Frage: Machtumkehr in Familien

Lieber Hr. Dr. Posth, vielen Dank für Ihre tolle Arbeit. Habe kürzlich einen Artikel von einem Psychologen (mit für mich sehr befremdlichen Ansichten) gelesen, der meint, dass es heutzutage zu einer Machtumkehr in der Familie käme. Er nannte als Beispiel u.a. unmöglich gewordene Gespräche zwischen Erwachsenen im Beisein der Kinder, da diese die permanente Aufmerksamkeit einfordern würden und diese auch bekämen. Nun ist es so, dass meine To. (30 M., forumgsgerecht erzogen, sehr lebhaft, sprachlich überdurchschnittlich, schwieriges Temperament, nie schreien gelassen, als Baby ständig getragen, 20 M. gestillt) auch mich insbesondere im Beisein von anderen Personen sehr in „Beschlag“ nimmt. Ich gehe darauf auch ein (bin dann quasi mit einem Ohr bei To., mit anderem bei Gesprächsp.), was in meiner Umgebung oft auf Unverständnis stößt. Wie sehen Sie das? Ab wann kann man verlangen, dass Kinder ihre Eltern auch mal ungestört reden lassen? Wie erhält man sich richtig? Vielen Dank!

von Mummy_2011 am 24.02.2014, 07:42



Antwort auf: Machtumkehr in Familien

Hallo, nicht nur Psychologen mit irgendwelchen Artikeln, auch Kinderpsychiater mit ganzen Büchern reden in dieser Weise. Was sie meiner Ansicht nach damit zum Ausdruck bringen, ist ihr Bedauern des Verlusts autoritärer Erziehungsformen. Dabei ist autoritäre Erziehung gar nicht "aus der Mode", sie ist nur -was seine geschichtlichen Ursachen hat- schlecht beleumundet. Und darum lassen sich autoritäre Erziehungsweisen auch so leicht wieder einführen, freilich mit netten Deckmäntelchen, denn man will sich ja nicht nachsagen lassen, man wolle die Kinder wieder unter die Knute zwingen. Ein kleines Kind bis etwa 4 bis 5 Jahren, also bis zum vollzogenen doppelten Perspektivwechsel (Empathie und Umdenken in die Gedankenwelt des anderen Menschen/ theory of mind), kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass die Eltern mit anderen Menschen etwas Wichtigeres zu besprechen haben, als über sie selbst zu reden. Und da dürfen sie natürlich mitreden. Werden sie zurückgewiesen, fühlen sie sich auch gleich abgewiesen, was ihrem Selbst Abbruch tut. Das Bedürfnis eines Kindes, möglichst oft im Mittelpunkt zu stehen, ist ein normales und gewissermaßen auch gesundes. Das hat man in der autoritären Erziehung aber ganz anders gesehen und zum mächtigen Erziehungsinstrument gemacht. Das Kind hatte zu schweigen, wenn Erwachsene reden. Es war den Erwachsenen einfach auch lästig, sich die noch einfachen Geschichten ihrer Kinder anzuhören. Diese Haltung zog sich bis in die Pubertät hin und sogar darüber hinaus. Inzwischen sind viel Kinder so erzogen, dass sie sich getrauen, ihrem Anspruch an Beteiligtsein auch in früher Kindheit Ausdruck zu verleihen. Dadurch werden sie zwar etwas unbequemer, bauen aber mehr Selbstvertrauen auf. Es ist genau richtig, wie Sie vorgehen. Man spricht für das Kind erkennbar hauptsächlich mit dem anderen Erwachsenen, wendet sich aber zwischendrin seinem Kind auch kurz zu und gibt ihm eine Antwort oder bittet es, eine Moment zu warten, bis man Zeit für es hat. Man kann ihm auch Vorschläge machen, was es anderes in der Zeit machen kann. Viele Grüße und danke für Ihr Lob.

von Dr. med. Rüdiger Posth am 26.02.2014