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Frühkindliche Entwicklung, Bindung
und erweiterte Bindungstheorie

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von Rüdiger Posth

Teil 3: Kind und Gesellschaft. Das soziokulturelle Umfeld

Fortsetzung des biopsychosozialen Modells



Das Bindungsprinzip als Lebensphilosophie



Um zu verstehen, wie die Gesellschaft, damit meine ich die personelle Lebensumgebung oder das persönliche Lebensumfeld, auf das einzelne Kind einwirkt und welche Voraussetzungen dabei gegeben sind, gibt es verschiedene Theorien und praktische Erklärungsmodelle in der Soziologie und Psychologie. Ich möchte diese nur kursorisch heranziehen und mich an dieser Stelle hauptsächlich auf ein psychopädagogisches Modell festlegen, das sich aus der Entwicklungspsychologie ableitet und gleichzeitig eine Lebensphilosophie entwirft. Diese Philosophie hat schon einen Namen und heißt präzise formuliert Selbsterhaltungs- oder Überlebensphilosophie. Es dreht sich also um das existenzielle Bestehen des Individuums in einer Welt, die sich neutral aus natürlicher Umwelt und Gesellschaft zusammensetzt; die aber wertmäßig einen Einfluss auf den einzelnen Menschen nimmt, der keineswegs immer günstig und lebenserhaltend ist.

Das Überlebensprinzip ist aus diesem Grund grundsätzlicher Bestandteil und allererstes Verhaltensziel des Neugeborenen und Säuglings. Daher geht es in den ersten Lebenstagen und –wochen dem neuen Menschen auf der Welt zunächst einmal vor allem um ganz biologische Bedürfnisse verbunden mit Empfindungen, die Not und Mangel signalisieren (Hunger, Durst, Ausscheidung/Verdauung, Befreiung von Ausscheidungen, Schmerzfreiheit usw.). Der Säugling verfügt nach allem, was bisher dazu in den Wissenschaften als gesichert gelten darf, dabei noch nicht über ein fertiges Ichbewusstsein. Vielmehr nimmt er sich wahr als ein fühlender Körper, der voller Bedürfnisse steckt. Daher ist das biologische Überleben ein von Gefühlen geprägtes Ziel ohne konkretes Hinterfragen. Für ein Erreichen dieses Ziels dienen dem Neugeborenen und Säugling Reflexe, Triebe und Bedürfnisse.

Der noch ohne Ich-Bewusstsein empfundene Mangel am Anfang des Lebens erzeugt eine besondere Empfindlichkeit in der auf sich selbst bezogenen Wahrnehmung. Vorstellbar ist dieses Gefühlsspektrum für einen erwachsenen Menschen mit reflexivem und kritischen Bewusstsein nicht mehr. Allein im Todesbewusstsein, von dem jeder geistig gesunde Mensch eines Tages erfasst wird, kommt dieses Ur-Gefühl unendlicher Ohnmacht wieder zu Tragen. Mit einiger Vorsicht lässt sich also sagen, dass das frühe, noch nicht Selbst-bezogene Bewusstsein des Neugeborenen und Säuglings gefühlsmäßige Ähnlichkeit mit dem Todesbewusstsein hat. Ich bezeichne diese erste (präreflexive) Bewusstseinsform des Menschen als das emotionale Bewusstsein.

Diese Parallelität der frühesten und reifsten Bewusstseinsformen, die man nicht faktisch, sondern eher symbolisch zu verstehen hat, erklärt, warum Säuglinge so herzzerreißend weinen, ja schreien, wenn ihnen die Bedürfnisse nicht rechtzeitig befriedigt und Aufmerksamkeit und Nähe vorenthalten werden. Körperlich empfundener Mangel und eine Art existenzielle Bedrohung bestimmen in logischer Konsequenz das emotionale Bewusstsein des Säuglings.

