Normale Entwicklungsphase oder Problem?

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Normale Entwicklungsphase oder Problem?

Sehr geehrte Frau Bentz, Sie haben mir schon einmal geholfen und auch heute wende ich mich mit einer Frage an Sie. Unsere Tochter ist 11 Monate alt und normal entwickelt. In den ersten 3 bis 4 Monaten hat sie viel geschrien und bis heute eigentlich zumindest Durchschlaf- streckenweise auch Einschlafprobleme gehabt. Mittlerweile spielt sich das aber alles ganz gut ein. Sie wird zum Einschlafen und nachts immer noch gestillt und ist meist gut gelaunt und Energie geladen. Sie hat lange und stark gefremdelt - mittlerweile fühlt sie sich in fremden Situationen schnell zurecht, beschaut zunächst alles kritisch, kann dann aber innerhalb von wenigen Minuten vom Schoß runter und geht auf Entdeckungstour. Wir wohnen zu dritt ohne größeres soziales Netzwerk. Unsere beiden Elternhäuser sind mehrere Autostunden entfernt und der Sozialkontakt der Kleinen und mir beschränkt sich auf Krabellgruppen, PeKip, gemeinsamen Sport etc. Der Papa arbeitet sehr viel und lange und kommt abends meistens so spät nach Hause, dass die zwei noch ein Stündchen miteinander haben. Als die kleine anfing zu krabbeln und dann auch an Möbeln zu laufen, mochte sie plötzlich den Papa nicht mehr sonderlich gerne. Als sie stark gefremdelt hatte war das auch so - das konnten wir uns aber erklären. Dann kam eine sehr schöne Zeit, in der sie den Papa abends wie den Star des Tages in Empfang genommen hat und bitterlich weinte, wenn er z.B. von der Haustür aus erstmal zur Toilette musste. Das ging einige Monate so und jetzt (seit etwa 2 bis 2,5 Monaten) ist damit Schluss. Papa wird wahrgenommen, mehr aber auch nicht. Soweit so gut. Das schlimme ist aber, dass er NICHTS darf, solange ich in der Nähe bin. Sie verlangt direkt nach mir in Form von Protestweinen. Sind wir zu dritt längere Zeit am spielen und der Papa sagt dann "Pämpi wechseln", macht sie mit - aber wehe, wenn sie davor intensiv mit mir beschäftigt war. Ins Bett bringen oder nachts nach ihr schauen geht überhaupt gar nicht (was aber eigentlich nie sonderlich anders war). Die Sache ist aber, dass wir gerade fast 4 Wochen Heimaturlaub gemacht haben und alle andern dürfen sie von mir weg nehmen. Insbesondere meine Mutter, die sowieso den dicksten Stein im Brett hat und alle anderen alt aussehen lässt (da darf ICH sie dann nicht weg holen...), aber auch die Tante oder der Patenonkel - nur Papa nicht. Zeitgleich mit dieser Entwcklung will sie vermehrt wieder an die Brust. Davor war es so, dass ich schon dachte meine Tochter stillt sich selbst ab, aber seit dieser Monate will sie dauernd nuckelnd an mir hängen. Tagsüber habe ich abgestillt und sage ihr auch, dass wir jetzt richtig essen - nachts lasse ich sie derzeit noch, weil die Zähne quälen und wir jetzt viel unterwegs waren, bei Oma und im Urlaub. Da fand ich, dass nächtliches Abstillen nicht sein muss. Meine Fragen sind im Hinblick auf das Verhalten gegenüber ihres Papas und des Stillens folgende: 1. Ist dieses Verhalten einfach entwicklungstechnisch normal und sie sortiert innerfamiliär, wer für was zuständig ist? Hängt sie gerade so an mir, bevor sie es schafft in die Große weite Welt zu tapsen und dann auch dem Papa zu vertrauen? Oder sind das alles schlechte Zeichen im Hinblick auf ihre Bindung zu mir und ihr Vertrauen mir gegenüber? 2. Wie sollen wir damit umgehen? Wir (heißt eigentlich hauptsächlich ich) haben versucht bindungsorientiert zu handeln. Meinstens, wenn sie bei Papa schimpft, nehme ich sie wieder zu mir. Immer geht das natürlich nicht (wenn ich z.B. duschen muss). Machen wir das richtig? Oder muss sie dann da durch? Wenn mein Mann sie dann einfach mit nimmt und sie mich nicht mehr sieht, ist auch direkt Ruhe. Mir brechen solche Momente dann immer das Herz, wenn ich ehrlich sein soll. Ich will sie ja nicht zurück weisen. 3. Geht das mit dem Stillen vllt in die gleiche Richtung? Tankt sie gerade Nähe und ich sollte ihr diese so gut als möglich geben - bisher so geschehen. Ich würde gerne Abstillen, wenn jetzt reisetechnisch wieder ruhigere Zeiten auf uns zukommen und die Zähne und Impfungen erledigt sind. Da sie vorher aber auch nachts mit dem Schnulli zufrieden war und nur einmal ihren Hunger gestillt hat und das mittlerweile nicht mehr geht, sie wehement die Brust verlangt, frage ich mich auch hier, ob sie sich Nähe-technisch verlangt, was sie braucht um eine starke und gute Bindung zu mir aufzubauen und es vllt ein Fehler wäre sie Abzustillen, solange sie so heftig verlangt und protestiert. Uns würde es leichter fallen beständig, guten Gewissens und vielleicht auch weniger enttäuscht (Papa, weil zurück gewiesen, Mama, weil die erhoffte "Verschnaufpause" auch nicht zu erwarten ist, wenn mein Mann daheim ist) zu handeln, wenn wir wüssten, was die Kleine möglicherweise zu ihrem Handeln bringt. Vielleicht können Sie uns da ja erhellen und eben auch Verhaltensratschläge geben. Mit herzlichem Gruß und großer Spannung auf Ihre Antwort, Ihre Siegfriedstochter

von Siegfriedstochter am 18.07.2016, 16:11


Antwort auf: Normale Entwicklungsphase oder Problem?

