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Frühkindliche Entwicklung, Bindung
und erweiterte Bindungstheorie

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von Rüdiger Posth

Teil 1: Erweiterte Bindungstheorie und Bindungspathologie

Einleitung



Die unter dem Stichwort „Emotionales Bewusstsein“ bislang von mir gesammelten Kapitel über die frühkindliche Entwicklung sind begründet auf den psychologischen Grundlagen der Bindungstheorie. Die Bindungstheorie ist ein Erklärungsmodell für die emotionale und psychosoziale Gestaltung des Menschen vom ersten Moment seiner Entstehung an, der als Menschsein definiert werden kann. Also noch vor der Geburt setzt sich dieser Prozess in Gang und bildet ein seelisches Band aus, das die schwangere Mutter und das noch ungeborene Kind, den Embryo und Fetus, lebenslang miteinander in Beziehung hält. Selbst wenn die faktischen und leiblichen Beziehungen im Laufe des extrauterinen Lebens abbrechen sollten, bleibt dieses Band bestehen, und zwar einerseits in Form der Erbanlagen durch den genetischen Code und andererseits durch die Verinnerlichungen von mütterlichen Einflüssen bereits während der Schwangerschaft. Der Vater ist zu diesem Zeitpunkt nur genetisch bei seinem Kind vertreten. Die Zeit seiner Bindungsgestaltung beginnt mit der Geburt, bei der er demzufolge unbedingt anwesend sein sollte. Das Erlebnis der Geburt schweißt Eltern und Kind durch den tiefgreifenden Erlebnisvorgang des eigentlichen Vorgangs sowie durch die damit verbundene, hormonelle Umgestaltung (Oxytocin) zusammen.

Die Natur verbindet mit dieser extremen Aneinanderkettung von drei Menschen im Weltgeschehen das Ziel, die emotional-seelische und geistig-kognitive Entwicklung eines jeden neuen Individuums auf mehrfache Weise abzusichern. Das tut Not, weil erstens die Gestaltung seelischer Vorgänge in der real gefährlichen Umwelt höchst fragil und letztlich leicht zerstörbar ist, und zweitens die enorme Ausgestaltung der Intelligenz beim Menschen im Gegensatz zu jedem anderen Wesen im Tierreich neben ihren großen Chancen auch einen Gefahrenmodus für die Seele in sich birgt. Denn die mit dem voranschreitenden Alter des Kindes zunehmende Intelligenz stellt immer auch einen ansteigenden Gefährdungsprozess für sich selbst und die Mitmenschen dar.

Dieser doppelbödigen Sicht der Intelligenz gibt die erweiterte Bindungstheorie eine neue zusätzliche Grundlage zur Erklärung der damit verbundenen menschlichen Entwicklungsprozesse. Denn nur die Bindung sichert in der Heranreifung des neugeborenen Menschen die Ausgewogenheit der Gestaltungsvorgänge im Gehirn zwischen Fühlen und Denken ab und führt die Intelligenz aufs richtige Gleis. Damit übersteigt die Bindung ganz klar die einfachen Prägungsvorgänge im Tierreich. Auf die Gefährdung der menschlichen Seele durch die Intelligenz ist im Weiteren noch gesondert einzugehen.

Aber auch die emotionale Seite des Menschen kann in umgekehrter Weise eine Gefährdung für das intelligente Wesen Mensch darstellen, was den Antagonismus, bzw. die Gegensätzlichkeit beider menschspezifischen Eigenschaften nur noch einmal deutlich herausstreicht.

Allein diese Darstellung menschlich existenzieller Voraussetzungen wirft ein Licht auf die enge Beziehung aus Bindungstheorie und Evolutionstheorie. Denn erst mit der Entstehung des mitfühlenden und intelligenten Menschen in der phylogenetischen Abfolge der Arten wurde eine Form der Beziehungshaftigkeit zwischen den individuellen Vertretern innerhalb einer einzelnen Art notwendig, wie sie unter Menschen paradigmatisch geworden ist. Bindungstheorie vereinigt somit die Evolution mit der Verhaltensbiologie innerhalb einer einzigen Art, dem Homo sapiens sapiens.