Für die zukünftigen Bindungspersonen, also die Eltern des Kindes, kommt es demzufolge darauf an, eine Lebensumgebung zu schaffen, die auf diese Lebenszeichen des Kindes angemessen und zuverlässig reagiert; und die die vielen Rufe, resp. Schreie, nach Ernährung, Beziehung und Pflege rechtzeitig (er)hört. Denn jeder unangemessenen Aufschub, jede Vernachlässigung aktiviert die tiefschürfende Angst des Verlorenseins in dieser Welt ohne Chance auf Errettung. Diese Angst, die Urangst (s.u.), wendet das emotionale Bewusstsein in Richtung auf ein Todesbewusstsein. Das ist der natürlich vorgegebene Beginn der Bindung. Bindung ist beschrieben als das emotionale Band, das jedes Neugeborene, jeder Säugling benötigt und eingeht, um sich in der gefährlichen, die Befriedigung immer wieder entziehenden Welt um sich herum, sicher und geborgen zu fühlen. Denn aus sich selbst heraus, von alleine ist es dem Säugling nicht möglich, für die nötige Sicherheit zu sorgen. Der Säugling, so lässt es sich prägnant formulieren, drückt im Schreien das Verlangen nach Bindung aus.

Selbstregulation, wie heutzutage in der Säuglings- und Kleinkindpsychologie immer wieder beschworen, existiert ist diesem Alter noch nicht. Dazu muss der kleine Mensch noch viele Schritte in der Entwicklung zum kritischen Bewusstsein vollziehen.

Die Bindung ist also die Lebensversicherung des neugeborenen Menschen, sich aus den Fängen der Todesangst zu befreien. Der Begriff Todesangst weckt die Nähe zum bereits bewussten Menschen, der seine existenzielle Lage kennt. Daher wähle ich lieber den Begriff Urangst, der aber inhaltlich an ersteren nah heranrückt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass die Bindung beim Menschen viel mehr ist als die vergleichbar einfachen Prägungsvorgänge im Tierreich.

Die Urangst deckt sich mit den Voraussetzungen der Evolution der Menschheit. Der Mensch als einziger mit kritischem Bewusstsein ausgestatteter Spross in der Vielfalt der Arten ist ein vergleichsweise schwaches Wesen. Seine ganze Stärke liegt in dem Bewusstsein über seinen Daseinszustand, das er aber erst mit den Jahren ausbilden kann, weil dieses Bewusstsein überaus komplex, um nicht zu sagen extrem kompliziert ist. Es ist so kompliziert und benötigt so viel gemachte Erfahrung, dass es diese Entwicklungszeit braucht.

Neben dieser besonderen Bewusstseinsform, die der Einfachheit halber oft auch mit dem Begriff Intelligenz zusammengebracht wird, gibt es noch eine zweite lebenssichernde Fähigkeit in der Existenzform des Menschen, die Sozialität. Das besondere am Menschen ist, dass er weder ein Einzelkämpfer ist wie der Bär oder der Tiger, noch ein Herdentier wie es Rinder, Pferde oder Elefanten sind. Vielmehr ist er ein individuelles Wesen in einer Gruppe oder Gemeinschaft. Die Gesamtheit solcher genau definierter Gruppen in der Vielheit ist die Gesellschaft.

Individuum ist der Mensch, weil er ein starkes Selbstbewusstsein besitzt und viel Intelligenz, dieses Selbst gegen andere Mitmenschen durchzusetzen. Das Selbst zu behaupten erlernt er in früher Kindheit im so genannten Trotzalter. Dadurch werden Loslösung aus der primären Bindung und Trotz zu einem zentralen Geschehen in der Selbstfindung.
Soziales oder gemeinschaftliches Wesen ist der Mensch, weil er alleine ohne die Unterstützung der anderen (Bindungs- und Bezugpersonen, Gruppe, Gemeinschaft) nicht erwachsen werden kann und als Erwachsener nicht sicher und erfolgreich existieren kann. Die Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit erwirbt der Mensch wiederum im frühen Kindesalter durch eine stabile Selbstkonstruktion (aus Bindung und Loslösung), die Fähigkeit zur Empathie und das Begreifen verschiedener Wirklichkeitsvorstellungen bei verschiedenen Menschen (theory of mind). Oberstes Ziel ist es hierbei, die individuelle Sichtweise gegen diejenige des Anderen oder der Gemeinschaft friedlich auszutragen und mit ihr abzugleichen, damit ein von allen gemeinschaftlich getragener Grundgedanke zustande kommen kann. Dazu dienen in der inneren Welt des einzelnen Menschen das Gewissen und die Vernunft.

