Unser Alltag ist die Hölle

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Unser Alltag ist die Hölle

Hallo Frau Bentz, meine 2 Kinder sind 10 Monate sowie 2,5 Jahre alt. Mein Großer war Schreibaby und ich habe bis heute den Eindruck dass diese schlimme Phase unsere Bindung irgendwie zerrüttelt hat. Der Große ist seit der Geburt des Geschwisterchen latent unzufrieden, ganz egal wie sehr man sich um ihn bemüht. Ich mache auch bei ihm viel wenn er es fordert (zb Füttern, Schuhe anziehen usw was er eigentlich selbst könnte) einfach nur um fair zu sein. Oft trage ich trotz Bruch auf jedem Arm ein Kind durch die Gegend. Trotzdem herrscht ein ständiges Gegreine und raus gepresstes Geheule (eindeutig unecht). Er geht halbtags mit Freude in die KiTa. Bei mir ist er durch nichts zu begeistern, will selten mitmachen, hauptsächlich versucht er das Spielen seines Bruders kaputt zu machen indem er ihm alles wegnimmt. Er sei "nicht lieb" sagt er. Ich höre mich an wie eine gesprungene Schallplatte. Immer wieder "nein", "lass das", "nicht schön" usw. Die gängigen Methoden von Frau Ubbens (nein +wegsetzen, erklären, Konsequenz usw) setze ich durch. Er hört aber einfach nicht. In letzter Konsequenz platzt mir täglich irgendwann der Kragen. Am meisten nervt mich neben dem nicht hören dass er mich ständig (also fast bei jedem Körperkontakt) zwickt. Er hört einfach nicht auf. Ständig knetet er meinem (zugegebenermaßen nach der 2. SS etwas wabbeligen) Bauch rum und lässt dies nicht sein. Neben der Tatsache dass er auf NICHTS von mir hört (und dann eben plärrt wenn man es trotzdem macht, zB anziehen) vergiftet das die Stimmung zuhause. Das ehemals sehr ruhige Geschwisterchen macht nun auch ständig Terror, zb beim Schlafen. Er brüllt, streckt sich, will runter, krabbelt selbst mit geschlossenen Augen noch durch die Gegend. Die Schlafenszeit mittags ist der Horror. Das Baby brüllt und wehrt sich um dann plötzlich einzuklappen. Und der Große turnt auf mir rum (Mister möchte mittags quasi auf mich drauf liegen, knetet am Bauch und schläft dann irgendwann nach 1000 Kaspereien). Ich bin total konsterniert dass er immer versucht sich an mir zu reiben (natürlich in dem Alter noch nicht sexuell motiviert, aber ich möchte dies trotzdem nicht, setze ihn weg und wieder ist Geheule). Jede Methode des Abblockens bzw der Erziehung wird mir Geplärr, Gegreine, Gemecker quittiert. Ich bin verzweifelt und bezüglich meines Großen oft fast vor dem Ausflippen. Länger "weg" zB per Babysitter möchte ich ihn nicht geben - ich will ihn ja nicht abschieben sondern erziehen und Spass mit ihm haben. Das Baby hängt sehr an mir und ist voll in der Fremdelphase, kann also auch nicht woanders hin. Die Hilfe vor Ort findet das Verhalten meines Großen normal (wobei er die sonderbaren Marotten nicht in deren Gegenwart zeigte sondern ruhig spielte) und ich mir auch nicht getraut habe einige Dinge anzusprechen zB das Gereibe. Wie kann ich wieder Ruhe in unseren eigentlich zeitlich streng geregelten Alltag bringen? P.S. Wir sind täglich lange draussen auf dem Spielplatz - es wird regelmäßig und ausgewogen gegessen - der Große schläft mittags, der Kleine 3x am Tag- Bettzeit ist um 20 Uhr

