zu gehen wagte, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen.
Als kleiner Junge merkte ich auch, dass meine liebe Mami, je mehr sie trank, immer stärker ins Hintertreffen geriet und die Persönlichkeit von Mutter die Oberhand gewann. An einem Sonntagnachmittag, noch bevor ich fünf Jahre alt war, kugelte mir Mutter bei einem ihrer durch Trunkenheit bedingten Gewaltausbrüche unabsichtlich den Arm aus. Noch im selben Augenblick wurden ihre Augen so groß wie Silberdollars. Sie wusste, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Sie wusste, dass sie die Kontrolle über sich verloren hatte. Dieses Verhalten übertraf ihre üblichen »Behandlungsmethoden« deutlich. Sonst erhielt ich nur Schläge ins Gesicht, Hiebe auf den Körper oder wurde die Treppe hinuntergestoßen.
Doch schon damals entwickelte Mutter einen Plan, ihre Spuren zu verwischen. Nachdem sie mich am nächsten Morgen ins Krankenhaus gefahren hatte, erzählte sie dem Arzt weinend, ich sei nachts aus meinem Stockbett gefallen. Sie sagte, sie habe verzweifelt versucht, mich aufzufangen, und mache sich schwere Vorwürfe, dass sie nicht schnell genug reagiert habe. Der Arzt zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als wir wieder zu Hause waren, zweifelte auch Vater, der als Feuerwehrmann immerhin in erster Hilfe ausgebildet war, Mutters seltsame Geschichte nicht an.
Während Mutter mich hinterher an ihre Brust drückte und liebkoste, wusste ich, dass ich unser Geheimnis niemals, unter keinen Umständen, verraten durfte. Schon damals glaubte ich an die Rückkehr der guten Zeiten, die ich mit Mami erlebt hatte. Ich glaubte, Mutter würde irgendwie aus ihrem Trunkenheitsschlaf erwachen und diese Seite ihrer Persönlichkeit für immer verbannen. Als ich mit vier Jahren in ihren Armen lag, dachte ich, das Schlimmste wäre überstanden und Mutter würde sich ändern.
Doch das Einzige, das sich änderte, waren die Intensität von Mutters Wut und meine geheime, ganz in die Privatsphäre verbannte Beziehung zu ihr. Als ich acht war, durfte mein Name nicht mehr ausgesprochen werden. Sie hatte »David« durch »der Junge« ersetzt. Bald erschien ihr auch »der Junge« noch zu persönlich, und so ging sie dazu über, mich »Es« zu nennen. Weil ich kein Mitglied der »Familie« mehr war, wurde ich in die Garage verbannt und musste dort wohnen und schlafen. Wenn ich nicht auf meinen Händen auf der untersten Treppenstufe sitzen musste, bestand meine Aufgabe darin, Sklavendienste zu verrichten. Wenn ich eine von Mutters zeitlichen Vorgaben für meine Aufgaben nicht einhalten konnte, wurde ich nicht nur geschlagen, sondern bekam auch nichts zu essen. Mehr als einmal weigerte sich Mutter über eine Woche lang, mir etwas zu essen zu geben. Bei ihren Kontroll- und Macht-»Spielchen« bereitete es Mutter die größte Freude, Essensentzug als letzte Waffe einzusetzen.
Je bizarrer die Dinge waren, die mir Mutter antat, desto sicherer schien sie sich zu sein, dass sie mit allem durchkommen würde. Nachdem sie mir den Arm über der Gasflamme auf dem Herd verbrannt hatte, erzählte sie den erschrockenen Lehrern, ich hätte mit Streichhölzern gespielt und mich dabei verbrannt. Und nachdem sie mir mit einem Messer in die Brust gestochen hatte, erzählte sie meinen verängstigten Brüdern, ich hätte sie angegriffen.
Jahrelang tat ich alles, was ich konnte, um vorauszudenken und ihr irgendwie ein Schnippchen zu schlagen. Bevor Mutter zuschlug, versteifte ich Teile meines Körpers. Und wenn sie mir nichts zu essen gab, stahl ich Essbares, wo immer ich konnte. Als sie mir rosafarbenes Geschirrspülmittel einflößte, behielt ich die Flüssigkeit so lange im Mund, bis ich sie in der Garage in den Mülleimer spucken konnte, wenn sie nicht hinsah. Den Attacken von Mutter auf irgendeine Weise die Wirkung zu nehmen – darum drehte sich mein ganzes Denken. Kleine Siege erhielten mich am Leben.
Die einzige Möglichkeit, dem zu entkommen, waren meine Träume gewesen. Wenn ich mit zurückgelegtem Kopf am Fuß der Treppe saß, sah ich mich wie meinen Helden Superman durch die Luft fliegen. Wie Superman glaubte ich, zwei Identitäten zu besitzen. Meine Clark-Kent-Persönlichkeit war das Kind namens »Es« – ein Ausgestoßener, der aus Mülleimern aß, lächerlich gemacht wurde und nicht dazugehörte. Manchmal, wenn ich auf dem Küchenfußboden hingestreckt lag und nicht einmal mehr wegkriechen konnte, wusste ich, dass ich Superman war. Ich wusste, dass ich eine innere Stärke und eine geheime Identität hatte, von der niemand anders etwas merkte. Ich begann fest daran zu glauben, dass, sollte Mutter versuchen, mich zu erschießen, die Kugeln an meiner Brust abprallen würden. Ganz gleich, welche »Spiele« Mutter sich ausdächte, ganz gleich, wie schlimm sie mich angriffe, ich würde am Ende Sieger bleiben. Ich würde überleben. Manchmal, wenn ich die Schmerzen oder die Einsamkeit nicht mehr ausblenden konnte, brauchte ich nur meine Augen zu schließen und in Gedanken wegzufliegen.
Einige Wochen nach meinem zwölften Geburtstag trennten sich meine Eltern. Superman verschwand. Meine ganze innere Stärke schrumpfte dahin. Da wusste ich, dass Mutter mich umbringen würde – wenn nicht an diesem Samstag, dann eben irgendwann in naher Zukunft. Wenn Vater nicht mehr da war, ließ sich Mutter durch nichts mehr aufhalten. Obwohl Vater jahrelang, an seinem abendlichen Drink nippend, bisweilen angeekelt zugeschaut hatte, wie Mutter mich zwang, teelöffelweise Ammoniak zu schlucken, und obwohl er achselzuckend hingenommen hatte, dass sie mich windelweich schlug, hatte ich mich trotzdem immer sicherer gefühlt, wenn er zu Hause war. Doch nachdem Mutter Vaters wenige Habseligkeiten vor die Tür geworfen hatte und weggefahren war, faltete ich meine Hände, so fest ich konnte, und flüsterte: »… und erlöse mich von dem Bösen. Amen.«
Dieser Vorfall liegt nun schon fast zwei Monate zurück, und Gott hat auf mein Gebet nicht geantwortet. Jetzt, in der Kälte der Garage vor mich hin zitternd, weiß ich, dass das Ende nicht mehr fern ist. Ich weine, weil ich nicht den Mut oder die Kraft habe, zurückzuschlagen und mich zu wehren. Ich bin einfach zu müde. Acht Jahre ständiger Quälerei haben mir die Lebenskraft genommen. Ich falte meine Hände und bete, dass Mutter, wenn sie mich schon töten will, wenigstens so gnädig sein möge, es schnell zu tun.
