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Geschrieben von irulan am 28.09.2003, 15:36 Uhr

@ Ralph und alle die es interessiert: Habe Artikel zum Begriff Nation und deutsches Nationalbewußtsein aus HP Bundeszentrale für polit. Bildung hierein kopiert .LG Irulan

http://www.bpb.de/wissen/09191901662830400195611470162156,3,0,Nation.html

Aus:Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik

Nation

Wilhelm Bleek / Christian Bala

Inhaltsverzeichnis

1. Der Begriff der Nation
2. Deutschland als "verspätete Nation"
3. Die Nationalidee in den beiden dt. Staaten
4. Die Nationalidee im vereinten Deutschland
Literatur


4. Die Nationalidee im vereinten Deutschland
Doch mit der Vereinigung wurden neue Probleme und Fragen, die mit der Nation in Verbindung stehen, aufgeworfen, so z.B. die Herstellung der "inneren Einheit", die Einbindung der BRD in das internationale System und die damit gewachsene Verantwortung sowie das Staatsverständnis und die Staatsbürgerschaft.

Das "andauernde Vereinigungsexperiment" (Sontheimer/Bleek 1999: 111-118) erstreckt sich auf die Ebenen der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Nicht allein die Nachwirkungen der sozialen und wirtschaftlichen Spaltung dauern nach zehn Jahren Vereinigung noch an, auch existieren weiterhin habituelle Unterschiede zwischen den Ost- und den Westdt. Durch die Vereinigung der beiden dt. Staaten wurden zwei Bevölkerungen zusammengefasst, die über vierzig Jahre hinweg unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatten. Bereits früh wurde die einstmals staatliche Spaltung zu einer gesellschaftlichen, es wurde zwischen "Wessis" einerseits und "Ossis" andererseits unterschieden. Vielen ehemaligen Bürgerinnen und Bürgern der DDR fiel es schwer, ihre alten Wir-Gefühle auf das vereinte D zu übertragen, während die Bewohnerinnen und Bewohner der alten BRD dabei scheinbar nahtlos an ihre westdeutsche Tradition anknüpfen konnten. Doch auch im Westen brachte der Vereinigungsprozess Verunsicherungen hervor, die nicht allein durch positive Selbstbeschreibungen, sondern auch durch die Verächtlichmachung der Ostdt. überspielt werden. Diese "Transformationen des Wir-Gefühls" lassen durchaus daran zweifeln, ob man von dem nationalen Bewusstsein der Deutschen sprechen kann (Treibel 1993: 322f.).

Neuere empirische Untersuchungen zur "Nationalen Identität" haben ergeben, dass die Ostdt. über ein spezifisches "Ost-Bewusstsein" verfügen, das nicht mit dem nationalen identisch ist, während die westdt. Bevölkerung ihr "West-Bewusstsein" als Aspekt ihres nationalen Verständnisses interpretiert (vgl. Blank 1997).

Die Frage des nationalen Selbstverständnisses wurde nach der Vereinigung wieder aufgegriffen. So entspann sich eine Debatte darüber, ob ein vereintes D an die bundesrepublikanische Tradition anknüpft oder ob dieser vierzigjährige Weg durch eine "selbstbewusste Nation" (Schwilk/Schacht 1994) beendet werden solle. Eng mit dieser Sichtweise der sog. "Neuen Rechten" (vgl. Gessenharter/Fröchling 1998 und Lohmann 1994) sind ein vehementer Geschichtsrevisionismus, antiliberale Einstellungen, ethnopluralistische Argumentationen und Forderungen nach einer machtstaatlich orientierten Außenpolitik verbunden. Der bundesrepublikanische Weg der "Westbindung" sei ein Fehler gewesen. Eine dt. nationale Identität habe sich nicht entwickeln können. Nach 1989/90 müsse die Nation wieder als handelndes Subjekt hervortreten und ihren Einfluss geltend machen. Diese antidemokratische und nationalistische Argumentation betrachtet die Einbindung der Ds in die Institutionen der Europäischen Union (EU) dementsprechend kritisch.

Dt. Nationalismus zeigte sich nach der staatlichen Vereinigung auch in der aggressiven Abwertung von "Fremden". So kam es Anfang der neunziger Jahre zu brutalen Übergriffen gegen Asylsuchende und Ausländer. Die öffentliche Aufmerksamkeit bündelte sich auf die Anschläge in den fünf neuen Bundesländern. Diese manifeste Ausländerfeindlichkeit verdeckte aber den Blick darauf, dass Westdeutsche in ihrer Einstellung zu Ausländern viel abweisender sind als Ostdeutsche (Spiegel-Spezial 1991: 49). Die Symptome eines rassistischen Nationalismus wurden von der Regierung damit erklärt, dass die Zuwanderung von Ausländern in die BRD zu groß sei. Der Debatte, ob Deutschland ein "Einwanderungsland" sei, liegt die Frage zugrunde, wie die Nation definiert wird. Die Angst vor nationaler Illoyalität und ethnischer Heterogenität kennzeichnet dabei die Diskussion (Treibel 1993: 335-339). Die Staatsangehörigkeit/Staatsbürgerschaft in D bestimmt sich weitgehend nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) und weist somit auf die Definition der Nation als einer "Volks"- oder "Kulturnation" hin. Ob diese Sichtweise einem modernen Nationalstaat angemessen ist, insbesondere im Hinblick auf die Migrations-Bewegungen, erscheint fraglich. Zwar lehnt ein großer Teil der Deutschen (52,8% im Westen und 48,1% im Osten) Kriterien der Staatsbürgerschaft wie "Rasse" oder "dt. Abstammung" ab, doch werden kulturbezogene Kriterien (Sprache, dt. Kultur, europäischer Lebensstil) befürwortet (Blank 1997: 40). Die Widerstände gegen eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zeigen das Beharrungsvermögen einer überkommenen Nationsvorstellung, die auch zunehmend in Konflikt mit internationalen Entwicklungen gerät.

Die Frage nach der Bedeutung des Nationalstaates erreicht mit der gesteigerten Einbindung Ds in supranationale und internationale Organisationen eine neue Qualität, an erster Stelle ist hier die EU zu nennen. Seit dem Maastricht-Abkommen (1993) hat sich der Prozess der europäischen Integration stark beschleunigt, weite Bereiche der klassischen Innenpolitik (z.B. Sozialpolitik, Innere Sicherheit), welche eine Domäne des modernen Nationalstaates waren, können ohne die Abstimmung und Kooperation mit den europäischen Partnern nicht realisiert werden. Daraus erwachsen aber auch Ressentiments, die sich an einzelne symbolisch bedeutsame Themen (z.B. DM versus Euro) knüpfen und als Protest gegen den Verlust der "nationalen Identität" artikuliert werden. Durch die weitreichende Souveränitätsübertragung an die Institutionen der EU wird sich die Bedeutung des Nationalstaates im 21. Jahrhundert weiter relativieren. Welche Entwicklung die Vorstellung von der dt. Nation innerhalb eines internationalen Beziehungsgeflechts einnimmt, ob die Nation als Identifikationsrahmen obsolet wird, kann kaum prognostiziert werden.


Aus: Andersen, Uwe/ Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 4., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn 2000.

 
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