Mitglied inaktiv - 06.06.2016, 11:40


Antwort auf: Unser Alltag ist die Hölle

Liebe Hamstermama, oh, je, Ihr Hamsterrrad dreht sich tatsächlich ziemlich schnell. Das klingt sehr anstrengend und nervenzehrend. Da nützt es Ihnen auch nichts, wenn man Ihnen sagt, dass Ihre Kleinen ja noch klein sind und so ein schwieriges Verhalten tatsächlich normal sein kann. Sie strampeln sich ab und trotzdem schaukelt sich die Situation weiter hoch. So wie ich die Sache sehe, kommen hier mehrere Dinge zusammen: Eine unbehandelte Schreibabyproblematik. Sie sagen selbst, dass dieser schwierige Start Spuren hinterlassen hat und die Bindung zwischen Ihnen belastet. Vielen Eltern von ehemaligen Brüllern geht es so, schließlich wurde die Zeit, die andere Eltern zum Babyflittern, Schmusen und unbeschwerten Spielen hatten, weitgehend verschreien. Da heißt es dann durch den Tag kommen und für liebevolle Gedanken ist meist wenig Platz. Geht dann diese Schreiproblematik nahtlos über in weitere Schwierigkeiten im Kleinkindalter, kommt das Positive einfach zu kurz. Im Fokus stehen Probleme und all das, was schwierig ist und nicht klappt. Es ist daher bei der Behandlung von exzessiven Schreien nicht nur wichtig, die Seite des Kindes zu betrachten, sondern auch das - um mal Psychologenjargon zu benutzen – „was es mit den Eltern gemacht hat.“ Kommt dies zu kurz, kann sich die Schreiproblematik weitaus länger als das eigentliche Schreien die Eltern-Kind-Interaktion belasten. Sie als Mutter sind immer noch im Alarmmodus und hatten keine Möglichkeit aufgrund der raschen Schwangerschaften sich wirklich zu erholen. Vermutlich ist Ihr Umgang wieder geprägt davon, dass Sie alles Mögliche versuchen, damit Ihr Großer zufrieden ist. Wenn er schreit, aktiviert das alte Muster, Ängste und Sorgen – wenngleich ein Kleinkind aus anderen Gründen schreit als ein Baby. Sie jedoch sehen ihn dann wahrscheinlich so, wie Sie ihn immer erlebt haben als schwieriges, anstrengendes Kind, was völlig unsteuerbar ist und Sie hilflos macht. Das wiederum festigt ihn in seiner Rolle als schwieriges Kind, da so dass Negative Aufmerksamkeit bekommt. Will er Aufmerksamkeit, verfällt er in destruktive Muster – und ist sich Ihrer Aufmerksamkeit sicher. Das ganze durchblickt er natürlich noch nicht und handelt daher auch nicht strategisch. Es ist schlicht das, was erals Erfolgsmodell etablieren konnte, sprich gelernt hat. Andere Bezugspersonen (wie z.B. die Erzieher in der Kita) haben es da leichter, denn Sie haben nicht die Erfahrungen mit Ihrem Sohn als Schreibaby mitgemacht und konnten ihn ganz unvoreingenommen kennen lernen und ihm damit auch entspannter und offener begegnen. Da ist es dann auch viel einfacher, das Positive zu sehen und zu bestärken. Hinzu kommt, dass sdie Erzieher in der Hierarchie Ihres Sohnes auch eben nicht so weit vorne stehen wie Sie als Mutter, und das bedeutet immer auch mehr Beziehungsdynamik – im Guten wie im Schlechten. Es ist daher kein Zeichen, dass Ihr Sohn Sie nicht liebt, wenn er bei Ihnen „schwieriger“ ist. Was also tun? Um diese Negativ-Spirale zu durchbrechen, wäre es wichtig, dass Sie beide die Möglichkeit bekommen, sich in einem anderen Licht zu sehen und entspannter begegnen zu können. Für Sie würde dies bedeuten: ich sehe in meinem Sohn nicht immer nur das Schreibaby oder schwierige Kind, für Ihren Sohn, dass er Mama nicht immer nur als „Meckermama“ mit lästigen Baby sieht, um deren Aufmerksamkeit er kämpfen muss. Doch was so schön klingt, ist harte Arbeit. Es gibt dabei mehrere Möglichkeiten, dies umzusetzen. a) Schaffen Sie möglichst exklusive Zeiten ohne Bruder. Hier reichen 2 Nachmittage pro Woche, die dann als fester Termin für Sie beide reserviert sein sollten. Es ist eh sinnvoll, dass sich Ihr Jüngster ein einen Babysitter gewöhnt und wenn diese regelmäßig jede Woche kommt, wird dies trotz Fremdeln auch klappen. Zudem haben Sie dann einen