Ich weiß nicht mehr weiter - ständige Wutanfälle

Dr. rer. nat. Meike Bentz Frage an Dr. rer. nat. Meike Bentz Diplom-Psychologin

Frage: Ich weiß nicht mehr weiter - ständige Wutanfälle

Sehr geehrte Frau Dr. Bentz, wir haben zwei Söhne, der ältere ist fast 5 Jahre alt und der jüngere ist 2,5 Jahre alt. Unser Großer ist ein sehr unproblematisches Kind, generell reicht weinerlich, wenn er stürzt o.Ä., aber ansonsten ein sehr lieber Kerl. Unser Kleiner macht mich, ehrlich gesagt, krank. Ich weine ständig und immer irgendwie am Rande der Verzweiflung. Eigentlich hat er ein relativ gutes Sozialverhalten. Wenn unser Großer krank ist oder sich verletzt, streichelt er ihn, kuschelt sich an ihn oder tröstet ihn. Scheinbar besteht jedoch mir gegenüber ein Problem. Wenn er morgens oder mittags wach wird, schreit er - in der Regel 1-2 Stunden. Dabei komme ich überhaupt nicht an ihn ran. Manchmal wehrt er mich mit der Hand ab und ruft dabei immer wieder "nein, nein". Wenn ich ihn frage, was er denn hat, ist er so auf das Schreien fixiert, dass er entweder die Frage gar nicht wahrnimmt oder mich einfach ignoriert. Das Problem besteht fast nur, wenn er wach wird, dabei ruft er morgens immer nach Papa. Da dieser jedoch dann schon aus dem Haus ist, kann er mir nicht helfen. Sobald mein Mann, der Opa oder sonst jemand da ist, gibt es diese Schreianfälle gar nicht oder nur sehr selten. Auch werde nur ich abgewiesen, mein Mann oder die Großeltern nie. Auf der anderen Seite kommt es dann manchmal vor, dass er plötzlich nur von mir ins Bett gebracht werden will oder nur ich ihn füttern darf. Es gibt keinen Vorfall in der Vergangenheit, der mir das Verhalten meines Sohnes erklären könnte. Einzig eine OP unseres Sohnes als er gut 1 Jahr alt war. Da war ich 10 Tage mit ihm im Krankenhaus. Die ganze Situation war eine Katastrophe. Die Kinderstation war total veraltet und in den Zimmern war es im Sommer wahnsinnig heiß. Der kleine Mann hat die ganze Zeit nur in Pampers dort gelegen, ich habe ihm den ganzen Tag den Schweiß von der Stirn gewischt. Das Problem dabei war, dass er für 9 Tage einen Katheter hatte. Diesen durfte er sich auf keinen Fall rausziehen. Aus diesem Grund bin ich für 7 Tage Tage und Nächte wach geblieben und habe immer wieder aufgepaßt, dass er den Katheter nicht zieht. Das war für uns beide eine harte Zeit. Er hat viel geweint, vor allem direkt nach der OP. Im KH ist viel schief gelaufen, auch wurde er nur in Pampers in einem kleinen LKW zur OP gefahren, weil der OP-Saal in einem anderen Gebäude war. Dabei hat er schon sehr viel Angst gehabt. Allerdings sind die Schreiattacken erst vor ca. einem halben Jahr aufgetreten. Ich frage mich, ob seine zwischenzeitliche Abneigung mir gegenüber vielleicht daher kommen könnte. Natürlich mache ich auch ansonsten viele Fehler in der Erziehung. Ich habe seit der Geburt unseres ersten Sohnes sehr sehr wenig Schlaf gehabt, aus vielerlei Gründen. Auch das hat mich krank gemacht, mir geht es seither körperlich nicht so gut. Daneben habe ich eine unheilbar kranke Mutter, unser Kleiner muss bald ein drittes Mal operiert werden und mein Mann kann mich nicht unterstützen, weil er selbständig ist. Auch bedingt durch diese ganze Situation bin ich nervlich manchmal am Rande der Verzweiflung. Ich schreibe Ihnen das, weil ich in der Vergangenheit leider häufig den Fehler gemacht habe, meinen Sohn hin und wieder auch anzuschreien, wenn er wieder bockig war oder eine Schreiattacke hatte. Das soll keine Entschuldigung sein, ich weiß, dass es falsch ist. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Was kann ich denn tun? Ich liebe meine beiden Kinder, und ich würde das Leben mit ihnen gern genießen können, aber das fällt mir im Moment sehr schwer. Unser Sohn wird erst ab diesem Sommer den Kindergarten besuchen. ich mache allerdings mit ihm Sport und gehe 2 Mal in der Woche in eine Loslösegruppe mit ihm. Ich immer mit ihm zusammen. Nur wenn ich Arzttermine habe, kann ich ihn mal zu meinen Eltern geben. Dann fragt er auch nach mir und rennt mir freudig entgegen, wenn er mich sieht. Ich habe, meiner Meinung nach, schon alles versucht, um eine Schreiattacke aufzulösen. Bin auf ihn zugegangen, habe versucht ihn in den Arm zu nehmen und zu kuscheln (läßt er nicht zu, macht sich steif), aber auch geschimpft oder ihn ignoriert. Wenn ich Letzteres mache, beruhigt er sich irgendwann, aber das kann dann auch noch 1 Stunde dauern. Erzieherische Hilfen vor Ort möchte ich nicht in Anspruch nehmen. Wir wohnen in einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Ich möchte nicht, dass unser Sohn stigmatisiert wird. Hätten Sie vielleicht eine Idee, wie ich mit der Situation umgehen kann? Für Hilfe/Ratschläge wäre ich Ihnen so dankbar! Im Voraus herzlichen Dank für Ihre Bemühungen!! Viele liebe Grüße, MamaPL

