kostenlos anmeldenLog in

   
Rund ums Baby

  Expertenforen
  Foren
  Gruppen
  Community
  Mein RuB
  Testteam
  Videos
  Suche / Biete

Vornamen
Geburt
Stillen
Babypflege
Ernährung Milch
Ernährung Beikost
Kinderernährung
Entwicklung
Vorsorge
Kindergesundheit
Unverträglichkeiten
Allergien
Neurodermitis
Frauengesundheit
Wellness
Mein Haushalt
Kochen
Reisen
Familie
Erziehung
Tests
Finanzen
Flohmarkt
Gewinnspiele
Infos und Proben
 
Entwicklungskalender
Entwicklungskalender

Buchtitel - Gefühle regieren den Alltag
Buchtitel - Gefühle regieren den Alltag
Buchtitel - Vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen
 
 
 
 
  Entwicklung von Babys und Kleinkindern
 

Frühkindliche Entwicklung, Bindung
und erweiterte Bindungstheorie

zurück zum Forum
 
von Rüdiger Posth

Teil 2: Das Biopsychosoziale Modell

Das biopsychosoziale Modell



Allgemeine Grundlagen



Die konkrete Umsetzung der erweiterten Bindungstheorie findet ihre Grundlagen im Bio-psycho-sozialen Modell. Dieses Modell bietet eine Betrachtungsweise des kreisförmigen Wirkungsgeschehens zwischen dem Individuum Mensch und seiner Umwelt auf der Basis der natürlichen Lebensbedingungen. Auf der einen Seite bringt der Mensch Ausstattung und Anlagefaktoren mit auf die Welt, mit denen er von der Minute der Geburt an Einfluss auf seine Umwelt ausübt. Auf der anderen Seite stehen ihm die persönlichen, existenziellen Grundvoraussetzungen und die Lebensumgebung entgegen, in die der Mensch -unverschuldet- hinein geboren wird.

Der „erste Schrei“ ist das unüberhörbare Signal der Ankunft des Menschen auf der Welt, verbunden mit dem Anspruch, auf diese Welt Zeit seines Lebens Einfluss nehmen zu wollen. Bereits auf diesen ersten Schrei erfolgt in umgekehrter Weise die erste Reaktion seiner Umwelt, vertreten zuerst durch die Eltern und die bei der Geburt beteiligten Personen. Zugleich übt die physikalische Umgebung ihren Einfluss auf seinen Körper aus und führt zu vegetativen Anpassungsreaktionen. Diese äußeren Faktoren werden fortan nicht mehr aufhören, in immer größeren Zusammenhängen formend auf ihn als größer werdendes Kind einzuwirken. Das sind die Lebensbedingungen, die jedem neuen Menschen durch seine Existenz auferlegt sind.

Die so gestaltete dynamische Wechselwirkung ist der Inbegriff des biopsychosozialen Modells. Sie ist die Ausgangsbasis dessen, was die Lebensumwelt auf dem Boden der Anlagefaktoren mit dem Säugling und Kind auf Dauer macht, und was der Säugling und das Kind umgekehrt mit den ihn großziehenden Bindungs- und Bezugspersonen und ihrer natürlichen Pflege- und Erziehungsbereitschaft machen. Die Lebensumwelt ist ein exzentrisches System, das sich zunächst in dem eng umgrenzten familiären Raum abspielt, und sich von dort mit zunehmenden Lebensjahren zu immer größeren räumlichen und sozialen Kreisen ausweitet. Ab wann die Ausweitung des familiären Raumes dabei zeitlich betrachtet auf die gemeinschaftlichen, sozialen Bereiche beginnt, ist eine Frage der familiären Grundhaltung in der Erziehung, der kulturellen Festlegungen und der systemischen Grundlagen der Gesellschaft.

Die Anlagefaktoren sind anfangs vergleichbar eng umgrenzt in den Urzuständen und Urgefühlen des Säuglings, in seinen Temperamentsfaktoren und seinen Bedürfnislagen. Durch die Gegenreaktionen der Umwelt erweitern sich diese Funktionen mehr und mehr als ein Anpassungsprozess auf die Bedingungen der angetroffenen Lebensumstände und der Reaktionen der Bindungs- und Bezugspersonen. Aus Temperamentsfaktoren werden mit der Zeit Charakterzüge und aus Charakterzügen wird mit den Jahren eine definierte Persönlichkeit. Als „Endprodukt“ fertiger Menschen stehen sich mit etwa zwanzig Jahren eine Person und die Gesellschaft gegenüber und müssen es ein Menschenleben lang miteinander aushalten.