Nach diesem kurzen Exkurs in die weitere Entwicklung des Kindes möchte ich an den Anfangszustand zurückkehren. In Anbetracht der Urangst des Neugeborenen und Säuglings kommt es für seine Bindungs- und Bezugspersonen in erster Linie darauf an, ihrem Nachwuchs Empfindungen von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln und dabei Zuverlässigkeit zu zeigen. Das erreichen sie dadurch, dass möglichst wenig Unterbrechung zwischen Bedürfnis und Befriedigung entsteht. Denn jede längere Unterbrechung erzeugt im emotionalen Bewusstsein die Gefühlsnähe zur Todesangst (s.o.). Dagegen steht durch die prompte und angemessene (wie es immer heißt) Bedürfnisbefriedigung die Erzeugung eines Gefühls von unerschütterlichem Vertrauen des Säuglings in seine Bindungspersonen (das ist immer die erste zwischenmenschliche Beziehungsachse). Dieses Vertrauen bezeichnen viele andere mit mir zusammen als Urvertrauen.

Das Urvertrauen ist im Gegensatz zu später mit kritischem Bewusstsein erworbenem Vertrauen zwischen erwachsenen Menschen beim Säugling noch eine fundamentale „Überzeugung“ von Sicherheit ohne jedes Denken, einzig im emotionalen Bewusstsein erzeugt als Gegenpart zur Urangst. Diese Grund-Überzeugung wird zwischen Säugling und seinen Bindungspersonen als ein starkes emotionales Band zusammengeschweißt. Und dieses Band löst sich im Leben des Menschen nie wieder auf, wenn es nicht durch äußere Gewalt, massive Kränkungen und von Gewalt gezeichnete Übergriffe in der Familie zum Zerreißen gebracht wird.

Auf die Bindung im Urvertrauen folgt in einem zweiten Schritt die Lockerung der primären Bindung durch (im besten Fall) die neue Bindung zum Vater, um den Weg in die Selbstentstehung frei zu machen. Dieser überaus wichtige zweite Schritt im frühen Kindheitsleben lässt sich als Loslösung begrifflich definieren. In den Vater muss sich ein ebenso großes Vertrauen entwickeln wie in die Mutter, was seine Loslösungsangebote in die Nähe der Bindungsangebote durch die Mutter rückt. Das ist eine Grundvoraussetzung, die sich bei anderen Arten in der Evolution keineswegs überall wiederfindet. Offenbar ist das Loslösungsgeschehen beim Menschen die Ankerposition für den Erwerb seiner überaus komplexen Sozialität, die ich bereits als ein enormes Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft beschrieben habe.

Das nach diesem Schritt weiter erhaltene Urvertrauen ist der Garant für das Individuum, im Laufe seiner frühen Kindheit zu einem sozialen Wesen zu werden, denn Gemeinschaftlichkeit bedeutet für das Individuum, einen Teil seiner gedachten zentralen Ich-Position und gefühlten Einzigartigkeit aufgeben zu müssen. Nichts aber kann einem Individuum schwerer fallen das. Also dient ihm das Urvertrauen mit der Fortsetzung des Bandes zwischen ihm und seinen Bindungspersonen als Plattform zur Bereitschaft einer partiellen Aufgabe seiner –natürlichen- egozentrischen Haltung. Daraus folgt zwingend, je weniger Urvertrauen (noch) im Individuum vorhanden ist, desto weniger ist es bereit, egozentrische Verhaltensweisen dem sozialen Gedanken unterzuordnen. Aus dem entwicklungsbedingten Egozentrismus wird in diesem Fall mit den Jahren die Entwicklung eines hemmenden Egoismus.

Die gezielte Zerstörung all dieser Grundlagen aus erzieherischem Kalkül oder ideologischer Zweckunterworfenheit, und der Ersatz der individuellen Position -verbunden mit dem Urvertrauen in die Bindungspersonen- durch eine propagandistisch vorgegaukelte, vertrauenswürdige Gemeinschaftlichkeit, hebt bewusst die notwendige Spannung zwischen Ich und dem oder den Anderen im Kind auf. Sie macht das Individuum zum willfährigen Opfer einer politisch angestrebten Systemanpassung. Anders gesagt, das Urvertrauen in den einzelnen anderen Menschen, der damit zu einer immer währenden Bindungsperson wird (im besten Falles sind es die Eltern), und das fortan jede Individualität in der Gemeinschaft speist, wird auf diese Weise gezielt zerstört, um den entstehenden emotionalen Leerraum mit Idolen und Ideologien zu füllen. Ihr autoritärer Ausdruck und Anspruch dient dazu, eine Scheinbindung an diese zu erzeugen. Dies ist die eminente Gefahr einer jeden, nicht individuellen und primär gesellschaftlich organisierten Erziehungsform.
Die natürliche und unvermeidliche Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft in der menschlichen Gesellschaft muss demzufolge nicht nur ausgehalten, sondern sogar gefördert werden: erstens um der kreativen Produktivität der Menschen die nötige Freiheit zu lassen und zweitens, um dem einzelnen Menschen das kritische Bewusstsein zu vermitteln, ein starkes, unabhängiges und selbstbestimmtes Wesen zu sein. Denn ein solches Empfinden ist das hautsächliche Produkt der Individualität.

