1. Schuljahr - Elternforum

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Geschrieben von Silke11 am 30.12.2013, 14:52 Uhr

noch ein interessanter Essay: (ganzer Text)

ESSAY

Dort Gips keine Fögel

Von Steinig, Wolfgang

Nur mit Glück und Elternhilfe lernen Schüler heute richtig schreiben - ein Bildungsnotstand. Von Wolfgang Steinig


Bereits nach einem halben Jahr in der Schule hat Tanja ihrem Partnerkind aus der Parallelklasse diese E-Mail geschrieben: "Libe Elke.wir haben Den Zoo aus Pape gmahct unt wir Haben Plastik Tire zumbeischbil Lamas wir heisluftpistole gmahct und einen kjos Die Lamas schbilen uno uno die Roben kinder sint im Wasr Die krokodile Lesen Dort Gips keine Fögel Unser Zoo hat aur file zepras Das Girfen kint schdet im Futer Napf Die kengros Ligen über Nander Von Tanja".

Mit ein wenig Mühe kann jeder verstehen, was Tanja hier erzählen will. Solche Texte entstehen oft nach wenigen Wochen, wenn Kinder das Schreiben mit einer Anlauttabelle erlernen - ohne begleitenden Rechtschreibunterricht. Die Kinder in diesem Projekt haben einander mit Feuereifer Mails geschrieben und gechattet, sie hatten ja tatsächlich Wichtiges mitzuteilen! Und sie konnten sich voll und ganz auf den Inhalt konzentrieren, ohne auf die Rechtschreibung achten zu müssen. So schrieben sie nach Lust und Laune, frei und unbekümmert.

Es leuchtet ein, dass Erstklässler sich so heute leichter fürs Schreiben begeistern lassen als vor 40 Jahren. Da galt es noch, über Stunden hinweg mit Schwungübungen die Feinmotorik zu üben und vorgegebene Buchstaben und Wörter fehlerfrei und in Schönschrift abzuschreiben. Vielerorts wird heute dagegen von Anfang an frei geschrieben. Das nimmt den Druck von den Kleinen - und auch von den Lehrerinnen.

Deshalb haben sich der Ansatz "Lesen durch Schreiben" nach Jürgen Reichen und seine Ableger, etwa die "Rechtschreibwerkstatt" nach Norbert Sommer-Stumpenhorst, so rasch an unseren Grundschulen verbreiten können. Hinzu kam, dass der in weiten Teilen akzeptierte "Spracherfahrungsansatz" nach Hans Brügelmann der reichenschen Methode zu einer quasiwissenschaftlichen Legitimation verholfen hat. Er setzt einseitig auf Entwicklung: Wenn ein Kind langsamer vorankommt, muss sich der Lehrer nicht dafür verantwortlich fühlen, denn das sei ein Problem des Kindes, nicht des Unterrichts.

Aber zunehmend geraten Eltern in Zweifel. Eltern, denen die Grundschullehrerin erklärt, sie müssten Geduld haben, wenn es nur langsam vorangehe, denen gesagt wird, sie dürften keinesfalls zu Hause mit den Kindern üben. Vor allem Mütter und Väter mit mehreren - nach unterschiedlichen Methoden unterrichteten - Sprösslingen sehen, dass es auch anders geht. In Foren und Leserbriefen berichten sie von problematischen Langzeitfolgen bei denen, die zunächst nach Gehör schreiben durften. Oft mit fatalen Folgen, wenn der Sprung aufs Gymnasium scheiterte wegen der schlechten Rechtschreibung.

Auch in der Wissenschaft mehren sich die Zweifel, ob diese Methode der richtige Weg ist. In den zwölf bislang durchgeführten empirischen Studien und Modellversuchen, in denen "Lesen durch Schreiben" mit systematisch aufgebauten Lese-Schreib-Kursen auf der Basis von Fibeln verglichen wurde, zeigte sich, dass die Rechtschreibung während der gesamten Grundschulzeit, mit nur wenigen Ausnahmen, schlechter war. Auch die Gefahr, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche zu entwickeln, war in diesen Klassen größer.

Und schließlich führt diese Methode wohl auch dazu, dass die bereits früh erkennbaren Unterschiede in den Schreibfähigkeiten der Kinder im Laufe der Schulzeit weiter zunehmen, vor allem bei Kindern wie Chris, der in dem E-Mail-Projekt diesen Text schrieb: "KRODIEKROKODIIEDEDE, DERLÖWE DERTIGER CHRIS".

