viel Schreien, wenig Schlaf

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: viel Schreien, wenig Schlaf

Sehr geehrte Frau Dr. Bentz, ich schreibe Ihnen heute, obwohl unser Baby eher nicht unter die Kategorie „Schreibaby“ fällt, weil ich Ihre Antworten als sehr hilfreich und vor allem einfühlend empfinde und das genau das ist, was wir jetzt brauchen, schreibe ich Ihnen trotzdem. Unser Sohn ist 9 Wochen alt und kam nach einer emotional schwierigen aber körperlich problemlosen Schwangerschaft zur Welt, auch die Geburt war völlig komplikationslos. Nachdem er die ersten 14 Tage total entspannt und zufrieden war, begann danach das, was uns auch jetzt noch sehr belastet: er schreit viel und schläft schlecht ein und dann sehr kurz. Zwischendurch hatte er eine Woche, in der alles deutlich ruhiger und zufriedener war, aber jetzt ist es wieder sehr belastend für uns alle. Eine osteopathische Behandlung und auch die kinderärztliche Untersuchung haben nichts finden können, was seinen „Zustand“ (mir fehlt das richtig Wort) erklärt. Zur Situation: Unser Kleiner wächst mit einem großen Geschwisterchen auf, ich bin als Mutter voll zuhause und der Papa unterstützt am Abend. Durch die Große sind die Tage nicht immer im gleichen Rhythmus, wobei auch er selbst noch keinen echten gefunden hat, nur die Zubettgehzeit ist immer gleich, zwischen 19:45 und 20:15 Uhr. Wenn er morgens aufwacht schreit er erstmal um dann eine Zeitlang zufrieden zu lächeln und auf Spielangebote einzugehen. Meist wird er dann hungrig und dabei müde. Ihn dann abzulegen führt entweder dazu, dass er noch eine Weile zufrieden im Bettchen liegt, oder dass er direkt zu meckern anfängt und sich dann ins Schreien steigert. Meist lasse ich ihm eine Weile Zeit, um zu sehen, ob er doch alleine in den Schlaf findet, wenn nicht, nehme ich ihn auf den Arm und lasse ihn dort schlafen. Ablegen führt zum Aufwachen nach wenigen Minuten, aber auch auf dem Arm ist er nach ca. 30 min wieder wach. Dann gibt es wieder zwei Möglichkeiten, entweder ist er eine Weile zufrieden und man kann sich mit ihm beschäftigen, oder er ist noch so müde, dass er nur weint. Letzteres ist schwierig, da er sich dann teilweise so reinsteigert, dass ihn kaum mehr etwas beruhigen kann. Ähnlich zieht es sich dann durch den gesamten Tag. Wir haben das Gefühl, dass er nicht genug Schlaf bekommt und so ständig müde und dadurch unzufrieden ist. Der ganze Tag dreht sich irgendwie nur darum ihn in den Schlaf zu bringen. Auch im KiWa wacht er nach max. 40 Minuten auf, lediglich das Tragetuch führt mal zu Schlaf bis zu 2h. Unsere Große hat das Gefühl, dass sich alles nur noch um den Kleinen dreht und ehrlich gesagt, hat sie recht, wir sind nur am Schauen, was er braucht und was ihn zufrieden macht, bzw. in den Schlaf bringt. Wenn wir dies nicht tun, brüllt er herzzerreißend. Sie können sich also sicher vorstellen, wie belastend die Situation für alle ist. Abends lässt sich noch erwähnen, dass er meist nur einschläft, wenn er an meinem kleinen Finger nuckeln darf, alles andere (auch die Brust zum Nuckeln) lehnt er ab. Dann schläft er meist recht gut, schläft sogar nach dem Wickeln nachts meist wach problemlos ein. Am Finger nuckeln würde ihm den ganzen Tag gefallen, das ist aber nicht praktikabel, außerdem ist der Schlaf, in den er so findet tagsüber auch nur für so lange, wie der Finger zur Verfügung steht. Zudem fällt mir auf, dass er mich nur sehr selten und dann auch nur sehr kurz direkt ansieht. Wenn er in meiner Gegenwart lächelt, wirkt dies meist nicht auf mich bezogen, das macht mich sehr traurig und lässt mich an einer guten Bindung zweifeln. Wie gesagt, die Ss war nicht leicht, da wir davor eine Fehlgeburt mit vorangehender schwerer Diagnose zu verarbeiten hatten. Unser Wunsch ist, ihm zu helfen, im Schlaf Entspannung zu finden um dann auch gut gelaunte und aufmerksame Momente genießen zu können. Haben Sie einen Rat für uns? Herzliche, gleichzeitig traurige und erschöpfte Grüße ER

