Rund um die Erziehung

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Geschrieben von sileick am 20.09.2014, 21:54 Uhr

Plädoyer für Flexibilität; sorry, ziemlich lang

Ich mag das Wort "Erziehung" nicht. Es kommt aus einer Zeit, in der man annahm, dass Kinder potenziell schlecht und böse sind, und dass man ihnen entsprechend "beibringen" muss, es nicht zu sein. Tatsächlich sind Kinder von Natur aus soziale Wesen und lernen in der Gemeinschaft. Schlägt die, schlagen sie auch (dauerhaft, ich meine nicht die Phasen, in denen sie das auch mal ausprobieren), schreit man sie an, lernen sie, das auch zu tun usw.

Das heißt aber nicht, dass es keine Grenzen gibt. Grenzen müssen nicht erfunden werden. Es gibt Grenzen, die die Sicherheit erfordert: Ich hindere mein Kind daran, auf die Straße zu laufen, und wenn ich nicht sicher bin, dass es wirklich hört, muss es an meiner Hand gehen oder auf den Arm. Es gibt Grenzen, die die Gesundheitsvorsorge fordert: Es MUSS Zähne geputzt werden, und Saft gibts (normalerweise) nur in Maßen, nie in einem Fläschchen und auch nur verdünnt. Es gibt Grenzen, die Menschen fordern: Ich brauche nachts Schlaf, um gesund und fit zu bleiben (auch, aber nicht nur für mein Kind), also wird nachts geschlafen, nicht gespielt, nicht gestillt, nicht gegessen etc., sobald das Kind alt und reif genug ist, dass das geht. Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn beim Essen rumgepantscht wird, das verdirbt mir den Spaß am bei uns immer sehr liebevoll gekochten Essen. Ergo ist der Teller weg, wenn das gemacht wird bzw. Kind muss aufstehen und darf nicht mehr weiter essen. Einen Hinweis gibts immer vorher. Im Kindergarten sind viele Menschen zusammen, es kann also nicht immer jedes einzelne Kind sofort "bedient" werden. Also bringe ich meinem Kind, wenn es sich zu Hause darüber beschwert, bei, dass das die Gemeinschaft erfordert und es nicht anders geht. Man muss eben auch mal warten lernen. Bei Bekannten, Verwandten, Freunden herrschen andere Grenzen als bei uns. Es ist eine sozial wichtige Kompetenz, sich darauf einzustellen. Also erkläre ich meinem Kind, dass man bei Familie Schmidt zu Besuch die Wurst eben immer mit Brot isst. Sie kann entscheiden, ob sie das oder keine Wurst möchte. Bei uns zu Hause darf sie gern auch Wurst ohne Brot essen.

Das sind natürliche Grenzen. Keine künstlichen Regeln. Die finde ich so überflüssig wie einen Kropf. Um solche natürlichen Grenzen für mich und meine Familie sicher zu spüren, muss ich, ggf. mit meinem Mann, darüber nachdenken, was uns wichtig ist und wo wir toleranter sein können.

Kinder brauchen meiner Meinung nach keine künstlich erstellten Regeln. Sie brauchen Liebe, Vertrauen, Klarheit im Umgang mit sich selbst und ihnen, Eltern, die ihre eigenen Grenzen gut kennen und auch vermitteln können, gutes Vorleben der Werte, die einem wichtig sind und Geduld.

Was die Ratgeber anbetrifft, so würde ich sehr stark unterscheiden: Es gibt Ratgeber und es gibt Literatur, die sich mit der wissenschaftlichen Forschung zur Entwicklung und Sozialisation etc. von Kindern beschäftigt. Ratgeber, die einem sagen, wie genau man es machen soll, halte ich für problematisch, denn jede Familie ist anders (siehe Grenzen), es gibt keine allgemeingültigen Regeln fürs Begleiten der Kinder in ein eigenständiges Leben.

Literatur auf einem wissenschaftlichen Erkenntnisniveau finde ich durchaus erhellend. Denn: Wir alle sind kulturell geprägt, was Erziehungsdogmen anbetrifft. Wir folgen den Vorurteilen, den Annahmen, den Dogmen unserer VorgängerInnen. Viele dieser Dogmen und Selbstverständlichkeiten sind problematisch, das weiß man heute, und ein Großteil davon ist in der Nazizeit geprägt worden, um einen ganz bestimmten Typ Mensch herbeizuziehen. Dabei meine ich nicht, dass unsere Eltern und Großeltern alle böse Nazis waren, aber sie alle lebten in dieser Zeit und wurden davon geprägt, und nicht immer war der Hintergrund von "Selbstverständlichkeiten" (z.B. Schreien lassen, damit das Kind aufgibt, seine Bedürfnisse zu äußern) so klar als Nazipropaganda zu erkennen. Wenn wir also aus dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklung herauskommen wollen, müssen wir uns bilden. Das geht besonders gut durch Fachliteratur.

Ein Beispiel zu Fachliteratur: Winterhoffs Tyrannenbuch wurde vielgelobt, und es klingt auch durchweg logisch, so lange man selbst keine Kinder hat. "Ein Kind hat im zarten Alter noch keine eigenständige Persönlichkeit, es entwickelt sie erst", sagt er sinngemäß. Woher weiß er das? Es gibt keine Studie, die sowas je belegen könnte, wie auch? Es ist eine Annahme, die er sich selbst in den Mund legt, als Experte hat das Gewicht, also wird es von nun an geglaubt. Aber stimmt es denn? Alle Eltern wissen, dass ihre Kinder sehr wohl ganze Persönlichkeiten sind, sie verändern sich, sie entwickeln sich, aber sie haben eine individuelle, einzigartige Persönlichkeit, und das schon im Bauch der Mutter. Stimmt das? Weiß ich nicht, aber es ist meine Überzeugung, ohne Experte zu sein. Beleg für mich sind z.B. die vielen Geschwisterkinder, die so unterschiedlich sind, trotz gleicher Familien. Auch die Hirnforschung bringt schon Hinweise dazu, wenn auch keine BEweise. Also Glaubensfrage.