Individuelle Erziehung



Damit komme ich zu der ersten gezielten und zugleich größten Einflussnahme der Gesellschaft auf den Menschen: die Erziehung. Zunächst hatte ich die Grundlagen für die Position des einzelnen Menschen als Überlebenskämpfer in einer höchst riskanten Lebensumgebung (wozu selbstverständlich auch die biologische Existenz gehört) dargestellt und den unvermeidlichen, aber für die Freiheit und die Kreativität des Menschen notwendigen Spannungszustand zwischen Individuum und Gemeinschaft. Nun soll es um die Erziehung im Einzelnen gehen. Ich will mich also der Frage stellen, was Erziehung überhaupt ist und was sie im Menschen bewirkt. Das kann ich jedoch an dieser Stelle aus notwendiger Beschränkung nur kursorisch tun.

Erziehung ist für mich jede gezielte Einflussnahme auf das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen durch einen anderen. Es ist mir bewusst, dass es zahlreiche andere, weitaus kompliziertere und detailliertere Definitionen gibt, aber wenn ich deren Essenz auf eine Kernaussage zusammenziehe, dann meine ich, dass es die von mir formulierte ist. Ziel jeder Erziehung ist es, dem in der Gemeinschaftlichkeit noch ungeübten jungen Menschen soziale Kompetenzen zu vermitteln, die ihm eine erfolgreiches Existieren und Agieren in der Gesellschaft ermöglichen. Ohne eine solche Erziehung, um es aus der Verneinungssicht zu sagen, bleibt der Mensch ein „Wilder“. Erziehung, richtig ausgeführt, führt also zum zivilisierten Menschen.

Es muss dabei zuerst festgestellt werden werden, dass es bei der Erziehung des einen Menschen durch den anderen zwei Vektoren, d.h. hierarchische Formen, gibt, einen vertikalen und einen horizontalen. Sehr viel geläufiger ist der vertikale, der bedeutet, dass ein älterer, erfahrener und mit mehr Wissen ausgestatteter Mensch einen jüngeren, unerfahrenen und weniger wissenden durch Anleitung auf das Leben vorbereitet. Der klassische Fall ist der, dass Eltern ihre Kinder kraft ihrer Erfahrungen und Eingebungen erziehen. Und anstatt der Eltern gibt es offiziell Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer, die diese Aufgabe auftragsgemäß und je nach Qualifikation mit höherer Professionalität übernehmen. Der horizontale Vektor umfasst alle Gruppen von mehr oder weniger gleichaltrigen Menschen, die sich gegenseitig Bildungsinhalte vermitteln und bei der Lebensbewältigung helfen.

Es gibt eine weitere zu beachtende Differenzierung des erzieherischen Einflusses: Er ist nicht nur das gezielte Einüben von gesellschaftsadäquaten Verhaltensweisen und Vermittlung von Lebensfertigkeiten und Kulturinhalten (Sitten, Normen und Gesetze). Er ist auch stilles Vorbild und implizites Beeinflussen. Beides findet gleichsam im Verborgenen statt und wird weder vom Erzieher noch vom Erzogenen bewusst bemerkt; daher die Bezeichnungen „implizit“ und „still“. Grundlage für diese unbemerkten Vorgänge ist einerseits die Nachahmungsfreudigkeit des Menschen. Das Kind kopiert einfach seinen Erzieher, weil seine lehrreichen Ausführungen es überzeugt haben. Es gibt aber noch einen zweiten Weg in der Vorbildhaftigkeit und das ist die Selbst-Identifizierung. Das Kind fühlt sich seinem Erzieher auf der Basis von Zuneigung und Vertrauen verbunden und übernimmt dessen Ansichten und Haltungen aus Überzeugung.