Liebe Siegnfriedstochter! Schön, wieder von Ihnen zu hören! Ich kann gut nachvollziehen, dass das Verhalten Ihrer Tochter irritiert. Doch eigentlich müsste man Sie beglückwünschen! Das was Ihre Tochter zeigt, ist nicht etwa Folge irgendeiner Störung, sondern Ausdruck einer völlig normalen, fortgeschrittenen Entwicklung. Was Ihre Tochter nun tut ist, das Spielen auf der Klaviatur der sozialen Beziehungen. Sie hat jetzt die kognitiven Voraussetzungen dafür, differenzierte persönliche Beziehung aufzubauen und testet dementsprechend. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Kinder nach anderen Regeln als wir Erwachsenen Beziehungen ausgestalten. Ihre Tochter ist in diesem Altern noch egozentrisch, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, zum Lügen, zum strategischen Handeln ist noch nicht da. Sie weiß nicht, was Ihr Handeln für Gefühle bei anderen auslöst. Sie will niemanden verletzen und denkt noch nicht in Kategorien wie Liebe, Freundschaft etc. Für Kinder in diesem Alter funktionieren Beziehungen noch nach dem Motto „wer den größten Keks hat, wird bevorzugt“ – was dieser Keks dann ist, ist völlig unterschiedlich. Mal ist es Vertrautheit und Sicherheit, als die Sensation des Neuen oder des Seltenen und mal eben auch tatsächlich einfach nur ein Keks. Dabei kann das Ganze auch schon mal von Woche zu Woche umschwenken, ohne dass sich dahinter nachhaltig Sympathie oder Antipathie verbirgt. Bindung erarbeiten sich die Kleinen durch das Wechselspiel von Nähe und Distanz. Also, alles ganz in Ordnung! Wichtig wäre aus meiner Sicht jedoch, dass „Fremdeln“ bzw. „Ablehnen“ des Vaters nicht noch dadurch zu festigen, dass Sie Ihre Tochter dann wieder nehmen. Dadurch lernt Ihre Tochter nämlich nicht, dass Papa auch für sie da ist und es auch mit Papa geht. Unter Umständen bestärken Sie also ihre Unsicherheit, indem Sie gewissermaßen so reagieren, als wäre Ihre Tochter auf die Nase gefallen und bräuchte dringend Trost. Wenn Ihre Tochter eine gute Bindung zu Vater aufbauen soll, ist es gerade jetzt entscheiden, ihr die wiederholte Erfahrung zu ermöglichen, dass Papa anders, aber genauso gut ist wie Mama.Also: wenn sie weint oder wütend wird, ist das kein Grund zurück zur Mama zu gehen. Sie muss ja nicht wirklich "igrndwie dadaurch" denn es passiert ja nichts Schlimmes.Auch Papa kann trösten, ins Bett bringen oder beruhigen, man muss ihn nur lassen. Protest bei Papa sollten Sie zudem nicht mit dem Bedürfnis nach Ihrer Nähe verwechseln. Das sind zwei Paar Schuhe! Sie möchte zu Ihnen, weil sie es so mehr gewohnt ist und weil es auch spannend ist, die elterlichen Reaktionen auf ihr Verhalten zu sehen. Sie möchte aber nicht deshalb bevorzugt zu Ihnen, weil sie ein Bedürfnis exklusiv nach Ihrer Nähe hat. Also: wenn Papa wickelt, füttert, spielt oder sonst wie in Interaktion mit Ihrer Tochter geht, sollte er auch derjenige sein, der die Situation weiterführt, sprich eben auch ggf. tröstet, beruhigt etc. Was das Stillen betrifft, so habe ich aus fachlicher Sicht keine allgemeingültige Empfehlung außerdem dem Rat, dass auch Sie Ihrem Gefühl ruhig trauen können. Eine Mutter weiß genau, wann ein richtiger Zeitpunkt ist, und ja, ich bin der Meinung, dass auch eine Mutter das Recht hat, darüber zu entscheiden und nicht bloß warten muss, bis ein Kind sich von alleine abstillt. Auch das ist aus meiner Sicht „natürlich“. (Wer einmal gesehen hat, wie rabiat Stuten oder Kühe abstillen, weiß was ich meine, auch wenn der Verglich natürlich etwas hinkt). Wenn sich dauerhaft Unbehagen einschleicht, man irgendwie denkt, es passt jetzt nicht mehr so, ist das in Ordnung. Stillen ist -wenngleich sicher förderlich - keine Voraussetzung für eine gute Bindung. Schauen Sie daher, was sich für Sie gut und richtig anfühlt. Dann haben Sie den besten Weg! Weiterhin alles Gute! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 22.07.2016