Wer auf freies Schreiben setzt - Reichen, Brügelmann und Sommer-Stumpenhorst -, würde einwenden, Chris benötige einfach mehr Zeit als Tanja. Irgendwann würde er ein ähnliches Schreibniveau wie Tanja erreichen. Wer so argumentiert, orientiert sich an einem Entwicklungsmodell, das so ähnlich funktionieren soll wie bei einem Kleinkind, das sprechen lernt. Man vergisst aber dabei, dass das Schreiben eine Technik ist, die nicht im evolutionären Programm des Menschen angelegt ist. Die Rechtschreibung müssen Kinder lernen, und am besten lernen sie sie, wenn eine Lehrerin sie ihnen erklärt und sinnvoll mit ihnen übt.

Weitgehend allein gelassen - oder, wie Reichen formulierte, nach dem Prinzip "minimaler Hilfe" -, geht es zwar auch voran, aber bei manchen eben viel zu langsam. Und viele Schüler resignieren, weil sie den Anschluss verlieren.

Damit Chris seine Defizite aufholen kann, müsste die Lehrerin wesentlich intensiver mit ihm arbeiten als mit Tanja. Aber tut sie das? Eher im Gegenteil: Nach unseren Beobachtungen bekommen Kinder, die rasch kleine Texte schreiben, oft mehr Aufmerksamkeit als Klassenkameraden, die nur mühsam wenige Wortruinen zu Papier bringen. Das unterscheidet sich nicht sehr vom Sportunterricht, wo eigentlich wesentlich intensiver mit Kindern gearbeitet werden müsste, die bereits bei der zweiten Kniebeuge ins Schwitzen geraten, gewöhnlich aber sportlichen Kindern größere Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteilwerden.

Bei einem Unterricht nach "Lesen durch Schreiben" und seinen Varianten, die mittlerweile auch von neueren Fibeln mit Anlauttabelle adaptiert werden, ist die Gefahr groß, dass die Schreibkompetenzen nach dem Matthäus-Prinzip auseinanderdriften: Die Besseren kommen rasch voran, und die Schlechteren fallen immer weiter zurück. Selbst die kompetentesten Lehrerinnen können dem nichts entgegenhalten.

Mit den Fehleranalysen in unserer Studie zum Schreiben von Viertklässlern aus den Jahren 1972, 2002 und 2012 haben wir dieses Auseinanderdriften der Rechtschreibkompetenzen in einer erschreckenden Form feststellen können. Während es 1972 noch kaum Unterschiede zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen Empfehlungen für die weiterführenden Schulen gab, sind 30 Jahre später diese Unterschiede deutlich hervorgetreten. Und in den letzten zehn Jahren, in denen sich der Anfangsunterricht mit Schreiben nach Gehör, mit Anlauttabellen und Fehlertoleranz zunehmend ausgebreitet hat, sind die Kompetenzunterschiede noch einmal angestiegen.

Auch die Art der Rechtschreibfehler hat sich verändert. Die Fehler in der Großschreibung und bei der Konsonantenverdopplung nach einem Kurzvokal (wie in "Butter" oder "jammern") haben unverhältnismäßig stark zugenommen, teilweise sind sie um das Fünffache gestiegen - sicherlich nicht, weil die Kinder in den letzten 40 Jahren dümmer geworden sind, sondern weil ihnen dies nicht ausreichend vermittelt wurde.


Die Zahl der Fehler bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung hat sich hingegen in den letzten zehn Jahren nicht weiter erhöht. Das sind die Wörter und Buchstabenfolgen, die man tatsächlich nach Gehör korrekt schreiben kann - Wörter wie gut, rot oder total. Kein Wunder, so haben viele Kinder es ja mit der Anlauttabelle gelernt: Jedes Wort von Laut zu Laut abhören und dann für jeden Laut immer einen Buchstaben aus einer Anlauttabelle auswählen und aufschreiben.

Eine verquaste Logik: Die Schreibung "buta" für das Wort "Butter" wäre nach Reichens Verfahren akzeptabel, da das Kind ja alle Laute richtig gehört und für jeden Laut einen Buchstaben geschrieben hat. "Budder" hingegen würde korrigiert werden, obwohl das Wort groß geschrieben, die Doppelkonsonanz beachtet und auch die Endung korrekt ist. Aber da das Kind ein "d" anstatt eines "t" gehört hat, müsste der Lehrer es auffordern, doch noch mal genau hinzuhören - obwohl es vielleicht wirklich ein "d" hört, da das Wort in seinem Dialekt so ausgesprochen wird.