An den hier nur knapp skizzierten Anpassungsprozessen zwischen Mensch und Umwelt ist als Gestaltungsfaktor die Epigenetik beteiligt. Die Epigenetik legt mit ihren An- und Abschaltmechanismen der genetischen Vorgaben (Gen-Expression) fest, was vom angeborenen Potenzial an Verhaltensmöglichkeiten beim Individuum tatsächlich zum Ausdruck kommt oder sogar verstärkt wird und was unterdrückt bleibt.

Neben dieser psychosozialen Mensch-Umwelt-Entwicklung existiert die rein körperliche Entwicklung ebenso auf genetischen Grundlagen, die im Gegensatz zu der psychosozialen Entwicklung viel stärker festgelegt ist. Zwar gibt es auch hier Umwelteinflüsse, die Veränderungen wie auch Beeinträchtigungen hervorrufen können, aber diese Einwirkungen müssen entweder von stofflicher Natur sein (Nahrung, physikalische Schädigungen, Krankheitserreger) oder aber von massiver emotionaler Bedrohung (Missachtung, Misshandlung, Missbrauch). Ansonsten setzen sich die Gene durch, so wie sie das individuelle menschliche Genom festlegt.

Dieser grundlegende Unterschied in der umweltlichen Beeinflussung von genetischem Ausdruck einerseits im körperlichen Segment und andererseits im psychosozialen hat seinen evolutorischen Grund in der Anpassungsnotwendigkeit des Säuglings an die von ihm angetroffenen Lebensumstände. Wenn ein Kind mit dunkler Haut im Norden der Welt geboren wird, dann bleibt seine Haut schwarz, wohingegen seine Gemüt und seine inneren Denkweisen sich dem Leben des Nordens anpassen. Ebenso kann ein weißes Kind in Afrika geboren als augenscheinlich Weißer die Angewohnheiten und Traditionen der Schwarzen annehmen. Zwar verraten die Hautfarbe, der Gesichtsschnitt oder die Haartextur die Herkunft des Menschen aus dem anderen Kulturraum, aber seine psychosoziale Anpassung ermöglicht es ihm, auch in dieser ihm nicht angestammten Welt existieren zu können.

Die individuellen Anpassungsmöglichkeiten und ihre Grenzen

Die Anpassungsleistung eines Säuglings hat aber auch Grenzen, deren Überschreitung seine stabile psychische Konstitution gefährdet. Ich meine, dass es drei Funktionsbereiche in der Kind-Umwelt-Interaktion gibt, die diese Grenzen der der Anpassungsfähigkeit festlegen.

1. das Diathese-Stress-Verhalten
2. dass Passungsgeschehen zwischen Kind und seinen Bindungs- und Bezugspersonen
3. die Wirkungen der emotionalen Integration

Diese drei Faktoren sollen erklärt werden, bevor ich darauf übergehen kann, zu sagen, dass auch die Umwelt Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit besitzt.

Zu 1. Das Diathese-Stressverhalten legt genetisch fest, in welchem Spielraum Belastung und Bedrohung vom Individuum tolerabel sind und ab wann die Ertragensfähigkeit überschritten wird. Das ist von Säugling und Säugling und Kind zu Kind unterschiedlich, weil es unterschiedliche Veranlagungen gibt. Die Art und Weise dieser Veranlagung wird in der Wissenschaft als Vulnerabilität (Verletzlichkeit) bzw. Resilienz (Widerstandsfähigkeit) bezeichnet. Bei dem einen Säugling ist der Grad der Stresstoleranz schnell erreicht und eine hohe Belastung führt sofort zu massiven Stress-Symptomen mit vegetativem Störungsbild. Das spricht für hohe Vulnerabilität und eher geringe Resilienz. Bei dem anderen müssen die negativen Einflüsse schon sehr drastisch ausfallen, bis überhaupt eine Reaktion zustande kommt. Letzteres entspricht einer niedrigen Vulnerabilität und eher hohen Resilienz.

Eine hohe Stressbelastung kann zu einer übermäßigen vegetativen (hypersympathikotonen) oder untermäßigen (hypo- bis asympathikotonen) Reaktion führen. Die Kinder reagieren entweder mit übererregtem, panischem Schreien und starker Abwehrhaltung oder mit plötzlichen Verstummen und einfrierender Erstarrung. In jedem Fall bricht das autonome Nervensystem regulativ in sich zusammen und die vegetativen Zentren bremsen die unerträgliche Reaktion im Körper aus. Stresshormone wie CRH und Noradrenalin im Gehirn und Cortisol sowie Adrenalin und Noradrenalin im Körper spielen dabei die auslösende Rolle. Cortisol im Körper kann man auf recht einfache Weise im Speichel des Kindes messen.