Notfallhelfer, den Sie mit zwei so kleinen Kindern sicher immer mal wieder gebrauchen können. b) Sorgen Sie außerdem für Aus-Zeiten für sich! Sie müssen sich klar machen, dass Sie einen Marathon aus körperlicher und seelischer Anstrengung absolviert haben. Sie brauchen Erholung und Entlastung, um überhaupt die nötige Geduld und Ruhe für die zwei kleinen Jungs aufbringen zu können. Wenn Sie immer nur unter Strom stehen, werden Änderungen schwer. Sie reagieren immer nur, anstatt selbst zu gestalten. Was für sich tun ist daher kein Luxus, den man sich höchsten mal gönnt, wenn es gerade mal nichts zu tun gibt (also bei kleinen Kinder so gut wie nie), sondern Notwendigkeit! Auch hier kann ein Babysitter wirklich gute Dienste leisten! c) Versuchen Sie die Dinge, die klappen, in den Fokus zu rücken. Also loben, loben , loben! Ignorieren Sie dagegen Dinge häufiger, die nicht gut klappen – sofern dies geht (bei Hauen und Schlagen natürlich nicht). Bestärken Sie Ihren Großen in seiner großen Bruderrolle und lassen Sie ihm gleichzeitig auch mal Baby sein. Was immer gut ankommt sind Dinge wie „ich brauche deine Hilfe. Kannst du mir bitte den Lappen da bringen etc.“ oder „Du kannst doch so gut deine Schuhe anziehen. Kannst du das mal deinem Bruder vormachen.“ Lassen Sie ihn bei der Babypflege etwas mitmachen und führen Sie gemeinsame Rituale ein (gemeinsames Baden und nachher nebeneinander eine Kuschelmassage). Sorgen Sie für positive Herausforderungen und Erfolgserlebnisse und knüpfen Sie an Interessen Ihres Sohnes an. Er kann etwas besonders gut oder interessiert sich für bestimmte Dinge! Sprechen Sie mit ihm darüber und geben Sie ihm Gelegenheit, das zu zeigen, was er kann. Schön ist auch eine gemeinsame neue Aktivität, wie z.B. Kinderturnen. Da kann der Große toben und der Kleine bleibt im Tragetuch. Lassen Sie Ihren Großen bei Dingen, wo es geht auch mal mitbestimmen (Du darfst heut aussuchen, auf welchen Spielplatz wir gehen). Auch hier kann ein Babysitter, der einfach mal mitkommt und mithilft, eine tolle Unterstützung sein. d) Gucken Sie nach einem Ansprechpartner vor Ort, der ein offenes Ohr für Sie hat. Eventuell bietet sich eine Kurzzeittherapie oder Familientherapie an. Toll finde ich auch die Unterstützung durch Marte Meo (einfach mal googlen), gerade wenn es um Bindung geht. Sie hatten und haben eine Menge zu schultern gehabt und es wäre sicher sinnvoll, dem etwas mehr Raum zu geben. Sie haben ja berichten, dass es mit Ihrer Hilfe vor Ort nicht so recht funktioniert, doch das ist ja kein unveränderliches Schicksal. Manchmal dauert es ein bisschen, bis man jemanden findet, der zu einem passt und zu dem man ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Das Wichtigste aber zum Schluss: Auch wenn ich Ihnen rate, sich Hilfe zu holen, meine ich damit nicht, dass die Probleme allein nur in Ihrem Kopf sind und sich mit ein bisschen Wellnesstee alles in Wohlgefallen auflöst. Vielleicht haben Sie ein Kind, das aus welchen Gründen auch immer, anstrengender ist und besondere Erziehungskompetenzen erfordert als andere. Das kann schlicht damit zusammenhängen, dass hier zwei ganz unterschiedliche oder zu ähnliche Temperamente aufeinandertreffen, oder Ihr Großer hat einfach noch Schwierigkeiten, sich selbst zu regulieren, die familiäre Situation eh angespannt ist oder, oder, oder. Manchmal hilft es jedoch, sich einzugestehen, dass es wirklich so ist und sich den Druck nimmt, eine Bilderbuchfamilie sein zu müssen. Das Leben mit zwei kleinen Kindern ist wirklich eine Herausforderung und einige Familien werden dabei mehr gefordert als andere. Lieben kann man sich trotzdem. Und wenn man heute einfach mal nur so klarkommt, heißt das nicht, dass die Liebe nicht da ist. Sie ist dann vielleicht einfach mal nur im Hintergrund und hält sich bereit… In diesem Sinne: alles Gute für Sie! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 10.06.2016