Bindung und erweiterte Bindungstheorie



Erst mit diesen Grundlagen lässt sich sagen, was Bindungstheorie eigentlich ist. Kurz gesagt ist sie die neurobiologische Lebensversicherung jedes einzelnen individuellen Menschen in der Vielheit seiner Artgenossen und in der existenziellen Gefährdung durch seine Umwelt. Der Mensch ist als höchster Vertreter im Stammbaum der Lebewesen ein vergleichbar schwaches Geschöpf. Er kommt so schwach und hilflos zur Welt, dass er ohne seine fürsorgliche, zuwendungsaktive und liebevolle Sorge und Pflege seiner Eltern auf Gedeih und Verderb der Umwelt ausgeliefert wäre. Diese Auslieferung endete in seinem sicheren Tod. Die menschliche Art wäre nie zu dem erfolgreichen Vertreter im Zusammenspiel aller Arten geworden, die sie ist, wenn es nicht das Bindungsparadigma gäbe. Eine einfache Prägung hätte für den Menschen nicht ausgerecht.

Die Bindung eines jeden individuellen Menschen ist verteilt auf zwei Personen, die unbedingt Einfühlsamkeit und Beständigkeit beweisen müssen bis zu seiner seelischen, geistigen und körperlichen Reife. Solange muss das Bindungsparadigma Bestand haben. Wie das geschieht und welche abweichenden Muster möglich sind, davon ist in den Ausführungen zu den Feinheiten der Bindungsprozesse zu sprechen. Neben den Bindungspersonen, das sollte nicht unerwähnt bleiben, gibt es für jeden Menschen weitere Bezugspersonen und mit sozialer Reife immer mehr altersähnliche oder altersgleiche Partner. Letztere gestalten die Gruppe, in der sich das individualisierte Kind sozial weiter entwickelt.

Die individuelle Entwicklung innerhalb der Triade aus Kind, Mutter und Vater muss vor der Sozialisation in gewissen Schritten abgeschlossen sein, damit die Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Gruppe nicht frühzeitig schon Schaden nimmt. Die erweitere Bindungstheorie befasst sich auch mit diesen sozialen Reifungsaspekten in dem frühkindlichen Entwicklungsstadium und nicht allein mit der Mutter- (oder dann auch Vater-) Kind-Bindung. Wenn diese klassische Trias aus Eltern und Kind erhalten bleiben soll, und das ist für das Kind existenziell notwendig, dann müssen gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden, die nicht die Beziehungs- und Bindungsprozesse frühzeitig stören. Das natürliche Prinzip des Großziehens eines Kindes ist seine Absicherung in der Familie.

Die erweitere Bindungstheorie vergrößert nun das Bindungsspektrum über die Mutter-Kind-Beziehung hinaus explizit auf eine bindungstechnisch etwa gleichwertige Vater-Kind-Beziehung ungefähr ab dem zweiten Lebensjahr. Damit gesellt sich zur primären Bindung die Loslösung, die auch als sekundäre Bindung bezeichnet werden kann. Für den Begriff Loslösung gibt es keine sinnvolle Alternative, weil es keinen adäquaten Begriff in der Sprache gibt für das Phänomen einer Lockerung von Bindungsstrukturen ohne sie tatsächlich aufzulösen. Aber genau das ist damit gemeint: die primäre Bindung zwischen Mutter und Kind erweitert ihr Gefüge, um eine zweite Person in die Beziehung hineinzulassen, damit über sie der einengende Charakter der ersteren relativiert wird. Damit nun aber das menschliche Individuum im frühen Kindesalter seine Ich-Erfahrung ausbilden kann und damit auch sein Selbst als die persönliche Präsentation des Ichs in der Gemeinschaft, braucht es diese gegensätzliche Formation in seiner Psyche und in seinem Geist aus Bindung und Loslösung. Das dialektische Grundsatzprinzip in der Natur an sich spiegelt sich auch in der Reifung des menschlichen Selbst wieder.

