Übertrieben ängstlich? - ein kleines Plädoyer für mehr Lässigkeit

Überängstlich? - ein kleines Plädoyer für mehr Lässigkeit

© Adobe Stock, Elena Stepanova

Das Bedürfnis, ein Kind zu beschützen, ist von der Natur mitgegeben. Doch warum haben viele Eltern heute so große, oft völlig unbegründete Angst um ihre Kinder?

Vorsorge und Behandlungsmöglichkeiten bei Krankheiten, Aufklärung und Unfallverhütung, das alles ist viel besser geworden als noch vor 20, 50 oder gar 100 Jahren. Trotzdem sind die Ängste von Eltern gestiegen.

Auch wir Ärzte beobachten das: Übertrieben ängstliche Eltern, die jedes mögliche Krankheitssymptom bereits vor dem Besuch beim Kinderarzt genau gegoogelt haben. Die sich permanent Sorgen machen. Die wegen Kleinigkeiten am Wochenende in den Notaufnahmen der Kinderkliniken sitzen. Die ihre Kinder in Watte packen und am liebsten gar nicht mehr vor die Tür lassen würden. Eltern wollen oft alles richtig machen und schießen dabei manchmal über das Ziel hinaus. Ein klein wenig mehr Lässigkeit würde allen zugutekommen, den Eltern und dem Kind.

Stichwort Helikopter-Eltern

Häufig beginnt das Phänomen der Ängstlichkeit und Überfürsorglichkeit schon in der Schwangerschaft, zieht sich weiter durch die Baby- und Kinderzeit - und endet oft nicht mal, wenn die Kleinen erwachsen sind. "Helikopter-Eltern" hat man dieses Phänomen getauft, wenn Mama und Papa permanent wie kleine Überwachungs-Hubschrauber um ihre Kinder kreisen und sie vor lauter Sorge nicht eine Sekunde aus den Augen lassen können. Das Ergebnis sind völlig gestresste Eltern und eine neue Generation von überbehüteten und unselbständigen Jugendlichen, die sich selber nichts mehr zutrauen und kaum lebenstauglich sind.

Veränderte Familienstrukturen

Woher kommt die Angst? Hier kommen gleich mehrere Faktoren zusammen: Müttern fehlt heute oft die Erfahrung im Umgang mit Kindern. Früher lebten mehrere Generationen in einem Haus. Es gab immer jemanden - eine ältere Schwester, Tante oder Oma - der sich mit Kindern auskannte und Tipps geben konnte. Heute stehen Eltern mit dem Abenteuer "Kind großziehen" meist völlig alleine da. Viele Paare werden erst spät Eltern und planen das Projekt "Wunschkind" dann von Anfang bis Ende generalstabsmäßig durch. Von der Schwangerschaft bis zum Abitur - alles muss perfekt laufen. Das Kind wird dabei nicht selten überfördert und überfordert. Auch die Technisierung macht es nicht gerade besser: Früher hat es doch auch gereicht, wenn man der Mama gesagt hat, wo man hingeht und pünktlich wieder daheim war. Heute haben Kinder Handys, die jederzeit geortet werden können. Die Gefahren waren damals nicht kleiner, doch sie waren nicht ständig in den Medien präsent und damit besorgten Eltern im Kopf. Internet und Medien tragen einen großen Teil zur Verunsicherung bei, indem sie vermeintlich "aufklären", aber eigentlich nur irrationale Ängste schüren.

Aufklären, aber nicht Panik schüren

Hier sind auch wir Ärzte gefragt. Aufklärung ist gut und Vorsorge ist wichtig. Doch genauso wichtig ist es, Eltern darin zu bestätigen, auf ihr Gefühl und ihren gesunden Menschenverstand hören. Denn sie kennen ihr Kind schließlich am besten und wissen auch, wann ihm wirklich etwas fehlt. Nehmen Sie die empfohlenen Schutzimpfungen und Vorsorgetermine wahr, aber lassen Sie sich von den Medien oder anderen überbesorgten Eltern nicht ständig verrückt machen.

Wichtig: Einen gesunden Mittelweg finden

Natürlich soll man Kinder nicht einfach sich selber überlassen. Doch manchmal lohnt es sich, kurz darüber nachzudenken, ob die Gefahr wirklich so groß ist und ob man das Kind nicht besser selber die Konsequenz erspüren lassen soll. Natürlich muss man es gegenüber lebensgefährlichen Gefahrenquellen absichern, doch es muss auch eigene Erfahrungen machen dürfen - und zwar von Anfang an. Denn nur dann kann es sich im Falle einer echten Gefahr auf seine Erfahrung und seinen Instinkt verlassen. Nur so lernt es, sich selbst zu helfen, wenn es mal wirklich in Schwierigkeiten gerät.

Die wichtigsten Pfeiler einer vernünftigen "lässigen" Erziehung:

Nicht zu viel Kontrolle
"Helikoptern" Sie nicht ständig um Ihr Kind herum. Beispielsweise braucht ein Vierjähriger im Kindergarten wirklich noch kein Handy, um für seine Eltern ständig erreichbar zu sein. Zu viel Förderung tut ebenfalls nicht gut. Kinder brauchen auch nicht verplante Freizeit - um zur Ruhe zu kommen, um Freunde zu treffen und auch mal Langeweile zu spüren, denn nur so entwickeln sie Fantasie.

Nicht zu viel Hygiene
Auch das gehört zur gesunden Entwicklung dazu: ein Kind muss sich mal dreckig machen dürfen. Das Immunsystem braucht den Kontakt mit Schmutz und Bakterien um zu lernen. Desinfektionsmittel beispielsweise haben in einem normalen Haushalt nichts zu suchen. Wissenschaftliche Studien zeigen immer wieder, dass Kinder, die in allzu sterilem Umfeld aufwachsen, häufiger krank sind und zu Allergien neigen.

Kindern mehr zutrauen
Nehmen Sie Ihrem Kind nicht alles ab. Sagen Sie lieber: "Probier es doch mal selber. Wenn Du es nicht alleine schaffst, dann zeige ich es Dir." Das Prinzip von Maria Montessori "Helfen, es selbst zu tun" hat nicht nur eine erfolgreiche Alternative zum staatlichen Kindergarten- und Schulsystem begründet, sondern fließt heute in immer mehr vernünftige pädagogische Ansätze und Erziehungsmodelle ein. Das Ergebnis sind starke und glückliche Kinder, die mit Zuversicht und Selbstvertrauen ins Leben hinaus schreiten.

Auch mal an sich selber denken
Das fällt überfürsorglichen Eltern oft besonders schwer. Letztlich kommt es jedoch Ihrem Kind zugute, wenn Sie sich zwischendurch Zeit für sich und Ihre eigenen Wünsche nehmen und auch mal Ihre Partnerschaft in den Vordergrund stellen - statt immer nur das Kind oder die Kinder. Ausgeglichene, zufriedene und glückliche Eltern sind vielleicht die wichtigste Basis, die Sie Ihrem Nachwuchs für seine gesunde Entwicklung und einen erfolgreichen Start ins Leben mitgeben können.

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