Das Gehirn ist bei diesen Reaktionen ganz auf Kampf, Flucht oder Totstellen eingerichtet. Lernprozesse darüber hinaus gelingen nicht mehr. Da Säuglinge weder die Chance zur Flucht noch zum Kampf haben, bleibt ihnen zuletzt nur der Totstellreflex, das Freezing oder Erstarren. Ein Begreifen der Situation mit Selbstberuhigung gelingt geistig auch auf lange Sicht noch nicht. Im Kindesalter gelingt die Flucht immer dann, wenn ein sicherer Ort bzw. eine sichere Basis vorhanden ist. Dieser Weg wird im Falle von Stress vor allem bei jungen Kleinkindern regelmäßig gewählt. Die sichere Basis ist die Bindungs- oder ersatzweise die Bezugsperson. Existiert diese sichere Basis aber nicht, sieht man auch in diesem Alter das Einfrieren oder Erstarren.

Zum Kampf kommt es, wenn der Aggressionstrieb im Kind stark genug ist und der Trotz nicht mehr ausreicht, das Selbst gegen die Umwelt durchzusetzen. Jetzt sind die Kinder zwei Jahre und älter, und wenn Selbstbehauptung und Lebensumstände allzu heftig aufeinander prallen, gerät ein Großteil des alltäglichen Lebens zum Kampf. Diese von Aggression getragene „Kampfbereitschaft“ oder besser Streitsucht tritt zunächst in einem oppositionellen und provokativen Sozialverhalten zutage, um dann ab der Präpubertät und Pubertät auch zunehmend im körperlich-aggressiven Bereich ausgetragen zu werden. Dabei werden Feindbilder erzeugt und gleich auf ganze Gruppen ausgeweitet. Schließlich wird die ganze Gesellschaft zum Feind erklärt.

Neben der nach außen gerichteten „Kampfbereitschaft“ gibt es von der frühen Kindheit an auch die nach innen gerichtete Selbstbekämpfung. Solche Verhaltensweisen zeigen sich zunächst in einer Regression, d.h. in einem Rückzug in alte Bindungsverhältnisse, um dann bei erfolgloser Reaktion bei den Bindungs- und Bezugspersonen ähnlich wie die Aggressivität höhere Störungsgrade zu erreichen. Aber auch autoaggressives Verhalten kommt vor. Stocken der sozialen Weiterentwicklung, zunehmende Ängste, Lebensunlust und Depressivität münden in der Präpubertät und Pubertät häufig in selbstschädigendes Verhalten und Suizidalität.

Zu 2. Das Passungsgeschehen zwischen Kind und Umwelt beruht auf der mehr oder weniger zufällig gut aufeinander ausgerichteten Eignung beider sozialen Partner. Im Fachausdruck spricht man von fits und misfits, also Passung und Nicht- oder Fehlpassung. Die ideale Konstellation zwischen beiden Beteiligten ist ein temperamentsmäßig ausgewogenes Kind, das in eine Familie mit guten Ressourcen geboren wird. Mit guten Ressourcen sind reife, sich liebende, verständnisvolle und belastbare Eltern gemeint, die finanziell ausreichend abgesichert sind und ein gutes Lebens- und Wohnumfeld haben. Außerdem sollten sie persönlich in sich gefestigt sein, selber eine gute Kindheit erlebt haben und auf Hilfen aus der Familie zurückgreifen können. Des Weiteren sollten sie die Fähigkeit besitzen, sich notfalls auch öffentlich angebotene Hilfen zu suchen.

Davon abweichend nach unten gibt es alle möglichen Stufen und Konstruktionen, die auf solche Voraussetzungen nicht zurückgreifen können. Die schlechteste Kombination ist ein nicht gewolltes Kind, das von einer jungen, völlig überforderten Mutter in die Welt gesetzt wird, die wiederum auf keine familiäre Hilfe zurückgreifen kann und mehr oder weniger mittellos ist. Außerdem hat diese Mutter keinen Partner, keine Ausbildung und blickt selber auf schlechte Kindheitserinnerungen zurück. Ihr Wohnumfeld ist auf kaum erträgliche Weise bescheiden. Das Kind selbst ist demzufolge unruhig nervös und zeigt schon frühzeitig eine schwierige Temperamentsveranlagung.
Alle Statistiken zeigen, dass zu junge Eltern, ungewollte Schwangerschaft, keine eigene Ausbildung und Armut die größten Risikofaktoren für Säuglinge und Kleinkinder darstellen. Dazu kommen dann fast immer die eigene schlimme Kindheit der Eltern, die Gewalterfahrung und das Großgewordensein in absoluter Lieblosigkeit. Ohne frühzeitige Hilfen sind diese jungen Familien hoch gefährdet, selber in sozialer Vernachlässigung und Gewaltausübung dem Kind gegenüber zu enden.