Diese Form der Erweiterung der Bindungstheorie findet ihre plausible Erklärung in der Erkenntnis des Selbst als einer geistigen und seelischen Organisation im menschlichen Bewusstsein aus zwei verinnerlichten Vorbildern. Das eine Vorbild steht für einen Erhalt des Bestehenden oder schon Erreichten und wird in der gewöhnlichen familiären Konstellation durch die Mutter repräsentiert. Sie steht mit ihrer Person für das Empfinden von Sicherheit, Geborgenheit und Versorgtsein. Das andere Vorbild steht hingegen für den Aufbruch aus dieser abgesicherten Position mit Erreichen neuer Wirklichkeitssphären und bislang nicht gekannten Denkformen. Dieses Empfinden repräsentiert in der Familie folgerichtig der Vater. Im Fadenkreuz dieser gegensätzlichen Beziehungsbedürfnisse entwickelt sich das Selbst unter dem Einfluss dabei erlebter positiver und negativer Selbstzuschreibungen bzw. Attributionen. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Selbststrukturen mit den Charakteristika von Ausgewogenheit und Unausgewogenheit.

Es ist ein weiteres Resultat der erweiterten Bindungstheorie, dass die Selbststruktur als das, was auch schon ein Kind über sich weiß und für seine eigene Person hält, mit den Gefühlen von Empathie und Mitleid mit anderen Lebewesen verschmilzt. Empathie erwirbt das Kind in der frühkindlich entwicklungsdynamischen Konstellation aus der inneren Vertauschung seiner eignen Gefühlswelt mit der der Bindungs- oder Bezugsperson. Daraus entsteht auf der einen Seite ein Abgleich der eigenen negativen wie positiven Gefühle mit der inneren Welt des Anderen und auf der anderen Seite das Mitempfinden mit der Gefühlswelt dieses Anderen im Falle von Schmerz, Unglücklichsein und Leid allgemein. Auf diese Weise bildet sich das Mitleid aus.

In einem weiteren Entwicklungsschritt geschieht etwas ganz Ähnliches mit den abrufbaren Bewusstseinsprozessen im Verständnis von der Welt, so wie sie sich darbietet. Das Kind sucht nun die Passung seines Wissens über etwas, das geschieht, zwischen sich selbst und der Bindungs- oder Bezugsperson (Theory of Mind). Geht die Passung negativ aus, erkennt jetzt das Kind seinen Irrtum und korrigiert sein Wissen. Geht die Passung positiv aus, verstärkt sich die Identifikation mit der anderen Person, ob Bindungs- und Bezugsperson oder eine Ersatzbezugsperson.

Beide Formen der Erkenntnis über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung im Fühlen und Denken (doppelter Perspektivwechsel) zwischen Kind und Bezugsperson sind die Voraussetzung für das Sich-hinein-denken in die gesellschaftlichen Regeln, Konventionen, Gepflogenheiten und Gebräuche (später auch Gesetze). Das primär egozentrische Kind muss jetzt erfahren, dass es Fehler in seinem gemeinschaftstauglichen Verhalten macht und dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Diesen Fehler muss es erkennen können, darunter leiden (als die Scham), ihn bereuen und sich um Wiedergutmachung bemühen. Die Zulassung der Wiedergutmachung durch die Gemeinschaft, verbunden mit der Anerkennung für diesen Schritt, ist für ein gut gebundenes Kind ein so hohes positives Attribut, dass es zu dieser Handlung immer bereit ist (als der Stolz). Es überlegt zukünftig selbst, was es als Wiedergutmachung zu leisten imstande ist, um sich in der Gemeinschaft wieder Anerkennung zu verschaffen. Daraus bildet sich das Gewissen.