An diesem Punkt verlässt die Erziehung aber die vom Erzieher gewünschte Steuerbarkeit seiner Einflussnahme und begibt sich auf das Feld der unberechenbaren Wirkungen. Um solche Prozesse einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen, ist es notwendig, dass der Erzieher zunächst sich selbst in seinem Verhalten durchschaut und mit seinen erzieherischen Maßnahmen maximal kritisch umgeht. Die Frage, die er sich immer wieder zu stellen hat, ist die, was macht das mit dem Kind oder dem Zögling, wenn ich so oder so rede und mich so oder anders verhalte. Es gilt also nicht so sehr die Frage, was muss ich tun, vorbringen und anordnen, um dieses oder jenes beim Kind zu erreichen, sondern was darf ich nicht tun, muss ich besser unterlassen, damit nicht dieses oder jenes Ungewollte in seinem Verhalten zustande kommt. Dazu aber muss sich, wie gesagt, der Erzieher selbst kennen und wissen, was von ihm selbst, ohne dass er es jemals im Erziehungsakt durchsetzt, dennoch auf das Kind und Zögling übergeht.

Die expliziten oder kontrolliert ausgeführten Erziehungsmaßnahmen teilen sich auf in die autoritär durchgeführten Methoden, in den autoritativen oder permissiven Stil und in antiautoritär durchgeführte Formen. Es soll an dieser Stelle nicht die Aufgabe sein, diese Möglichkeiten, ein Kind zu erziehen, im Detail auszuleuchten. Das muss anderen Darstellungen überlassen bleiben. Hier geht es nur darum festzuhalten, dass sich strenge, am gesellschaftlichen Maßstab der Erwachsenen ausgerichtete Erziehungsweisen von solchen unterscheiden, die sich am Entwicklungsverlauf des Kindes ausrichten und das Recht des Kindes auf freie und individuelle Persönlichkeitsentfaltung achten.

Kulturell gesellschaftliche Erziehung



Neben der konkreten Erziehung ist es der Kulturraum um das Kind herum, der den geistigen und psychosozialen Werdegang des Kindes bestimmt. Dabei nimmt die Kultur, in die das Kind hineinwächst, deutlich mehr Einfluss auf die geistig-kognitiven Selbststrukturen als auf die emotionalen. Betrachtet man aber nur die emotionalen Selbst-Gefühle, verbunden mit Selbstbewusstsein, Selbsteinschätzung und Selbstwert(igkeit), entspringen diese überwiegend den Bindungs- und Loslösungserfahrungen sowie den positiven Selbstzuschreibungen oder Attributionen, jedoch weniger dem kulturellen Hintergrund. Das bedeutet, und das ist eine wichtige Erkenntnis, dass alle Kinder der Welt bis zu ihrer Selbstkonstitution in ungefähr gleicher Weise aufwachsen. Lediglich indirekter, kultureller Einfluss über die Eltern und die durch Traditionen bestimmte Familienstruktur machen sich frühzeitig bemerkbar oder aber auch die natürliche Umgebung. Kultur in besagter indirekter Auswirkung schafft jedoch mit der Zeit einen starken Rahmen für die gemachten Selbst-Erfahrungen, einen Rahmen für die Positionierung in und die Auseinandersetzung mit der weltanschaulich ausgerichteten Lebensumgebung.

Allerdings kommt es mit zunehmendem Lebensalter auch zu einer vom Kind selbst und aktiv ausgehenden, emotionalen Ausrichtung des Selbstgefühls in den Koordinaten des wie auch immer gearteten Lebensumfeldes. Es entsteht auf diese Weise nach der elterlich-familiären Identität eine neue, erweiterte Form der Selbst-Kennung zwischen dem Individuum und dem von Traditionen geprägten Lebensraum, in dem es groß wird. Dazu werden die anfänglichen Bindungsstränge von den Eltern zu einem Teil gelöst und an neue Objekte geknüpft (in der Pubertät und Adoleszenz). Die Kultur stellt sich für diesen Vorgang bereit durch ihren Lebensstil und Lebensrhythmus, ihre gesellschaftliche Binnendarstellung, die ästhetische Umgebung, das Brauchtum, die Sitten und Manieren und vor allen auch durch moralische Vorbilder. Zusammengefasst lässt sich dieses Konglomerat als die Vermengung von lebensgestaltenden Faktoren in der Zivilisation bezeichnen.