Zu 3. der Begriff emotionale Integration ist eine Bezeichnung von mir selbst zu Erklärung der allgemeinen Erfahrung, wie aus den ersten negativen Grundgefühlen des Daseins beim Säugling durch ein einfühlsames Handeln und ein gutes Bindungsangebot der Eltern eine positive Lebenseinstellung wird. Der Verlauf geht natürlich bei ungünstigen Voraussetzungen auch in negative Richtung. Bei diesem Verlauf spielt die Umwandlung des angeborenen Drangs zum Willen als Grundbedingung für spätere Selbstkontrolle, Empathiebereitschaft und Mitleid sowie Gewissenentwicklung und Vernunft die grundlegende Rolle. Der Drang existiert als angeborener Antrieb zu handeln und zwar in einer Lebensphase, in der der Sinn und Nutzen einer Handlung vom Mensch noch nicht erfasst werden kann. Daher ist der Säugling seinen Bedürfnissen und Trieben praktisch ausgeliefert und fordert je nach Temperament ihre Erfüllung mehr oder weniger intensiv ohne Aufschub ein. Für ihn ist das eine Angelegenheit von existenzieller Bedeutung. Dabei kann er sich nicht vorstellen, dass er seine Eltern damit an den Rand ihrer Kräfte führt.

Wie jetzt Eltern und unmittelbare Lebensumgebung auf den Drang und zunehmenden Willen des Säuglings und Kleinkindes reagieren und wie sie ihre Verpflichtung zur bereitwilligen Erfüllung dieses Willens wahrnehmen, all das wird formender Bestandteil des emotionalen und psychosozialen Gedächtnisses des heranwachsenden Menschen. Dabei spielt das Belohnungssystem im Gehirn eine wichtige Rolle, das die positiven Konstellationen im Selbstgefühl sammelt und abspeichert und daraus eine dauerhafte Quelle guter Empfindungen und Gefühle über sich selbst macht. An diesem Punkt trifft sich der Drang zunehmend mit der Motivation bzw. der Lust, etwas zu tun oder nicht. Führendes Kerngebiet für dieses Zentrum sind, wie viele wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigen, die vorderen Anteile der unter der Hirnrinde gelegenen Basalganglien mit ihrem „Kopf“, dem Nucleus accumbens. Das heißt, die Einfühlsamkeit, Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit der Eltern wird mit der Zeit zu einem festen Bestandteil des Gehirns selbst.

Neben der Lust oder Unlust, etwas zu tun, zu handeln und ein Ziel zu verfolgen (wofür der Säugling schon etwas älter sein muss) entsteht noch ein dritte Komponente im Kreis der emotionalen Integration, das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung, welches sich in dem Begriff der Selbstwirksamkeit widerspiegelt. Hierbei lässt sich ein angeborenes Bedürfnis von einem Bedürfniszuwachs im ersten und zweiten Lebensjahr unterscheiden. Der Säugling lernt ja dazu, und er lernt auch, mit seinen Bindungs- und Bezugspersonen umzugehen.

Um ihnen die emotionale Integration plastisch begreifbar zu machen, stellen Sie sich als Leser bitte vor, Sie bauten ein Haus, und alle Teile zu diesem Hausbau lägen bereits auf dem Grundstück, wo es gebaut werden soll. Das heißt Steine, Deckenplatten, Betonstürze, Türen, Fenster, Treppen und Dachlatten und -pfannen usw. sind vorhanden und müssen jetzt zusammengesetzt werden. Das Wichtigste, was Sie aber noch brauchen sind Sand, Zement und Wasser, um den Mörtel zusammenzumixen und Nägel. Denn die Teile können Sie nicht einfach aufeinanderstellen und ausbalancieren, ohne sie zu verkleben oder zu vernageln. Das Gebäude würde bei jedem Stoß, jeder Erschütterung und schließlich durch sein eigenes Gewicht in sich zusammenstürzen.