Ein Gefühl der Benommenheit überkommt mich. Je intensiver ich bete, desto stärker wird der Eindruck, dass ich in den Schlaf sinke. Meine Knie hören auf zu zittern. Meine Finger werden lockerer und graben sich nicht mehr so fest in die Knöchel ein. Bevor ich einschlafe, sage ich zu mir selbst: »Gott … falls du mich hörst, kannst du mich irgendwie hier wegbringen? Bitte hol mich weg. Hol mich noch heute weg!«
Mein Oberkörper schnellt hoch. Ich höre, wie oben die Fußbodenbretter unter Mutters Gewicht ächzen. Nur einen Augenblick später folgt ihr würgender Husten. Ich kann sie mir fast bildlich vorstellen, wie sie sich vornübergebeugt fast die Lunge aus dem Leib hustet, als Folge jahrelanger Kettenraucherei und ihres selbstzerstörerischen Lebensstils. Mein Gott, wie ich ihren Husten hasse!
Die Dunkelheit des Schlafes vergeht schnell. Mein Körper wird von einem Frösteln erfüllt. Ich würde so gern für immer schlafen. Je mehr ich aus meinem Schlummer erwache, desto mehr verfluche ich Gott, dass er mich nicht im Schlaf zu sich genommen hat. Er erhört meine Gebete nie. Ich wünsche mir so sehr, nicht mehr am Leben zu sein. Ich habe nicht mehr die Energie, noch einen weiteren Tag in diesem »Haus« zu leben. Ich kann mir keinen weiteren Tag mit Mutter und ihren schrecklichen Spielen mehr vorstellen. Ich breche zusammen und weine. Wie ein Wasserfall strömen die Tränen über mein Gesicht. Früher war ich so stark. Aber jetzt kann ich nicht mehr.
Mutters Stolpern bringt mich in meine schreckliche Realität zurück. Ich putze mir die Nase und wische die Tränen ab. Niemals, wirklich niemals darf ich ihr gegenüber Schwäche zeigen. Ich hole tief Luft und starre nach oben. Ich klammere meine Hände zusammen und ziehe mich innerlich in meinen Schutzpanzer zurück, der mir einen weiteren Tag Schutz gewähren wird. Warum?, seufze ich. Wenn du Gott bist, warum tust du das? Ich will nur … ich möchte unbedingt wissen, warum? Warum bin ich immer noch am Leben?
Mutter stolpert aus ihrem Schlafzimmer. Komm in die Gänge!, schreit mein Gehirn. Los, komm in die Gänge! Mir bleiben nur noch ein paar Sekunden, bevor … Ich hätte doch schon vor einer Stunde aufstehen und mit meinen Aufgaben beginnen müssen.
Ich erhebe mich und taste mich durch die Dunkelheit, auf der Suche nach dem Lichtschalter in der Garage. Ich stolpere über einen Fuß des Feldbettes. Reflexartig will ich mich auf dem Boden abstützen, um weicher zu fallen, aber ich bin zu langsam. Einen Augenblick später krache ich mit der Wange auf den kalten Zementfußboden. Vor meinen Augen tanzen helle silberne Sterne. Ich schlage mit den flachen Handflächen auf den Boden. Ich würde ja so gern ohnmächtig werden. Nie wieder will ich das Bewusstsein zurückerlangen.
Ich stoße mich vom Zement ab und erhebe mich, als ich Mutters Schritte auf dem Weg ins Badezimmer höre. Nachdem ich das Licht angeknipst habe, schnappe ich mir den Besen und will damit die Treppe hinaufrennen. Wenn ich es noch schaffen kann, die Treppe zu fegen, ehe Mutter mich erwischt, wird sie nicht merken, dass ich die Zeit verschlafen habe. Ich kann gewinnen. Ich lächle, als ich zu mir selbst sage: Na los, Mann, auf geht’s! Komm in die Gänge! Aber ich bin völlig außer Atem. Meine Gedanken rasen mit Überschallgeschwindigkeit, doch mein Körper reagiert in Zeitlupe. Meine Füße fühlen sich an wie Zementblöcke. Meine Fingerspitzen sind eiskalt. Ich verstehe nicht, warum ich so langsam bin. Ich war doch sonst immer blitzschnell.
Ohne nachzudenken, greife ich mit der linken Hand nach dem hölzernen Treppengeländer, um mich daran nach oben zu ziehen. Ich werde gewinnen, sage ich mir, ich werde es schaffen! Von oben kann ich das gurgelnde Geräusch der Toilettenspülung hören. Ich beschleunige meinen Schritt, strecke den Arm nach dem Geländer aus. Innerlich lächle ich. Ich werde ihr zuvorkommen. Doch nur Sekundenbruchteile später setzt mein Herz für einen Schlag aus, als ich mit der Hand ins Leere greife und das Geländer verpasse. Mein Körper gerät außer Kontrolle. Das Geländer! Halt dich an diesem dummen Geländer fest! Doch sosehr ich mich auch konzentrieren will, meine Finger wollen mir einfach nicht gehorchen.
Mir wird schwarz vor Augen.
Gleißendes Licht blendet mich. Mein Kopf ist umnebelt. Aber ich kann eine schemenhafte Figur erkennen, die vor einem hellen weißen Licht über mir steht. »… wie sch-pät ist es?«
Ich versuche, durch Schütteln einen klaren Kopf zu bekommen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich würde einen Engel anstarren, der gesandt war, um mich in den Himmel zu holen.
Doch Mutters ekliger Husten lässt diese Fantasie schnell verblassen. »Ich sage: ›Wie spät ist es?‹« Der Ton ihrer Stimme bewirkt, dass ich mir beinahe in die Hose mache. Mutter spricht von oben mit leiser, böser Stimme, damit ihre kostbaren Babys nicht aufwachen. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie schnell … du deinen kleinen, blöden Hintern … in die Höhe kriegst und raufkommst … und zwar sofort!« Sie sagt es fordernd und schnipst dabei mit den Fingern. Mein Körper schüttelt sich, als ich den Besen unten an die Treppe stelle.
»O nein«, sagt Mutter strahlend, »bring deinen Freund ruhig mit.« Ich bin mir nicht sicher, was sie meint, drehe mich um und schaue zu ihr nach oben. »Den Besen, du Dummkopf. Bring den Besen mit.«
Mit jeder Stufe, die ich nehme, versuchen meine Gedanken, eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Ich muss mich gegen irgendwelche Spielchen verteidigen, die Mutter jetzt wieder anfangen wird, weil ich meine Aufgaben nicht rechtzeitig erledigt habe. Ich nehme mir fest vor, konzentriert und aufmerksam zu bleiben. Ich weiß, dass sie vorhat, den Besen als Schlaginstrument zu benutzen, sei es gegen meinen Brustkorb, sei es gegen mein Gesicht. Manchmal, wenn wir beide allein sind, schlägt sie mich gern mit dem Besen kräftig in die Kniekehlen. Wenn ich ihr jetzt in die Küche folgen muss, bin ich tot. Dann kann ich nicht mehr zur Schule gehen, geschweige denn rennen. Wenn mich Mutter dagegen auf den Stufen stehen lässt, weiß ich, dass sie mich nur auf den Oberkörper schlagen wird.
Auf der obersten Treppenstufe nehme ich automatisch die Habt-Acht-Position ein: kerzengerade und steif, den Kopf schräg nach unten geneigt, Hände an der Hosennaht. Ohne Mutters ausdrückliche Erlaubnis darf ich nicht einen Muskel bewegen. Ich darf weder blinzeln noch sie ansehen oder gar atmen.
»Na los, sag mir doch, dass ich dumm bin«, flüstert Mutter, während sie sich über mich beugt. Innerlich krümme ich mich bei der Vorstellung, sie könnte mir ein Stück von meinem Ohr abbeißen. Sie stellt mich auf die Probe und will nur sehen, ob ich zurückzucke. Ich wage nicht, aufzuschauen oder zurückzuweichen. Meine Fersen hängen über den Rand der Stufe hinaus. Ich bete, dass Mutter mir keinen Schubs gibt … wenigstens nicht heute.