So muss man sagen, dass Fachliteratur auch nicht unkritisch gelesen werden darf, sondern immer selbst bei sich geschaut werden, ob das den eigenen inneren Wahrheiten und Überzeugungen entspricht. Ich lesen wahnsinnig gerne Fachliteratur, habe auch einige Ratgeber gelesen, aber die haben mich weitgehend ratlos zurückgelassen.

Eine Verwandte warf mir mal vor, als sie kritisierte, dass ich mein Kind so oft stillte, es zu Hause zur Welt brachte und nicht mit 4 Monaten zufütterte, ich würde ja ständig nur Bücher lesen, und warum ich das denn täte, man müsse es doch so machen können. "So" hieß bei ihr, dass die Kinder sehr früh allein im Bettchen schliefen, wenig Körperkontakt hatten, per Flasche mit 7-8 Monaten abgestillt wurden und vorher bereits nach Plan gestillt. Weshalb es dann hieß, sie hätten sich von selbst abgestillt. Man weiß heute, dass sich kein Kind ohne "Nachhilfe" in diesem Alter einfach so von selbst abstillt. Gründe sind die Flasche, der Nuckel, künstliche Stillabstände, d.h. wenn nicht nach Bedarf gestillt wird und zu schnelles Ersetzen von Stillzeiten durch Beikostmahlzeiten. Das sagt die Wissenschaft, und mehr noch, dass Flaschenfütterung erhebliche Nachteile für die Kinder hat, auch über die empfohlenen 6 Monate Vollstillzeit hinaus. Nicht umsonst empfiehlt die WHO, dass ALLE Kinder MINDESTENS 2 Jahre gestillt werden sollen (was nachweislich zu erheblich sinkenden Kosten im Gesundheitssystem führt, weil die Kinder dann insgesamt gesünder sind) und darüber hinaus, so lange es Mutter und Kind wollen.

Aber diese Informationen bekam meine Verwandte im besten Glauben an die Fachkompetenz von der Hebamme, und so machte sie es eben. Sie hat tolle Kinder, natürlich werden sie auch so groß, und es ist auch ihr nicht vorzuwerfen, aber das mal eben "so" machen unter Ausschluss von Literatur heißt doch, dass man sich auf die Hinweise aus anderen Quellen (Hebamme, Kinderarzt, Großeltern, Bekannte, "das Umfeld" etc.) verlässt. Die aber sind eben - da schließt sich der Kreis - wiederum vielfach geprägt von Irrtümern und Fehlentwicklungen der Vergangenheit - genau wie von deren wertvollen hilfreichen Erfahrungen. Man muss also auch hier sondieren. Ich habe damals lange darüber nachgedacht, warum mich diese Bemerkung meiner Verwandten so störte, und kam darauf, dass das Problem war, ich hatte kein Vertrauen in mein Bauchgefühl, meinen Instinkt, weil das, was ich bis dahin aufgrund meiner gesellschaftlichen Vorprägung glaubte (Kind muss im eigenen Bett schlafen, Stillabstände müssen eingehalten werden, Baby muss sofort lernen nicht immer gleich dranzukommen usw.) einfach nicht funktionierte und zugleich all meinen Instinkten widersprach. Ich MUSSTE also andere Wege suchen. Lesen hat mir dabei die Augen geöffnet.

Ich meine, jede Frau, jeder Mann, jede Familie muss ihren Weg suchen, der am besten zu ihnen passt. Der Weg ist nicht immer derselbe. Menschen sind verschieden, und das ist gut so. Die einen lesen viel, und das hilft ihnen, Wege aus naturgemäßen "Erziehungskrisen" zu finden, die anderen verlassen sich auf Ärzte, Hebammen, Stillberaterinnen, Ratgeber, Großeltern, Freunde etc. So lange der Weg für sie jeweils als Familie, also Eltern und alle Kinder) gut ist, ist alles fein. Ein Optimum gibt eh nie. Wir sind alle nur Menschen, Perfektion ist keine menschliche Eigenschaft.

Sorry, das war jetzt echt lang, aber es macht mich immer unuhig, wenn so pauschal bestimmte Wege zum Ziel ausgeschlossen werden (Ratgeber, Fachbücher etc.), weil man das ja angeblich nicht braucht. Dafür prägt einen dann doch unbewusst das Fernsehprogramm, der Haufen von Zeitschriften und Werbung, dem man täglich ausgesetzt ist) und das, was die Gesellschaft macht. Das sind auch Ratgeber. Man muss sich dessen bewusst sein.

Wenn also für Euch TripleP ein Weg ist, der funktioniert und sich gut anfühlt, dann ist das doch gut. Wenn bestimmte Aspekte dieses Weges Euch nicht zusagen, vielleicht aber doch andere, und die, die Euch Bauchgrummeln verursachen, lasst Ihr eben weg. Beispiel "Auszeit", ist ja umstritten. Man muss sich aus allem im Leben das raussuchen, was zu einem passt.

LG und alles Gute auf Eurem Weg!

Sileick

 
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