Aus der inneren Verkehrung von Scham in Stolz formiert sich im Selbst dasjenige, was alle erwachsen gewordenen Gesellschaftsmitglieder von ihren Nachkommen fordern: die Selbstkontrolle oder wie es in der psychologischen Terminologie heißt, die Selbstregulation. Regulation ist aber ein für die Zugrundelegung der Bindungs- und Identifikationsprozesse ein zu starrer und zu technischer Begriff, als dass er das ausreichend wiedergäbe, was tatsächlich gemeint ist.

Bindungspathologie



Zur erweiterten Bindungstheorie muss es auch eine spezielle Bindungspathologie geben. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, um was es hierbei geht und was damit Neues in die Verhaltensbeschreibung und Störungsdefinition von Säuglingen, Kinder und Jugendlichen hineinkommt.

Die klassische Bindungstheorie unterschiedet mindestens vier deutlich unterscheidbare Bindungstypen. 1. Sichere Bindungen, die die besten Aussichten auf eine ungestörte Weiterentwicklung bis zum Erwachsenenalter bieten. 2. + 3. Unsichere Bindungen, aufgeteilt in vermeidende und ambivalente, die Anpassungsvorgänge an die nicht optimale Umwelt darstellen und ein höheres Risiko für späteres Störungsverhalten beinhalten. 4. Desorganisierte Bindungen mit frühzeitigem hohen Risiko für schwere Bindungsstörungen und nachfolgende Persönlichkeitsstörungen.

Die erweiterte Bindungstheorie legt nun nahe, dass sich zusätzliche günstige und ungünstige soziale Konstellation in der anfänglichen und weiteren Entwicklung des Kindes hinzugesellen müssen, damit ein Störungspotenzial auch zum Ausbruch gelangt. Es ist also nicht das Kind allein, das bindungsabhängige Probleme mit auf die Welt bringt. Aber auch eine schwierige Umwelt ist es nicht immer allein, die nachhaltige Problemkonstellationen mit dem jeweiligen Kind verursachen. Dennoch ist sie die sehr viel häufigere Ursache. Vorsichtige Schätzungen ergeben, dass ca. 90% Umweltfaktoren und ca. 10% kindliche Faktoren die seelischen und sozialen Entwicklungsschwierigkeiten und –störungen hervorrufen.

Bei den kindlichen Ursachen finden sich schwierige Temperamentsanlagen und charakterliche Problementwicklungen neben emotionalen, kognitiven und psychosozialen Entwicklungsstörungen aus Krankheitsgründen. Die Folgen, die sich daraus ergeben, sind Überlastungen der umsorgenden und pflegenden Eltern trotz großen Bemühens.

Unter den Umweltfaktoren steht an erster Stelle die schlechte oder völlig unzureichende Beachtung des Bindungsbedürfnisses beim Säugling mit zu stark verzögerter, unvollständiger oder ausbleibender Bedürfnisbefriedigung. Die Folge ist eine schlechte oder fehlende Umwandlung von negativen primären Existenzgefühlen wie Hunger, Angst und Schmerz in positive durch notwendige Umsorgung, Einfühlsamkeit und Pflege durch die Bindungsperson(en). Nach meiner Definition führt diese Konstellation zu einer emotionalen Integrationsstörung. Bei in diesen Fällen nur mangelhafter Umsorgung und Pflege entstehen unsichere Bindungstypen, bei völlig ausbleibender Sorge vor allem durch fehlenden menschlichen Kontakt entsteht eine desorganisierte Bindung mit Zügen der Deprivation. Diese Kinder sind frühzeitig in ihrer Existenzfähigkeit gefährdet.

In dem mit unsicheren Bindungen verbundenen, neurophysiologischen Geschehen im Gehirn verbleibt zu viel Dranganteil der Säuglings-Bedürfnisse im sich herausbildenden Willen. Das führt dazu, dass der im 2. Lebensjahr im Ich-Bewusstsein gebündelte Wille starr und unflexibel bleibt, wohingegen derselbe bei sicher gebundenen Kindern zunehmend flexibel und beherrschbar wird.