»Komm schon, sag’s mir. Bitte«, bettelt Mutter. Der Ton ihrer Stimme verändert sich. Sie wirkt jetzt ruhig, nicht bedrohlich. Meine Gedanken wirbeln mir im Kopf herum. Ich verstehe das nicht. Hat Mutter mir gerade die Erlaubnis gegeben zu sprechen? Ich habe keine Ahnung, was sie von mir erwartet. Wie auch immer, ich sitze in der Falle. Ich konzentriere meine Energie auf meine Schuhspitzen. Je länger ich dorthin starre, desto mehr beginnt mein Körper zu schwanken.
Ohne Vorwarnung stößt Mutter einen Finger unter mein Kinn und hebt mein Gesicht zu ihrem empor. Ihr ranziger Atem dreht mir den Magen um. Ich bemühe mich nach Kräften, von ihrem Mundgeruch nicht ohnmächtig zu werden. Auch wenn sie mir nicht erlaubt, daheim meine Brille zu tragen, sehe ich ihr aufgedunsenes, gerötetes Gesicht vor mir. Ihr früher glänzendes Haar ist fettig und klebt verfilzt an den Seiten ihres Gesichts. »Für wie dumm hältst du mich? Bitte sag mir genau: Wie dumm bin ich?«
Verstohlen blicke ich auf und antworte: »Wie bitte?«
Plötzlich brennt die eine Seite meines Gesichts mit einem stechenden Schmerz. »Wer zum Teufel hat dir erlaubt zu sprechen oder gar aufzuschauen!«, zischt Mutter mich an.
Ich senke meinen Kopf wieder und verberge den Schmerz in meinem Innern. Mein Gott, sage ich zu mir selbst, ich habe den Schlag überhaupt nicht kommen sehen. Was ist nur los mit mir? Ich bin eigentlich immer in der Lage, ihren Arm zurückzucken zu sehen, bevor sie mich schlägt. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum ich heute so langsam bin. Verdammt noch mal, David, konzentrier dich! Denk nach!
»Wann will Es eigentlich mit seinen Pflichten beginnen?«, bellt Mutter mich an. »Was ist los mit dir? Ich wette, du glaubst, ich bin dumm! Du meinst wohl, du kannst machen, was du willst, und damit auch noch durchkommen? Meinst du das?« Mutter schüttelt den Kopf. »Nicht ich bin diejenige, die dir wehtut. Das bist du doch selbst. Du entscheidest über deine Handlungen. Du weißt, wer … nein, was du bist und welchen Zweck du in diesem Haushalt erfüllst.
Wenn Es etwas zu essen haben will, dann ist die Sache doch ganz einfach: Es tut genau, was man ihm sagt. Und wenn Es nicht bestraft werden will, dann muss Es sich eben Ärger vom Hals halten. Es kennt die Regeln doch. Ich behandele dich kein bisschen anders als alle anderen. Aber Es will einfach nicht gehorchen.« Mutter hält inne, um tief Luft zu holen. In ihrem Brustkorb rumort es. Zeit für einen Schluck Alkohol. Ich weiß schon, was als Nächstes kommt. Ich wünschte, sie würde endlich weitermachen und mich schlagen. »Und was ist mit mir?« Sie hebt die Stimme. »Eigentlich müsste ich schlafen, aber nein, ich muss mich hier mit dir abgeben. Du mieses Dreckstück! Du elender, kleiner Bastard! Du kennst deine Rolle doch. Du bist keine Person, sondern … eine Sache, mit der ich machen kann, was ich will. Hast du das kapiert? Hab ich mich klar genug ausgedrückt, oder braucht Es vielleicht doch mal wieder eine Lektion?«, brüllt Mutter los.
Ihre Worte hallen in meiner Seele wider. Seit Jahren schon höre ich dasselbe, immer und immer wieder. Seit Jahren bin ich ihr menschlicher Roboter, mit dem sie machen kann, was sie will, wie eine Art Spielzeug, das sie nach Belieben an- und ausschalten kann.
Innerlich breche ich jetzt zusammen. Mein Körper beginnt zu zittern. Ich kann es nicht mehr aushalten. Na los, mach schon, sage ich im Stillen. Tu es! Bring mich doch einfach um! Los, mach! Plötzlich verschärft sich mein Blick. Mein Körper hört auf zu zittern. Langsam steigt eine fürchterliche Wut in mir auf. Ich fühle mich nicht länger eiskalt. Ich drehe meinen Kopf von der einen Seite zur anderen, während meine Augen an Mutters Bademantel emporkriechen. Die Finger meiner rechten Hand umklammern den hölzernen Besenstiel. Ich atme langsam und tief aus. Dabei starren meine Augen direkt in Mutters Augen. »Lass mich endlich in Ruhe … du alte Hexe!«, zische ich sie an.
Mutter ist auf einmal wie gelähmt. Ich bündele jede Faser meines Wesens und konzentriere mich darauf, mit dem Blick ihre Brille mit dem Silbergestell und ihre geröteten Augen zu durchdringen. Ich zwinge mich, jeden einzelnen Augenblick des Schmerzes und der Einsamkeit aus den vergangenen acht Jahren irgendwie mit meinem Blick auf Mutter zu übertragen.
Ihr Gesicht wird aschfahl. Sie weiß es. Mutter weiß genau, was ich fühle. Es funktioniert, mache ich mir Mut. Mutter versucht, meinem Blick zu entkommen. Sie bewegt ihren Kopf leicht nach links. Aber ich mache die Bewegung mit. Sie kann mir nicht entkommen. Sie sieht nach unten und blickt weg. Ich hebe meinen Kopf an und verschärfe meinen Blick. Ich lächele. Aus der Tiefe meiner Seele steigt Wärme auf. Jetzt bin ich derjenige, der das Heft in der Hand hat.
Aus meinem Hinterkopf höre ich ein vergnügtes Kichern. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, als würde ich Mutter auslachen. Ich senke meine Augen und sehe Mutters Krokodilslächeln. Ihr fauliger Atem bricht meine Konzentration. Je länger Mutter lächelt, desto angespannter wird mein Körper. Sie neigt ihren Kopf zum Licht. Jetzt, sage ich mir, jetzt kann ich es kommen sehen. Na, mach schon, gib’s mir! Los, mach’s! Zeig mir, was du kannst! Für einen Sekundenbruchteil sehe ich sie verschwommen kommen, dann spüre ich, wie ihre Hand in mein Gesicht kracht. Wiederum einen Augenblick später läuft mir warmes Blut aus der Nase. Ich lasse es auf die Stufen mit den schwarzen Matten tropfen. Ich weigere mich, Mutter die Genugtuung zu gewähren, dass sie mich weinen oder irgendwie reagieren sieht. Ich trotze ihr, indem ich innerlich wie äußerlich abgestumpft bleibe.
»Du willst wohl Mut beweisen, was? Leider kommst du damit ein paar Jahre zu spät!«, höhnt Mutter. »Dazu fehlt dir einiges. Du hast es nicht, und du wirst es auch niemals haben. Du kümmerlicher, kleiner Wurm. Ich kann dich jederzeit töten, wenn es mir gefällt. Einfach so.« Mutter schnipst mit den Fingern. »Du bist doch nur am Leben, weil es mir gefällt. Du bist nichts weiter als …«
Ich blende Mutters Worte aus, während mir die kalte Angst wieder in die Seele kriecht. Ich senke den Kopf und nehme die Habt-Acht-Position ein. Dunkelrotes Blut beschmutzt die Zehenpartie meiner Schuhe. Einen flüchtigen Augenblick lang habe ich mich so lebendig gefühlt.
Jetzt hat sie wieder die Kontrolle übernommen.