von ER2011 am 05.07.2016, 08:29


Antwort auf: viel Schreien, wenig Schlaf

Liebe ER2011! Vielen Dank für Ihren ausführlichen und sehr offenen Bericht! Ihre Gedanken sind sehr vielschichtig und weitreichend – was zeigt, wie intensiv diese Themen Sie beschäftigen und manchmal vielleicht auch gefangen nehmen. Gern versuche ich mit meinen Worten hier Ihnen vielleicht ein paar Ergänzungen zu liefern, denn auch wenn zweifelsohne die Situation mit so einem chronisch unruhigen Baby sehr kräfte- und nervenzehrend ist - sie ist kein unveränderliches Schicksal. Dieser Schrecken wird enden und jeder Tag spielt Ihnen dabei in die Hände. Wenn Sie dieses Forum häufiger lesen, werden Sie natürlich wissen, dass mit neun Wochen in der Zeit befindet, die man als Schreigipfel bezeichnet. Nach den berühmten 3-4 Monaten nimmt diese Unruhe dann bei den meisten Kindern ab. Wen man von einem hohen Ausgangsniveau (=viel Schreien) startet, können diese Fortschritte allerdings nicht ganz so spürbar sein. So schreit z.B. ein Kind, was nach anfänglichen 5 Stunden täglich nur noch 3 Stunden schreit, deutlich weniger, aber drei Stunden sind immer noch viel. Doch ich will Ihr Problem nicht kleiner reden. Auch wenn ich mir keine Ferndiagnosen erlauben möchte, so stellt sich mir beim Lesen Ihrer Beschreibungen nicht doch die Frage, ob bei Ihrem Kind Regulationsschwierigkeiten vorliegen, die behandelt werden sollten. Die Fähigkeit, länger am Stück zu schlafen, ist in den ersten Wochen vor allem reifebedingt, der elterliche Einfluss noch gering. Im Alter Ihres Sohnes ist ein gewisses Maß an Chaos noch normal. Da Ihr Sohn allerdings nachts ja länger und problemloser zu schlafen scheint, hat er hier ja schon eine gewisse Entwicklung gemacht, verfügt also grundsätzlich über diese Fähigkeit. Rein fachlich fände ich auch die relativ kurzen Nickerchen am Tag noch gar nicht bedenklich. Erst mit wachsendem Alter konsolidieren sich diese kurzen Schläfchen immer mehr, so dass die meisten 2-Jährigen dann mit einem längeren Mittagsschlaf am Stück auskommen. Es kann sein, dass Ihr Kleiner jetzt einfach typbedingt durch eine niedriger Reizschwelle und gleichzeitig eine hohe Aktiviertet auf Reize sehr sensibel reagiert und schnell schlapp macht, so dass er alle 1,5 – 2 Stunden eine Pause braucht. Was zu diesem Muster passen würde, wäre, dass Ihr Sohn öfter keinen Blickkontakt sucht, sich abwendet. Von vielen Eltern wird dies als „Ablehnung“ missverstanden – oder (noch schlimmer) es kursieren voreilige Annahmen über frühkindlichen Autismus, die man nur schwer aus dem Kopf bekommt. Meistens ist dieses Verhalten jedoch schlicht ein Zeichen für eine gesunde(!) Selbstregulation. Das Kind wendet sich ab, weil es sich jetzt von Reizen abschotten muss und es ihm zu viel wird. Doch was „normal“ ist und was nicht nützt Ihnen natürlich jetzt wenig und ich möchte keineswegs Durchhalteparolen von mir geben. Es ist wirklich enorm belastend, wenn sich alles um das Thema Schlaf dreht und zusätzlich noch ein anderes Geschwisterchen da ist, was Aufmerksamkeit braucht. Gerade das intensive Bemühen um Schlaf kann dann genau verhindern, dass die nötige Ruhe aufkommt. Aus Angst vor der Übellaunigkeit und dem Schreien tun dann die Eltern alles, dass das Kind schläft. Verständlich! Allerdings ist weniger hier mehr, selbst wenn das heißt, dass ein Kind eben mal nicht oder nur kurz schläft. Mein Rat diesbezüglich: Nehmen Sie etwas mehr Druck von sich und sehen Sie die Pausen als Angebote zur Ruhe an Ihren Sohn. Nicht immer muss und kann er schlafen. Er sollte aber die Möglichkeit bekommen, runterzufahren, was Sie am besten durch eine Reizreduktion erreichen. Dies heißt nicht komplette Isolation oder Abschottung, aber eben auch nicht das xte blinkende und lärmende Spielzeug zur Ablenkung. Gleichsam ist es wichtig zu erkennen, wann ein Kind aus Langeweile meckert. Dies ist, wenn man immer nur auf den Schlafmodus gepolt ist gar nicht so einfach. Hinzu kommt, dass viele Eltern so erschöpft sind, dass Sie dann die Gelegenheiten (und Signale) für positive Interaktionen verpassen bzw. übersehen. Das ist für den Aufbau einer guten Bindung für beide Seiten schwierig. In der Behandlung von frühkindlichen Regulationsstörungen nimmt das Thema Bindung daher auch tatsächlich einen großen Raum ein. Doch um es ganz klar zu machen – ich möchte Ihnen keine Bindungsstörung andichten! Ich denke aber, dass es auch allein deshalb, um diese Gedanken nicht immer mit sich rumzuschleppen, für Sie sinnvoll sein könnte, einen Kollegen vor Ort aufzusuchen. Es gibt keinen Grund, warum Sie die Zähne zusammenbeißen und alles allein ertragen sollten. Vielleicht reichen schon 1-2 Gespräche und was ist dieser Einsatz gegen das, was Sie sonst täglich leisten? Also ende ich mal wieder mit einem Appell daran, dass professionelle Hilfe zu suchen und dies nicht als Zeichen von Schwäche auszulegen. Für Leid gibt es keinen Orden – auch nicht als Mutter! Ich wünsche Ihnen alles Gute und weiterhin viel Kraft! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 07.07.2016