Die Schüler schreiben also im Zweifel zwei Jahre lang weisungsgemäß nach Gehör, um all das dann im dritten Schuljahr wieder zu vergessen. Denn dann gewinnt plötzlich die Rechtschreibung an Bedeutung, und Fehler gehen in die Notengebung ein. Jetzt haben die Kinder aber nur noch etwa 16 Monate Unterricht, bis die Entscheidung zum Besuch der weiterführenden Schule ansteht. Und für diese Entscheidung spielt die Rechtschreibung eine überragende Rolle.

Auch wenn man das als unangemessen beklagen mag: So sind nun einmal die Verhältnisse. Die Rechtschreibung ist ein hervorragendes Selektionsmittel, da man Fehler leicht zählen und dokumentieren kann. Hinzu kommt: Der radikale Wechsel vom unbekümmerten Schreiben nach Gehör zur orthografischen Norm wird von vielen Kindern als Willkür empfunden. Warum soll nun das falsch sein, was zuvor erwünscht war? Frustration und manchmal sogar regelrechter Hass auf die Rechtschreibung sind die Folgen.


So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Unsere Schrift sollte von Anfang an so vermittelt werden, wie sie tatsächlich funktioniert. Und sie funktioniert nun einmal nicht nach dem Prinzip "ein Laut - ein Buchstabe", sondern nach regelhaften Mustern, die sich gut erkennen und erklären lassen. Dazu wäre es allerdings dringend erforderlich, dass zukünftige Lehrkräfte in ihrem Studium die Prinzipien der Rechtschreibung kennenlernen und diagnostisches Wissen erwerben.

Die deutsche Rechtschreibung ist - entgegen einer weitverbreiteten Meinung - gut erlernbar. Sie ist eine Schrift, die dem Leser deutlich zeigt, wie ein Wort zu verstehen und auszusprechen ist. Sie ist Kindern weitaus einfacher beizubringen als die englische oder die französische Schrift.

Wir haben es nur mit 30 Buchstaben zu tun, die - teilweise lautgetreu, teilweise nach regelhaften Mustern - zugeordnet werden müssen: 16 Vokale (nicht 5, wie sogar viele Lehrerinnen glauben!) und 22 Konsonanten. Das Hauptproblem dabei ist, dass die vielen Vokale des Deutschen von nur wenigen Buchstaben repräsentiert werden können. Das "o" in Schrott ist ein anderes als in Schrot. Es gibt aber nur einen Buchstaben "o". Auch die Großschreibung im Satzinneren ist problematisch für Schreiber, gut jedoch für Leser, da sie es erleichtert, dem Text Sinn zu entnehmen.

Ich will keineswegs zurück zu den Methoden aus den siebziger Jahren. Ich plädiere aber dafür, dass wir unseren Kindern mehr zutrauen. Auch schwächeren Kindern! Ein Unterricht, der den Schülern Einsicht in die Prinzipien und Regularitäten der Rechtschreibung vermittelt, ist erfolgreicher als ein Unterricht, der die Schüler mit Schreibungen nach Gehör experimentieren lässt. Ein stärker instruktiv-erklärender Unterricht, das lässt sich inzwischen durch die vielzitierte Metastudie von John Hattie belegen, führt rascher und zuverlässiger zum Ziel als ein Unterricht, der einseitig auf freies Schreiben setzt. Kreativität und Phantasie beim Schreiben von Texten müssen dabei nicht zu kurz kommen.

Ein Unterricht aber, in dem Sechs- und Siebenjährige sich die deutsche Rechtschreibung auf geheimnisvolle Weise selbst erarbeiten sollen, führt vor allem Kinder mit bildungsfernen Eltern zu einem orientierungslosen Suchen nach dem richtigen Weg - und oft ins Abseits. Ebenso wird es vielen Kindern ergehen, deren Eltern zwar Akademiker sind, sich wegen ihrer Berufstätigkeit aber darauf verlassen, dass die Schule den Kindern das Schreiben beibringt. Ohne dass sie selbst als Nachhilfelehrer aktiv werden müssen.


Wolfgang Steinig, 63, ist Professor für Germanistik an der Universität Siegen. Seine Vergleichsstudie von 1972 bis 2012 an nordrhein-westfälischen Schulen belegt exemplarisch die "Recht Schreip-Katerstrofe" an deutschen Schulen, über die der SPIEGEL in einer Titelgeschichte (25/2013) berichtet hat.

Die Kompetenzen driften auseinander: Die Besseren kommen rasch voran, und die Schlechteren fallen immer weiter zurück.





DER SPIEGEL 35/2013

 
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