Je länger Mutter auf mich einredet, desto deutlicher nicke ich und gebe damit zu, dass Mutter in der Tat allmächtig und Gott gleich ist, weil sie mir gestattet, noch einen weiteren Tag in ihrem Haushalt zu verbringen. »Du weißt nicht, wie gut du’s hast. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich alles durchmachen musste, als ich so alt war wie du …«
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und schließe die Augen – ein vergeblicher Versuch, den Klang ihrer Stimme auszublenden. Wie ich mir doch wünsche, ohnmächtig zu werden und tot umzufallen! In meiner Fantasie stelle ich mir Mutter vor, wie sie auf dem Fußboden im Flur liegt. Ich würde alles dafür geben, dabei sein zu können, wenn sie zitternd und hilflos auf dem Rücken liegt, ehe sie ihren letzten Atemzug tut.
Mutters Stimme verändert sich in der Tonhöhe. Plötzlich brennt meine Kehle wie Feuer, als Mutter ihren Griff um meinen Hals verstärkt. Meine Augen wollen aus dem Kopf hervorquellen. Ich habe mich nicht auf den Angriff konzentriert, bevor er kam. Reflexartig umklammere ich Mutters Finger mit den Händen. Doch sosehr ich mich auch bemühe, ich kann ihre Hände nicht wegdrücken. Je stärker ich dagegen angehe, desto fester wird Mutters Todesgriff. Ich versuche zu schreien, aber es kommt nur ein gurgelnder Laut hervor. Mein Kopf sackt nach vorn. Als meine Augen zurückrollen, konzentriere ich mich auf Mutters Gesicht.
Na los!, rufe ich lautlos. Mach schon, tu’s doch endlich! Du bist so böse, so hart, na los! Zeig’s mir, zeig mir, was du kannst! Töte mich, du alte Hexe!
Mutters Wangen zucken, so intensiv ist ihr Hass. Ihre Nasenflügel beben vom schnellen Atmen. Ich will, dass sie mich umbringt. Ich fühle allmählich, wie ich langsam wegdrifte. Was ich höre, klingt, als wäre ich in der Mitte eines langen Tunnels. Meine Arme fallen an der Seite herunter. Zum ersten Mal seit Jahren ist mein Körper ganz entspannt. Innerlich ist mir nicht mehr kalt. Ich habe auch keine Angst mehr. Ich bin bereit zu …
Ein harter Schlag lässt meinen Kopf erzittern. »O nein, wach auf! Wach auf, du elendes Stück Scheiße! Ich bin noch nicht fertig mit dir! Ich weiß ganz genau, was du willst!«, zischt Mutter. »So, du glaubst also, du bist besonders gescheit? Wie wäre es denn … wenn ich am Wochenende nicht dich zu Onkel Dan schicke, sondern vielleicht lieber die Jungen, damit wir beide, du und ich, ganz allein etwas Zeit füreinander haben? Ich wette, dieser Gedanke ist dir noch nicht gekommen, oder?«
Am Klang ihrer Stimme erkenne ich, dass ich jetzt etwas antworten soll, aber ich bin dazu nicht in der Lage.
»Oh, was ist denn los? Hat das kleine Insekt etwa einen wunden Hals? Ach, das tut mir aber schrecklich leid!« Mutter lächelt. Ich kann sehen, wie sich ihre Lippen bewegen, aber ich kann kaum verstehen, was sie sagt. Nachdem sie meinen Hals noch einmal kurz zugedrückt hat, lässt sie los. Ohne ihre Erlaubnis reibe ich mir den Hals und schnappe nach Luft. Irgendwie weiß ich, dass sie mit mir noch nicht fertig ist – noch nicht. Einen Augenblick später verliere ich beinahe das Gleichgewicht, als mir Mutter plötzlich den Besen wegnimmt. Automatisch versteife ich meinen Oberkörper. »Das hier«, sagt sie, »das ist dafür, dass du deine Pflichten nicht erfüllst. Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst deinen elenden Arsch hochkriegen und dich an die Arbeit machen, bevor ich aufgestanden bin. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Ich zögere, weil ich nicht weiß, ob ich jetzt antworten soll oder nicht.
»Ich habe gesagt: Ist das klar?«
»Ja … äh, ja«, stottere ich heiser.
»Sag, wie heißt du?«, fragt Mutter mit zurückgeworfenem Kopf – einer reinen Herrschaftsgeste.
»Ich heiße ›Es‹«, antworte ich mit ängstlicher Stimme.
»Und welche Aufgaben hat Es?«
»Zu … zu … zu tun, was du sagst und mir … und mir Ärger vom Hals zu halten.«
»Und wenn ich sage: ›Spring‹?«
»Dann frage ich: ›Wie hoch?‹«, antworte ich, ohne nachzudenken.
»Nicht schlecht. Gar nicht so schlecht!«, höhnt Mutter. »Aber ich glaube trotzdem, dass du noch eine Lektion brauchst. Vielleicht ist dir das dann eine Lehre … eine Lehre für ›Es‹.«
Ich kann ein Zischen hören und versteife meine Arme, um dem Schlag zu begegnen. Mein ganzer Oberkörper ist steinhart, aber ich habe keine Möglichkeit vorherzusagen, aus welcher Richtung das Geräusch kommt. Ich bekomme einen ruckartigen, dumpfen Schlag an die Seite des Halses. Meine Knie sacken zusammen, als ich mich drehe und gegen Mutters Körper lehne. Ohne nachzudenken, suche ich Halt bei ihr. Ihre Augen strahlen vor Vergnügen. Sie schlägt meine Hände fort. Während mir die Füße wegrutschen, schnellt mein Kopf ruckartig nach hinten. Ich kann fühlen, wie sich mein Hals zuzieht – so wie damals, als Mutter mich zwang, ganze Teelöffel voll Ammoniak hinunterzuschlucken. Krampfhaft versuche ich, etwas Luft zu bekommen, aber mein Gehirn reagiert viel zu langsam. Ich sehe Mutter in die Augen. »So, glaubst du noch immer, dass du fliegen kannst?«
Ich senke den Blick und sehe Mutters Hand in Bewegung. Einen Augenblick später kann ich spüren, wie ich mit über dem Gesicht erhobenen Armen schwebe. Plötzlich dringt ein Luftschwall in meinen Brustkorb, als mein Hinterkopf auf den Stufen aufschlägt. Ich strecke die Hände aus, kann aber nicht verhindern, dass ich rückwärts die Treppe hinabfalle. Am Fuß der Stufen bebt mein Brustkorb. Ich muss einen Eimer finden, damit ich mich übergeben kann. Oben in der Tür über mir krümmt sich Mutter vor Lachen. »Schau dich nur an! Das ist wirklich zu komisch!«
Ihre Gesichtszüge werden streng. Mit eiskalter Stimme sagt sie: »Du bist es überhaupt nicht wert, dass man sich an dir die Finger schmutzig macht!« Ruckartig wirft sie den Besen nach mir, dann knallt sie die Tür zu. Meine einzige Schutzmaßnahme besteht darin, die Augen zu schließen. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mich wegzudrehen oder mein Gesicht zu bedecken. Ich kann hören, wie der Besen die Treppe hinabkommt. Aber er verfehlt mich.
Ich liege allein in der Garage und lasse mich gehen. Ich weine wie ein kleines Kind. Es ist mir egal, ob Mutter oder irgendjemand sonst auf der Welt mich hören kann. Ich habe keine Würde mehr, kein Selbstwertgefühl. In meiner Seele baut sich langsam eine schreckliche Wut auf. Ich balle die Fäuste und beginne, meine Frustration am Fußboden auszulassen. Warum nur, warum, warum? Was zum Teufel hab ich dir getan, dass du mich so hasst?