von MamaPL am 23.02.2016, 17:01


Antwort auf: Ich weiß nicht mehr weiter - ständige Wutanfälle

Liebe Mama PL Vielen Dank für Ihre offenen Worte! Ihr Alltag klingt sehr anstrengend und es ist offensichtlich, wie sehr die Nerven blank liegen (müssen). Sie haben viele Herausforderungen, die einzeln genommen schon fordernd sind, und offenbar wenig Möglichkeiten zur Unterstützung. In so einer Situation kommt häufig ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit auf. Dies macht auf Dauer krank. Doch in der Realität sind die wenigsten Situationen wirklich aufsichtlos, sondern wir selbst bringen uns durch falsche Ideale, Ansprüche, Ängste oder Zwänge dazu, Möglichkeiten nicht auszuprobieren oder aus Routinen auszubrechen in Sackgassen. Sie sagen selbst, Sie möchten keine Hilfe vor Ort in Anspruch nehmen. Es klingt jetzt hart, doch das ist eine bewusste Entscheidung. Ich kann Ihre Ängste nichtsdestotrotz nachvollziehen, doch hier müssen Sie sich fragen, was denn an Ihrer Situation das schlimmere Übel ist: Weitermachen wie bisher oder einen neuen Schritt wagen? Ihre Sorge vor Stigmatisierung halte ich für überschaubar, da professionelle Hilfsangebote immer auch der Schweigepflicht unterliegen. Außerdem sind Ärzte und Psychologen mit dem Problem bestens vertraut, denn Themen wie diese sind einfach schambesetzt. Zudem könnten Sie ja auch ein bisschen Anfahrtszeit in Kauf nehmen, wenn Sie sich außerhalb Ihrer Stadt einfach wohler fühlen. Gern würde ich Ihnen also Mut machen, einen Ansprechpartner für Ihre Probleme zu suchen und zwar nicht weil ich glaube, dass Sie in der Erziehung versagen, sondern weil Ihr Selbstvertrauen als Mutter schon sehr gelitten hat. Selbstzweifel, Selbstzweifel, Schuldgefühle etc. sind jedoch schlechte Erziehungsratgeber. Sie führen zu Kompensationen, ambivalenten Verhalten und Überreaktionen und verhindern einen natürlichen, authentischen Umgang mit dem Kind. Ihre Unsicherheit zeigt sich für mich besonders darin, dass Sie sich von Ihrem Sohn abgelehnt fühlen und sogar eine Abneigung gegen sich vermuten. Das ist ganz sicher nicht der Fall! Ihr Sohn ist im Trotzalter, was in seinem Alter oft besonders anstrengend ist, denn hier kommt „viel Temperament auf wenig Verstand“. Ihr Sohn denkt noch nicht strategisch, Empathie muss sich erst entwickeln, die Perspektivübernahme gelingt noch nicht und insgesamt ist das Weltbild einfach egozentrisch. Sprich: die Trotzanfälle haben nichts mit mangelnder Liebe zu tun! Dass Sie es trotzdem so erleben, liegt sicherlich auch an der Erschöpfung, jedoch vermute ich auch tiefergehende Gründe wie etwa das Sie Schuldgefühle haben, weil Sie sich nicht immer so verhalten, wie ihr ideales Mutterbild es verlangt. Dann kommen häufig Gedanken wie „klar mag er mich nicht. Ich bin eben auch eine schlechte Mutter.“ u.Ä. Schwierig kann es zudem sein, wenn man sich zu einem Kind einfach mehr hingezogen fühlt als zu dem anderen (was vielen Eltern so geht) oder Temperamente einfach nicht gut zueinander passen . Hier agieren Eltern oft sehr überkontrolliert, weil Sie natürlich nicht möchten, dass ein Kind sich benachteiligt fühlt. Doch selbst wenn Sie sich strak kontrollieren, senden sie oft ambivalente Botschaften. Kinder haben für solche Dinge ein gutes Gespür und reagieren auf ambivalente Botschaften eben oft mit mehr Trotz. Trotz ist eben auch ein Überforderungssignal und nicht nur Entdeckung des eigenen Willens. Sie sehen, die Sache ist komplex. Ein paar kurze Tipps sind sicher nicht ausreichend, weil es ja Gründe gibt, die geklärt werden müssen – in welcher Form auch immer. Manchmal reicht dafür ein Gespräch, manchmal benötigt eine Familie mehr Hilfe. Fakt ist allerdings, dass es Hilfe gibt. Niemand kann Sie allerdings dazu zwingen, Sie auch anzunehmen. Ich würde Sie aber gern dazu ermutigen. Ansonsten helfen Ihnen vielleicht die Bücher von Jesper Juul und Jan Uwe Rogge, dich ich empfehlen kann. So oder so, es ist keine Schande Probleme zu haben. Auch in einer Kleinstadt nicht. Die Fassade dagegen dauerhaft makellos zu halten, ist sehr anstrengend und meiner Meinung nach Verschwendung von Energie, die sie anderweitig besser brauchen können. Zu Besserung gehört immer auch Mut! Von daher wünsche ich Ihnen genau das! Herzlichst, Ihre Meike Bentz

von Dr. Meike Bentz am 25.02.2016