Alle diese Einflüsse können nun rein prägenden Charakter auf das Kind ausüben oder auch zu normativen Größen werden. Im ersteren Fall steht der bereichernde und gestaltende Effekt im Vordergrund, im anderen der erzieherische. Auf das anwachsende Bewusstsein bezogen heißt das: Aus dem reflexiven Bewusstsein, also dem auf die Erkenntnis des Ich und Selbst bezogenen Denken, wird mehr und mehr ein kritisches Bewusstsein, welches das erkannte Ich und Selbst in den Kontext der Gemeinschaft und Gesellschaft setzt.

Kultur im weiteren Sinne stellt sich auf dreierlei Weise dem einzelnen Menschen dar. Zum einen im ästhetischen Gesamtbild des gesellschaftlichen Lebens, zum zweiten in der gesetzlichen Verankerung des Staats- und Gesellschaftswesens mit seinen Regeln und ethisch-moralischen Kategorien und zum dritten in der Art der religiösen Ausrichtung des allgemeinen Denkens.

Zu allen drei Formen will ich nur andeutungsweise etwas sagen und dann damit fürs Erste schließen. Es bleibt größeren und umfangreicheren Arbeiten vorbehalten, diese überaus komplexen wechselseitigen Beziehungen und Beeinflussungen weiter auszuführen. Unter ästhetischem Gesamtbild möchte ich den epochalen und dem Zeitgeist unterworfenen Einfluss der Gesellschaft auf das Kind verstehen. Jedes Kind entspricht, ob es will oder sich bewusst dagegen stellt, einem Bild über sich selbst, das ein bestimmter Entwicklungsstand der Gemeinschaft über es entworfen hat. Das Kind der sechziger Jahre aus dem vorigen Jahrhundert war ein anderes, als das aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Und ein Kind aus den sozial benachteiligten Gesellschaften der so genannten Dritten Welt ist ein anderes als eins aus der begüterten Schicht in einer der westlichen Industrienationen. Auch die Ansichten über männliches und weibliches Verhalten in der Gemeinschaft (das Gender-Problem), die Fragen nach den Umgangsformen, Sitten, Bräuchen und Manieren gehören in diesen Bereich. Schließlich bestimmen die Traditionen eines Landes oder einer bestimmten Gesellschaftsgruppe, das heißt wie und wo gelebt wird, ganz ausgeprägt mit, in welcher Form das Kind in der Gemeinschaft hinsichtlich seiner Entwicklung ausgerichtet wird.

Die beiden anderen, stark begrenzenden Einflüsse auf die Entwicklung des Kindes nehmen der Staat mit seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen und seiner Bürgerlichen Gesetzgebung vor sowie die verschiedenen Religion mit ihrer jeweils bestimmenden Weltsicht und ihren theologischen Dogmen. Ich bezeichne diese Einflussgrößen als begrenzend, weil das Kind wenig Spielraum hat, sich ihrem prägenden und korrektiven Charakter zu entziehen.

Aus beiden normativen Größen mit Auswirkung auf die soziale Ordnung der menschlichen Gesellschaft erwächst der grundlegende Gemeinschaftsfaktor unter Menschen überhaupt, die Ethik. Ethik und, wie weiter oben ausgeführt, die Zivilisation sind die fundamentalen Fortschritte der Menschheit aus der Urgemeinschaft heraus in die organisierte Form des neuzeitlichen Zusammenlebens. Ohne das eine wie das andere gäbe es weiterhin nur den reinen Überlebenskampf einzelner Menschen in einer gefährlichen Natur.

Dass aber weder Zivilisation noch Ethik bis heute daran etwas geändert haben, als Völker und einzelne Menschen friedlich miteinander zu leben und sich gegenseitig zu achten, zu schützen und zu helfen, ist die ernüchternde Bilanz der kritischen Vernunft eines solchen modernen Menschen. Dem hinzuzufügen ist das neue Erschrecken darüber, dass der Mensch inzwischen der Natur noch gefährlicher werden kann, als diese ihm. Vielleicht kann eine verbesserte Erziehung einmal einen erfolgreichen Schritt in eine Richtung einleiten, die dieses Menetekel beendet.


Lesen Sie hier weiter:

Teil 1:  Erweiterte Bindungstheorie und Bindungspathologie
Teil 2:  Das Biopsychosoziale Modell
Teil 3:  Kind und Gesellschaft. Das soziokulturelle Umfeld




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