Mit jedem Schlag kann ich fühlen, wie meine Kraft nachlässt. Das gelblich weiße Garagenlicht beginnt zu verblassen, als ich allmählich das Bewusstsein verliere. Ohne einen Gedanken daran, dass Mutter mich so erwischen könnte, ziehe ich mir das Hemd übers Gesicht, vergrabe die Hände zwischen den Beinen und schließe die Augen. Ehe ich ohnmächtig werde, falte ich meine Hände und murmele: »Hol mich.«
»Wach auf! Du sollst aufwachen, sag ich!« Blinzelnd öffne ich die Augen. Ich bin noch ganz benommen, als ich so vor Mutter in der Küche stehe. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Und doch weiß ich irgendwie, dass es höchste Zeit ist, zur Schule zu gehen. Ich versuche angestrengt, mich zu erinnern, warum ich immer wieder die zeitliche Orientierung verliere.
»Ich habe gesagt, du sollst aufwachen!«, bellt Mutter. Sie beugt sich über mich und gibt mir Ohrfeigen. Ich bin fasziniert davon, dass ich keinen Schmerz mehr spüre. »Was zum Teufel ist mit dir los?«, fragt sie etwas besorgt.
Ich vergesse ganz, wer ich bin, reibe mir das Gesicht und erwidere: »Weiß ich nich’.« Sofort fällt mir ein, dass ich gerade ein doppeltes Verbrechen begangen habe: Ohne Mutters Erlaubnis habe ich mich bewegt und gesprochen. Und bevor ich mich zurückhalten kann, unterläuft mir gleich noch ein drittes Verbrechen: Ich sehe ihr direkt ins Gesicht und schüttele den Kopf. »Ich versteh auch nicht … was mit mir geschieht …«
»Dir geht’s gut«, stellt Mutter fest. Ich beuge mich vor, um mitzubekommen, was sie gesagt hat. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, Mutter hat gerade etwas gesagt; sie hat ganz leise und sanft mit mir gesprochen. »Hör mal. Hör mir zu. Sag ihnen … hm, sag ihnen, du hast …« Angestrengt versuche ich, Mutters Instruktionen aufmerksam zu folgen, aber ihre Worte scheinen nur gemurmelt zu sein. Alles ist sehr verwirrend. Plötzlich schnipst sie mit den Fingern, um zu zeigen, dass ihr endlich die richtige Ausrede eingefallen ist. »Wenn dich diese neugierigen Lehrer fragen, dann sagst du, dass du einen Ringkampf gemacht und dabei die Kontrolle über dich verloren hast … sodass dich deine Brüder zur Räson bringen mussten. Hast du verstanden?«
Ich versuche, Mutters Anweisungen zu verdauen.
»Hast du verstanden?«, fragt Mutter ungeduldig. Sie bemüht sich nach Kräften, ihren Ärger unter Kontrolle zu halten.
»Wie bitte? Ach ja«, sage ich leise lachend. Ich kann es gar nicht glauben, wie leicht es Mutter fällt, für jeden Schultag neue Ausreden und Lügengeschichten zu finden. Ich bin so verblüfft, dass ich mir nicht mehr die Mühe mache, meine Gefühle vor ihr zu verbergen. »Ich soll ihnen sagen, dass ich was angestellt hab, dass ich böse war.«
»Und …?«, fragt Mutter mit erhobener Stimme, um mir noch mehr zu entlocken.
»Ich soll ihnen sagen … ich hab … ich hab mich beim Spielen vergessen, ich meine, beim Ringkampf! Ich hab gekämpft und … dabei hab ich die Kontrolle verloren. Ja, ich versteh schon«, stammele ich.
Mutter neigt den Kopf zur Seite, um die Folgen ihres jüngsten Ausbruchs zu inspizieren. So starrt sie mich einige Augenblicke an, bevor sie das Gleichgewicht verliert und auf mich zustolpert. Ruckartig weiche ich zurück. »Ganz ruhig … nein, nein, ist schon in Ordnung. Entspann dich«, sagt Mutter beruhigend. Mit ausgestreckter Hand hält sie mich auf Distanz, als wäre ich ein streunender Hund. »Keiner wird dir was zuleide tun. Ganz ruhig …« Sie umkreist mich, bevor sie sich auf ihren Küchenstuhl zurückzieht. Mit gesenktem Kopf starrt sie ins Leere.
Mein Kopf beginnt nach vorn zu sinken, als mich Mutters würgender Husten aufschrecken lässt. »Es war ja nicht immer so, weißt du«, beginnt sie mit kratziger Stimme zu jammern. »Wenn du wüsstest … wenn du nur verstehen könntest. Ich wünschte, ich könnte dich, könnte sie irgendwie dazu bringen, mich zu verstehen …« Mutter hält mitten im Satz inne, um die Fassung wiederzugewinnen. Ich kann spüren, wie sie mit ihren Augen meinen Körper mustert. »Die Dinge sind einfach außer Kontrolle geraten, das ist alles. So wie jetzt habe ich … niemals leben wollen. Keiner will das. Ich hab’s versucht, Gott ist mein Zeuge, dass ich’s versucht hab – die gute Ehefrau zu sein, die perfekte Mutter. Ich habe alles getan: Wölflingsmutter bei den Pfadfindern hier, Schulklassenpflegschaft da, bei Partys die perfekte Gastgeberin. Ich hab’s wirklich versucht.
Du, du bist der Einzige, der es weiß, der wirklich Bescheid weiß. Du bist der Einzige, mit dem ich wirklich reden kann«, flüstert Mutter. »Den anderen kann ich nicht trauen. Aber du, du bist das perfekte Ventil, der perfekte Zuhörer – immer dann, wenn es mir passt. Du redest nicht, darum wird niemand von deinem Schmerz hören. Du hast keine Freunde, und du gehst niemals raus, und so weißt du, was es heißt, einsam zu sein. Zum Teufel, außer in der Schule kennt dich doch niemand. Es ist, als wärst du nie …
Nein, du wirst niemals jemand was sagen … niemals!«, sagt Mutter stolz, während sie nickt, um ihrer Warnung Nachdruck zu verleihen.
Ohne hinzusehen, kann ich sie schniefen hören, als sie sich alle Mühe gibt, keine Blöße zu zeigen. Ich merke, dass sie mich nur braucht, um mit sich selbst zu reden. Das war schon immer so. Als ich jünger war, holte mich Mutter manchmal mitten in der Nacht aus dem Bett und ließ mich vor sich stehen, während sie sich ein Glas nach dem anderen eingoss und stundenlang Monologe hielt. Doch so, wie ich jetzt vor ihr stehe, bin ich zu benommen und abgestumpft, um ihre Tiraden zu verstehen. Was zum Teufel will sie bloß? Kann sie denn so früh am Morgen schon so hinüber sein, oder steht sie immer noch unter dem Einfluss des Rausches der vergangenen Nacht? Vielleicht will sie auch nur meine Reaktionen testen? Ich hasse es, wenn ich nicht weiß, was Mutter wirklich von mir will.
»Du«, fährt sie fort, »oh, du warst so ein schlaues Bürschchen! Auf Partys haben dich alle vergöttert! Jeder wollte dich gleich mit nach Hause nehmen. Immer höflich, immer mit gutem Benehmen. Hat nur gesprochen, wenn er gefragt wurde. Oh, ich erinnere mich noch, dass du immer, wenn du nicht schlafen konntest, auf meinen Schoß gekrochen kamst und mir Weihnachtslieder vorgesungen hast, sogar mitten im Juli. Immer wenn’s mir nicht so gut ging, konnte ich mich drauf verlassen, dass du ein Liedchen für mich hattest.« Mutter lächelt, als sie sich an die Vergangenheit erinnert. Sie kann die Tränen, die ihr über die Wangen rinnen, nicht länger zurückhalten. So habe ich sie noch nie gesehen. »Du hattest eine bezaubernde Stimme, David. Warum singst du mir nichts mehr vor? Wie kommt das nur?« Sie starrt mich an, als wäre ich ein Geist.