Unsichere Bindungstypen sind nun vor allem die, die anfällig werden für Entwicklungskrisen, Beziehungsstörungen und bleibende Bindungsstörungen. Diese Eltern-Kind-Problematiken bilden den Nährboden für praktisch alle Verhaltensauffälligkeiten im frühen Kindesalter außer den angeborenen psychischen und geistigen Störungen sowie den somatischen Erkrankungen, die zu solchen Störungen führen.

An den Verhaltensstörungen, die durch schlechte oder gestörte Bindungsstrukturen hervorgerufen werden, ist die Umwelt ursächlich immer mit beteiligt, das Kind hingegen oft nur Opfer. Aber immer liegt ein Missverhältnis vor zwischen dem, was das individuelle Kind an Zuwendung und Umsorgung braucht und erwartet und dem, was die Eltern und mit ihnen die Umwelt zu geben bereit ist. Demzufolge gibt es Säuglinge und Kleinkinder, die durch das ihnen angeborene Temperament viel an Zuwendung und Pflege fordern und eine schnelle Bedürfnisbefriedigung erwarten, und solche, die in dieser Hinsicht viel weniger Ansprüche stellen. Selbstredend gibt es dieselben Voraussetzungen aufseiten der Eltern und der Umwelt mit entweder genügend hoher Toleranz für Frustrationen und einem ebenso hohen Zuwendung- und Pflegeangebot oder einer zu niedrigen Toleranz und einem unzureichenden Angebot an Zuwendung, Pflege und Versorgung. Es ist logisch zu sagen, dass je schwieriger das angeborene Temperament des Säuglings ist und je geringer die Toleranzschwelle der Eltern und des Umfelds desto schneller und leichter entsteht eine konfliktfördernde Bindungsproblematik.

Wie viel Zuwendung und Pflege, wie viel Toleranz ein Kind fordern und erwarten darf, hängt abgesehen von seinen Anlagen mit seinem Reife- und Entwicklungsstand zusammen. Eltern und Umwelt müssen darüber informiert sein, was hierzu richtig und für das Kind notwendig ist, und was eventuell über das Ziel hinaus schießt. In den längeren Ausführungen dazu in den nächsten Teilen wird von genau diesen Verhältnissen die Rede sein.

In der Bindungspathologie so, wie sie hier verstanden werden soll, gibt es einfach gesagt drei Stufen des Störungsmusters in der Eltern-Kind-Beziehung. Zum ersten die Entwicklungskrisen, die alle Bindungstypen treffen können und durch geeignete Maßnahmen relativ schnell wieder zu beseitigen sind. Zum zweiten die Beziehungsstörungen, die schon stärkere Reaktionen beim Kind hervorrufen und immer einen Eingriff in die häuslichen und familiären Beziehungsstrukturen erforderlich machen. Und schließlich als drittes die Bindungsstörungen, die ohne therapeutische Maßnahmen und eventuell auch externe Hilfen für die Familie nicht auskommen.

Die Kinder fallen in den gestörten Entwicklungen der Familienstrukturen zunächst durch vier gut unterscheidbare Störungsmuster im Verhalten auf. Zwei davon produziert das Kind spontan selber und zwei produziert die Familie als unmittelbare Umwelt. Die beiden von den Kindern selbst produzierten Symptomatiken lassen sich beschreiben als Regression und Parentifizierung. Die Regression wählen stärker die jüngeren Kleinkinder und die Parentifizierung die älteren Schulkinder. Aber das lässt sich nicht immer so streng unterteilen. Die Familie, sprich die Eltern reagieren entweder durch Rückbindung, wobei sich dadurch meistens nur ein Elternteil auszeichnet, oder durch Vernachlässigung und Missachtung. Diese letztere Reaktion, die dann rechtliche und gesetzliche Eingriffe auf den Plan ruft, kennt eine Steigerungsskala von einfachen verbalen oder körperlichen Abstrafungen über permanente Demütigungen und Gewaltanwendung bis hin zu gezielten Grausamkeiten, Foltermethoden und Tötung. Eine besondere Rolle in der Anwendung von Gewalt dem Kind gegenüber spielt der sexuelle Missbrauch.