»Ich weiß nicht … ich weiß es nicht.« Ich bin nicht mehr benebelt. Mir ist klar, dass dies keines von Mutters hinterhältigen »Spielchen« ist. Ich weiß, dass heute tief in Mutters Innerem etwas anders ist als sonst. Sie möchte sich öffnen. Mutter ist hinsichtlich ihrer Vergangenheit noch nie so emotional gewesen. Ich wünschte nur, ich hätte einen klareren Kopf, damit ich begreifen könnte, was sie mir wirklich sagen will. Ich weiß, hier spricht nicht der Alkohol, sondern meine wahre Mutter – jene Mutter, die so viele Jahre in ihrem Innern gefangen war. »Mami?«
Mutters Kopf schnellt empor, sie hält die Hände vor den Mund. »›Mami‹? O Gott, David, weißt du, wie lange es her ist, dass ich für jemand ›Mami‹ war? Mein Gott!« Sie schließt die Augen, um ihren Schmerz zu verbergen. »Du warst so zerbrechlich, so ängstlich. Daran kannst du dich nicht mehr erinnern, aber du warst immer der Langsame. Du hast ewig gebraucht, bis du deine Schuhe geschnürt hattest. Und als ich versuchte, dir für dein Wölflingsabzeichen beizubringen, wie man einen richtigen Pfadfinderknoten bindet, da habe ich gedacht, ich würde bald verrückt. Aber du hast niemals aufgegeben. Dann habe ich dich in irgendeiner Ecke gefunden, als du versuchtest, den Pfadfinderknoten zu binden. Ja, das muss ich wirklich sagen, du hast niemals aufgegeben.« Mit breitem Lächeln fragt sie: »He, erinnerst du dich noch an den Sommer, als du sieben oder acht warst und wir beide ewig lang versucht haben, im Memorial Park den Fisch zu fangen?«
Ich erinnere mich genau, wie Mami und ich am entfernten Ende eines riesigen, umgestürzten Baumstamms saßen, der über einen kleinen Bachlauf gefallen war. Damals konnte ich es gar nicht glauben, dass sie ausgerechnet mich gewählt hatte – statt meinen jüngeren Bruder Stan, der ständig um ihre Aufmerksamkeit kämpfte. Als Stan am Ufer unter uns einen Wutausbruch bekam, dachte ich, sie würde ihren Irrtum bemerken. Aber sie widmete Stans Auftritt keinerlei Aufmerksamkeit; sie fasste mich noch fester um die Taille, damit ich nicht abrutschte, und flüsterte mir Ermutigungen ins Ohr. Nachdem wir ein paar Minuten geangelt hatten, hielt ich den Köder aus rosafarbenen Lachseiern absichtlich direkt über die Wasseroberfläche. Ich wollte, dass dieses gemeinsame Abenteuer mit Mami kein Ende mehr nahm. Jetzt, da ich den Kopf schüttele, um in die Gegenwart zurückzukehren, gestehe ich ihr mit erstickter Stimme: »Ich … ich hab gebetet, dass wir den Fisch nie fangen.«
»Warum denn?«
»Damit … damit wir mehr Zeit miteinander verbringen … als Mutter und Sohn.«
»Oh, dein Bruder Stan war rot vor Eifersucht, er stapfte am Bach auf und ab, warf Steine ins Wasser und versuchte so, deinen Fisch zu vertreiben. Mein Gott.« Mutter streicht sich das Haar zurück und zeigt dabei ein Lächeln, wie sie es nur ganz selten tut.
Ich bin nicht sicher, ob sie nicht gehört oder verstanden hat, was ich ihr in Wirklichkeit sagen wollte.
»David?«, bettelt sie. »Du erinnerst dich doch daran, nicht wahr?«
»Ja«, rufe ich, »ich erinnere mich. An alles. Zum Beispiel an meinen ersten Schultag, als die Lehrerin uns ein Bild über die Sommerferien malen ließ. Ich hab dich und mich gemalt, wie wir auf dem alten Baum saßen, mit einem strahlenden Sonnengesicht über uns. Erinnerst du dich noch, wie ich dir das Bild damals nach der Schule geschenkt hab?«
Mutter wendet sich ab. Sie klammert sich an ihrem Kaffeebecher fest und legt dann einen Finger auf die Lippen. Die freudige Erregung weicht aus ihrem Gesicht. »Nein!«, ruft sie mit fester Stimme, als würde es sich bei unserem Angelabenteuer um einen Streich der Fantasie handeln.
»Aber bestimmt kannst du dich erinnern …«
»Ich habe Nein gesagt, verdammt noch mal!«, unterbricht sie mich. Sie schließt die Augen ganz fest und bedeckt ihre Ohren mit den Händen. »Nein, nein, nein! Ich erinnere mich nicht. Du kannst mich nicht dazu bringen! Niemand kann mich zwingen, mich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn ich nicht will. Du nicht, und auch sonst niemand! Keiner schreibt mir vor, was ich tun oder lassen soll! Hast du das verstanden?«
»Ja«, antworte ich mechanisch.
Mutters Gesicht färbt sich krebsrot, als sich ihre Nackenmuskeln versteifen. Ihr Oberkörper beginnt zu zittern. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat einen Krampf. Ich will aufschreien, aber ich habe zu viel Angst. Wie ein hilfloser Tölpel stehe ich vor ihr. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Nach ein paar Sekunden verschwindet die Röte aus ihrem Gesicht. Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was los ist … Ich weiß nicht … Ich wollte nicht, dass es so kommt; niemand wollte das. Du kannst mir keinen Vorwurf machen, ich hab mein Bestes getan …«
Der freundliche Ton in ihrer Stimme verschwindet. Ich würde am liebsten hinlaufen und Mami umarmen, ehe sie erneut ganz verschwunden ist, aber wie immer weiß ich, dass sich Mutter in ein paar Stunden an kein einziges Wort unserer Unterhaltung erinnern wird. Ich trete vom Küchentisch zurück und nehme meine Habt-Acht-Stellung ein.
»Ach du lieber Gott!«, schreit Mutter plötzlich. »Jetzt schau dir nur an, was du angerichtet hast! Ich muss doch meine Jungs zur Schule fahren! Lass den Abwasch stehen; den kannst du nach der Schule erledigen. Und hör mir genau zu: Ich will heute von keinem dieser neugierigen Lehrer auch nur einen Mucks hören, also halt deinen elenden Kopf aus allem Ärger raus, zum Teufel! Hast du mich verstanden?«
Mutter hebt ihre Stimme so an, dass sie wieder den üblichen bösen Tonfall erhält.
»Jawohl«, murmele ich.
»Dann mach endlich, dass du aus meinem Haus kommst, verdammt! Los! Lauf!«, bellt Mutter mich an.
»Und was ist mit einem Schulbrot für mittags …«
»Tut mit leid, du hast mir meine Zeit gestohlen, da kann ich dir kein blödes Butterbrot mehr streichen. Du musst also wieder mal sehen, dass du irgendwo was zu essen schnorrst. Und jetzt mach endlich, dass du wegkommst, zum Teufel! Warte nicht erst, bis ich den Besen hol! Los, lauf schon!«
Blitzschnell renne ich durch Mutters Haus. Ich kann ihr böses Lachen hören, als ich die Eingangstür hinter mir zuschlage, bevor ich im Laufschritt zur Schule eile.
Einige Minuten später, nachdem ich gerannt bin, so schnell ich konnte, stolpere ich ins Krankenzimmer der Schule. Ich schlage mir die Hände auf die Knie. Mit jedem Atemzug, den ich mache, versteifen sich die Halsmuskeln um meine Kehle. Hinter meinen Augen beginnt sich ein enormer Druck aufzubauen. Noch immer schlage ich mir auf die Knie, als würde dadurch irgendwie Luft in meine Lungen gelangen. Die Schulkrankenschwester dreht sich schnell hinter ihrem Schreibtisch herum. Mein Kopf möchte eigentlich laut schreien, aber ich kann keine Worte mehr bilden. Ich versuche es nochmals. »K-r-i-e-g-e
k-ei-n-e L-u-f-t!«, stoße ich schließlich hervor und zeige auf meinen Hals.
Blitzschnell springt die Krankenschwester auf, greift nach einer großen braunen Einkaufstüte aus Papier und kippt deren Inhalt auf den Boden. Dann kniet sie sich vor mir hin. Durch meine Tränen hindurch kann ich den Schreck in ihren Augen sehen. Ich möchte laut losschreien, habe jedoch zu viel Angst. Die Schwester zieht an meiner Hand, aber ich schlage ihr auf die Hand und hämmere lieber weiterhin auf meine Knie ein. Je mehr ich versuche, Luft in meine Lungen zu bekommen, desto fester ziehen sich die unsichtbaren Riemen um meinen Brustkorb zusammen. »Nein!«, schreit die Schwester. »David, hör auf damit! Kämpf nicht mehr dagegen an! Du hyperventilierst!«
»Hüpperventil …?«, keuche ich.
»Ganz langsam! Dann wird alles wieder in Ordnung kommen. Ich stülpe dir jetzt die Tüte über den …«
»Nein! Ich kann nicht … kann nichts … sehen. Ich … muss aber … was sehen können!«
»Scht! Ganz ruhig! Ich bin ja bei dir! Mach deine Augen zu und konzentrier dich auf den Klang meiner Stimme. Gut. Und jetzt ganz langsam. Atme ganz winzige Mengen Luft ein. Atme durch die Nase. Ja, so ist’s gut«, flüstert die Schwester mit beruhigender Stimme. Bei ihr fühle ich mich sicher. »Das ist schon viel besser; winzige Atemzüge. Fass mal meine Hand an. Ich bin direkt hier. Ich lass dich nicht allein. Gleich wird es dir wieder besser gehen.«
Ich gehorche und schließe die Augen. Als mir die Schwester die Tüte über das Gesicht zieht, spüre ich sofort, wie die warme Luft zirkuliert. Das fühlt sich gut an. Aber nach einigen Atemzügen wird die von mir ausgeatmete Luft zu heiß. Meine Beine beginnen sich zu versteifen. Unabsichtlich zerre ich an der Hand der Schwester.
»Scht, ganz ruhig! David, vertrau mir, es ist alles in Ordnung. Es geht dir schon besser. Viel besser. Ja, so ist’s richtig, immer schön langsam! Siehst du? So, und jetzt lehn deinen Kopf zurück und entspann dich.«
Als ich meinen Kopf nach hinten neige, entweicht ein Luftschwall aus meinem Mund. Der Druck ist so intensiv, dass ich es nur mit Mühe verhindern kann, mich zu übergeben. Ich reiße mir die Tüte vom Gesicht, bevor mir die Knie weich werden, und falle, nach Luft schnappend, auf den Boden. Innerhalb weniger Sekunden beginnen sich die unsichtbaren Riemen um meine Brust zu lockern.
Nach einigen Minuten kühlt das Feuer in meinem Hals langsam ab. »Hier«, sagt die Schwester und hält mir ein Glas mit Eiswürfeln hin. »Nimm dir einen und saug daran.«
Ich versuche, mir ein Eisstückchen zu nehmen, aber meine zitternden Finger bekommen den Würfel nicht zu fassen. Ohne zu zögern, greift die Schwester in das Glas und nimmt einen Eiswürfel heraus. »Mach mal den Mund auf.«
Ich senke den Kopf und versuche, mich zu verbergen. Noch im selben Augenblick kehrt der brennende Schmerz zurück. »David, was ist los mit dir? Nun komm schon, mach den Mund auf«, gibt sie mir Anweisungen, schon eher im Kommandoton. Ich schließe die Augen. Ich weiß, was als Nächstes kommt: Fragen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich einer neuen Fragerunde entgehen könnte. Alles, was dabei herauskommt, ist, dass sich alle an der Schule aufregen, und Mutter findet es am Ende heraus. Immer wenn der Direktor bei Mutter angerufen hatte, konnten sie die Ergebnisse am nächsten Tag in der Schule sehen. Während ich weiter versuche, den Augen der Schwester auszuweichen, stelle ich mir vor, wie ich in eine Ecke krieche, um dort zu verschwinden.
Ich öffne die Augen langsam, als ich spüre, wie die Schwester meinen Kopf mit ihren Fingern anhebt. Ihr Gesicht wird kreidebleich.
»O … mein … Gott! Was um Himmels willen ist mit deinem Hals passiert?«, ruft sie aus, während sie mich von beiden Seiten mustert.
Ich ringe die Hände und hoffe, dass sie das Thema fallen lässt. »Bitte!«, stoße ich keuchend hervor, »lassen Sie los!«
»Die Seite deines Adamsapfels ist ja total geschwollen!« Die Schwester läuft davon, um aus einem ihrer Glasbehälter einen Holzspatel zum Niederdrücken der Zunge zu holen. »Das wollen wir uns doch mal etwas genauer ansehen. Mach bitte den Mund auf.« Ich lasse einen rauen Seufzer heraus, bevor ich gehorche. »Du musst den Mund noch etwas weiter aufmachen. Kannst du das bitte für mich tun?«, fragt sie ganz sanft.
»Geht nicht«, wimmere ich. »Tut zu weh.«
Endlich erlaubt mir die Schwester, den Mund wieder zuzumachen. Erneut versuche ich, ihrem Blick zu entgehen. Ich begrabe meine zitternden Finger in meinem Schoß. Sie schüttelt den Kopf, bevor sie aufsteht und nach ihrer Schreibunterlage greift. Jeden Schultag, seit über einem Jahr, untersucht sie meinen Körper von Kopf bis Fuß und hält ihre Untersuchungsergebnisse schriftlich fest. Jetzt führt sie leise Selbstgespräche, als sie ihre neuesten Funde protokolliert. Dann kniet sie sich wieder vor mich und massiert mir ganz leicht die Handinnenflächen. In banger Erwartung beiße ich mir auf die Lippen. Die Schwester starrt mir in die Augen, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte.
Jetzt habe ich wirklich schreckliche Angst.
»Es tut mir leid, David«, sagt sie mit Tränen in den Augen hinter ihrer Brille. »Ich hatte Unrecht. Du hast nicht hyperventiliert. Dein, äh, dein Kehlkopf … deine Epiglottis ist geschwollen und dein Rachen entzündet. Ich will damit sagen, dass du deshalb Schwierigkeiten hattest, Luft zu bekommen. Die Sauerstoffzufuhr war abgeschnitten. Verstehst du mich?«
Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um mir bildlich vorzustellen, was die Schwester gerade gesagt hat. Ich will nicht, dass sie meint, ich wäre dumm.
»Wann ist das passiert?«, fragt sie.
Ich weiche ihrem Blick aus und starre auf meine Schuhe. »Ich habe, äh …« Ich versuche, mich an den genauen Wortlaut von Mutters Lügengeschichte zu erinnern, aber mein Gehirn ist immer noch umnebelt. »Ich habe … ich bin gefallen … ich bin die Treppe runtergefallen.«
»David?«, erwidert sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Es war meine Schuld!«, sage ich schnell. »Ich hab einen Ringkampf gemacht und bin außer Kontrolle geraten und meine Brüder …«
»Dummes Zeug!«, unterbricht mich die Schwester. »Du meinst, deine Mutter hat von deinem Zustand gewusst … und hat dich trotzdem zur Schule gehen lassen? Ist dir eigentlich klar, was mit dir hätte passieren können? Um Himmels willen, du hättest …«
»Hm, nein … Bitte, es geht mir schon besser. Wirklich, es ist alles in Ordnung«, sage ich so leise und schnell wie möglich, bevor der brennende Schmerz wiederkehren kann. »Bitte! Sie hatte keine Schuld! Vergessen Sie’s!«
Die Schwester hebt ihre Brille an, um sich die Tränen abzuwischen. »Nein! Diesmal nicht! Das lasse ich nicht mehr durchgehen. Ich habe die Nase voll. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das muss ich dem Direktor melden. Jetzt muss endlich was passieren!« Sie steht auf und klopft sich mit der Schreibunterlage gegen das Bein, während sie zur Tür marschiert.