Die Bindungspathologie beschreibt mehr als die Forensik nicht allein die Unrechtmäßigkeiten der Tätereltern ihren Kindern gegenüber, sondern die zugrundeliegenden Entwicklungsproblematiken in der Eltern-Kind-Beziehung von Geburt des Kindes an.

Zahlenmäßig weitaus häufiger als Gewalt gegen das Kind ist die Entwicklung des Kindes zu bleibenden Bindungsstörungen. Ihre Abwendung und Behandlung ist nur möglich durch Psychotherapie und externe familiäre Hilfen. Also auf der einen Seite wird das Kind seelisch behandelt und auf der anderen Seite wird der Familie sozial geholfen. Bei diesem Doppelbehandlungsprinzip stehen die Formen der externalisierenden Störungen wie aggressiv-oppositionelle Verhaltensstörung, ADHS und Dissozialität zahlenmäßig weit vor den internalisierenden Störungen wie Angsterkrankungen, insbesondere Trennungsangst und soziale Ängstlichkeit wie auch Schulphobie, Depressivität und Störungen im Gruppenverhalten und in der Kommunikationsstruktur. Nur selten kann den Kindern durch psychopharmakologische Behandlung geholfen werden. Beim Störungsbild der ADHS muss dazu nach heutigem Wissensstand eine Einschränkung gemacht werden.

Eine besondere Behandlung im Spektrum bindungsrelevanter Ursachen für Verhaltensprobleme im Kindes- und Jugendalter verdienen die Somatisierungsstörungen mit ihren Projektionen von inneren Konflikten auf körperorganische Beschwerden. Inwieweit hierbei Dissoziationen (s.u.) ursächliche mit eine Rolle spielen ist nach wie vor Forschungsgegenstand. Vieles spricht für eine solche Konstellation, beweisbar ist das so ohne Weiteres nicht.

Dissoziationen, also das Abspalten des negativen Stress-Ereignisses vom zugehörigen Gefühl im Gehirn selbst, gehören in das große Spektrum der Psychotraumatisierung im Kindesalter. Viele schwere seelische Verletzungen des Kindes nacheinander (chronisch) oder eine einzelne extreme Verletzung (akut) führen zur psychischen Traumatisierung. Die Kinder zeigen infolgedessen eine Mischung aus allen zuvor besprochenen Verhaltensauffälligkeiten, wobei Angsterscheinungen und Depressivität im Vordergrund stehen. Schlafstörungen und Albträume kennzeichnen dazu die Nächte.

Besonders schwierig in der Entwicklung und Behandlung sind die psychischen Erkrankungen des Jugendalters Anorexie und Bulimie. Bei diesen Störungen vermengen sich ein gesteigertes Bedürfnis nach Selbstkontrolle, fehlgesteuertes Essverhalten und ein falsch ausgerichtetes Körperschema. Andere selbstgefährdende Störungen im Jugendalter sind selbstverletzendes Verhalten (so genanntes Ritzen), suizidale Absichten und Substanzmissbrauch. Endogene Depression und Zwangserkrankung sind dagegen wie auch die Schizophrenie allen neueren Forschungsergebnissen zufolge Störungen in der Neurotransmitter-Balance des Gehirns auf erblichen Grundlagen.

Die Behandlung dieser psychischen Erkrankungen, wie die der schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen, gehört hauptsächlich in den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Lesen Sie hier weiter:

Teil 1:  Erweiterte Bindungstheorie und Bindungspathologie
Teil 2:  Das Biopsychosoziale Modell
Teil 3:  Kind und Gesellschaft. Das soziokulturelle Umfeld




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