»Nein! Bitte nicht!«, bettele ich. »Sie verstehen das nicht! Wenn Sie was sagen, wird sie …«
»Wird sie was?« Die Schwester dreht sich schnell zu mir um. »Sag’s mir, David. Bitte, sag’s mir, damit ich irgendetwas in der Hand habe und aktiv werden kann! Ich weiß, dass sie es ist – wir alle wissen es –, aber du musst uns ein wenig helfen, damit wir dir helfen können«, bittet sie.
Im Bemühen um Schmerzlinderung starre ich zur Decke empor. Ich ringe meine Hände und konzentriere mich darauf, winzige Luftmengen durch die Nase einzuatmen. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass die Schwester immer noch an der Tür steht. Tränen laufen mir über die Wangen. »Ich, äh … ich kann das nicht.«
»Warum? Um Gottes willen, warum beschützt du sie? Worauf wartest du noch?«, schnauzt sie mich mit rauer Stimme an. »Es muss doch endlich was geschehen!«
Die Worte der Krankenschwester hämmern mir im Schädel herum. Ich beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass sie zu bluten beginnt. »Verdammt!«, platzt es mit Quiekstimme aus mir heraus. »Kapieren Sie es denn nicht? Es gibt nichts, gar nichts, was irgendjemand tun könnte. Es ist allein meine Schuld! Es ist immer meine Schuld. ›Junge‹ hier, ›Es‹ da, bla, bla, bla! Jeder neue Tag ist nur eine Wiederholung des letzten. Selbst bei Ihnen«, sage ich und zeige mit dem Finger auf die Schwester, »jeden Tag komme ich rein, ziehe mich aus, Sie schauen mich an, Sie fragen mich dies und das … Und wozu das Ganze? Es ändert sich überhaupt nichts, und es wird sich auch nie was ändern!« Das Band, das mir die Kehle zuschnürt, beginnt sich zusammenzuziehen, aber das ist mir jetzt egal. Ich kann den Schwall meiner Emotionen nicht länger unter Kontrolle halten. »Miss Moss hat’s versucht …«
»Miss Moss?«, fragt die Schwester.
»Meine, äh, meine Lehrerin in der zweiten Klasse. Sie hat’s versucht … sie hat versucht, mir zu helfen, und sie ist nicht mehr da …«
»David?«, sagt die Schwester mit ungläubiger Stimme.
Ich verberge mein Gesicht in meinen Händen. »Vater hat’s versucht … und er ist auch nicht mehr da. Sie müssen das doch endlich verstehen: Alles, was ich bin, alles, was ich tue, ist schlecht. Alles ist verkehrt. Wenn Sie ihr zu nahe kommen, dann wird sie … dann wird sie’s auch mit Ihnen aufnehmen! Gegen sie gewinnt keiner!«, schreie ich. »Gegen Mutter kommt keiner an!« Ich krümme mich unter einem Hustenanfall. Was auch immer ich noch an Energie hatte, schwindet jetzt dahin. Ich lehne mich gegen die Untersuchungsliege und gebe mir alle Mühe, meinen Atem zu verlangsamen. »Ich, äh … als ich unten an der Garagentreppe saß, während sie ferngesehen oder zu Abend gegessen haben, hab ich versucht, es zu verstehen, ich mein, zu verstehen, warum alles so ist.« Ich schüttele mir jetzt die endlosen Stunden in der Garage aus dem Kopf. »Und wissen Sie, was ich mir da am allermeisten gewünscht hab?«
Ihr Mund steht offen. So hat sie mich noch nie erlebt. »Nein«, sagt sie.
»Ich wollte ein richtiges Kind sein – mit richtigen Kleidern und allem, was dazugehört. Ich meine nicht nur Spielzeug, nein, ich wollte auch draußen sein. Ich wollte nach der Schule immer auf dem Abenteuerspielplatz spielen. Das hätte ich am allerliebsten getan.« Einen Augenblick lang lächle ich über meine Fantasie. »Aber ich weiß, dass das nie möglich sein wird. Niemals. Ich muss immer schnell nach Hause rennen, sonst bekomme ich Schwierigkeiten. Manchmal, wenn die Sonne scheint, mogele ich schon mal, wenn ich von der Schule nach Hause laufe, und halte an, um den Kindern beim Spielen zuzuschauen.«
Ich kann nicht mehr klar sehen, während ich der Schwester meine tiefsten Geheimnisse herunterrattere. Weil ich in Mutters Haus nicht sprechen darf und in der Schule keine Freunde habe, habe ich auch niemanden, dem ich meine Gefühle offenbaren könnte. »Ein andermal in der Garage, nachts, wenn ich auf meinem Feldbett lag, grübelte ich dauernd darüber nach, was ich nur tun könnte. Ich meine, um die Dinge zwischen Mutter und mir in Ordnung zu bringen, um die Lage zu verbessern. Ich wollte wissen, warum und wie alles so schlecht geworden war. Ich hab geglaubt, wenn ich nur hart genug nachdenke, wenn ich von ganzem Herzen bete, dann finde ich Antworten. Doch sie kamen nie.
Ich … ich, äh, ich hab’s ver… hab’s versucht«, stottere ich. Ich halte meine Tränen zurück. »Ich hab so viel Zeit damit verbracht … Ich, äh, ich wollte … ich wollte nur wissen, warum. Das ist alles. Warum ich, warum wir? Das wollte ich wissen. Warum?« Ich starre der Schwester in die Augen. »Aber jetzt ist mir alles egal! Ich möchte nur noch einschlafen! Ich bin so müde von allem! Den Spielchen, den Geheimnissen, den Lügen, der Hoffnung, dass Mutter eines Tages doch noch aufwacht und dann alles wieder besser wird! Ich kann das alles nicht mehr aushalten! Können Sie mich bitte schlafen lassen, nur ein Weilchen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das muss aufhören, David. Sieh dich doch an. Du bist …«
»Ist schon in Ordnung«, unterbreche ich sie ruhig. »Ich bin nicht … wenn ich in der Schule bin, hab ich keine Angst. Sie müssen mir nur versprechen, dass Sie nichts sagen. Jedenfalls nicht heute. Bitte!«
»David, du weißt, dass ich das nicht kann«, erwidert die Schwester tonlos.
»Wenn Sie … wenn Sie was sagen«, keuche ich, »dann wissen Sie ja, was passieren wird. Bitte, lassen Sie’s durchgehen!«
Sie nickt. »Aber nur heute.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie nimmt mich an der Hand und führt mich zu dem kleinen Bett in der Ecke des Raumes.
»Hand aufs Herz und bei meinem Leben?«, frage ich und lege die Hand auf mein Herz.
»Hand aufs Herz«, wiederholt sie mit erstickter Stimme. Sie deckt mich mit einer dicken Wolldecke zu.
»… und bei meinem Leben?«, wiederhole ich. Die Lippen der Schwester verziehen sich zu einem Lächeln, als sie mir sanft über das verfilzte Haar streicht. Ich nehme ihre Hände in die meinen und frage abermals: »… und bei meinem Leben?«
Die Schwester gibt mir einen sanften Händedruck. »Und bei meinem Leben.«
Ganz tief in meiner Seele spüre ich Frieden. Ich habe keine Angst mehr. Ich bin bereit zu sterben.

 
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