Der entscheidende Baustoff für den Bau Ihres Hauses ist, abgesehen von den Nägeln, also der Mörtel oder der Kitt, der alles zusammenhält. Bei der Entwicklung des Kindes entspricht dieser Mörtel den Emotionen, die es in seinen ersten Lebensjahren auf sich bezogen und vor allem in sich, das heißt in seiner Seele, erlebt. Handelt es sich um positive Emotionen, klebt der Mörtel besonders gut und stimuliert im Gehirn das Areal, das sich in der Fachsprache Belohnungszentrum nennt. Dieses nimmt Beziehung auf mit mit den Handlungsplanungszentrum. Ich hatte es weiter oben bereits erklärt. Das Belohnungszentrum speichert jetzt nicht einfach nur die guten Gefühle und hortet sie für ein gutes Befinden irgendwann später, sondern es fängt an, selbstständig gute Gefühle zu produzieren und somit neu hinzu kommenden Mörtel gleich zu einer noch besser klebenden Masse zu vermengen. Das Belohnungszentrum ist aber auch in der Lage, unvermeidlich neu hinzu kommenden negative Emotionen in der Seele des Kindes abzupuffern und so Erträglichkeit zu erzeugen, wo die Grenzen des Ertragens nahezu überschritten sind.
Der heranwachsende Mensch wird in seiner Konstruktion des Gehirns durch seine Bindungs- und Bezugspersonen wie auch durch seine unmittelbare Lebensumgebung im späteren Erscheinungsbild und Ausdruck auf diese Weise universell geprägt, etwa so, wie Nahrung durch Verstoffwechselung in der Leber Bestandteil des Körpers wird. Wäre das Gehirn ein Schwamm, und tauchten wir diesen Schwamm zusammengedrückt ins Wasser um ihn dann unter Wasser sich entfalten zu lassen, dann ist das Gehirn vollgesogen mit dem Wasser, in das wir es getaucht haben. Das Wasser entspricht in diesem allegorischen Bild der Lebensumwelt des Kindes.

Umso schmerzlicher, das wird jetzt klar, ist es, wenn ein Kind bei schlechten Bindungs- und Bezugspersonen und/oder in einer schwer belastenden Lebensumwelt aufwächst, wobei eins das andere etwas abmildern kann. Denn zum guten Belohnungssystem gibt es im Gehirn eben auch ein ungutes Gegenstück, das so genannte Bestrafungssystem. Dieses Bestrafungssystem nimmt seinen Ausgang von einer Kernstruktur im Gehirn, die mit der Erlebnisweise und Bearbeitung von Angst zu tun hat. Es sind die so genannten Mandelkerne oder die „Amygdala“. Immer wenn der Angstfaktor über den noch erträglichen Verarbeitungsstress hinaus massiv stimuliert wird und Rettung des Kindes aus der bedrohlichen oder stark belastenden Situation nicht in Sicht ist, entsteht Kontrollverlust und gehen die entstehenden negativen Impulse in das Bestrafungszentrum über. Dort werden sie gespeichert und fangen mit der Zeit an, selber negativen Stress im Gehirn auszulösen. Auch kann das Bestrafungssystem anfangen, noch einigermaßen positive Erfahrungen jetzt mit negativen Gefühlen einzutrüben. Mit der Zeit saugt sich, um im obigen Bild des Schwamms zu bleiben, das Gehirn mit immer mehr emotionalem Unrat voll. Damit aber strebt es in seiner Entwicklung Angsterkrankungen, Depressionen, Selbstunsicherheit oder Minderwertigkeit und auch sozialem Hass entgegen.

Sobald das nun verstanden ist, ist auch verstanden, was emotionale Integration bedeutet. Der Säugling und das Kind nehmen alle Gefühle in sich auf und gestalten damit ihr Gehirn. Gemeint sind alle Gefühle, die sie zu ihren Lebens-Erfahrungen zählen. Sie sind fester Bestandteil der damit verbundenen Erlebnisse, die sie im Leben (anfangs noch unbewusst, später bewusst) antreffen. Dieses Phänomen lässt sich durch zunehmende Erkenntnisse im Leben, also Wissenserwerb und geistige Reifung, nicht oder nicht nennenswert beeinflussen. Zwar kann das Kind mittels Kognition, also mit geistigen Reifungsprozessen Erfahrungen im Leben besser verstehen und auch relativieren, wenn aber die Grundkonstanten im emotionalen Bereich zum Negativen in Richtung Bestrafung verstellt sind, nutzt ihm das nicht viel. Lediglich ein Kind mit hohen Begabungen und glücklichen Veranlagungen in Temperament und Charakter gewinnt mit der Zeit trotzdem die Chance, durch Selbststimulation seines Belohnungssystems aus dem Loch des Unglücklichseins herauszukommen.

Mit dieser Schlussfolgerung befinden wir uns aber wieder in dem anderen Bereich, mit dem wir uns zu Anfang beim Diathese-Stress-Modell beschäftigt haben, ich meine den Bereich von Vulnerabilität (Verletzlichkeit) und Resilienz (seelische Widerstandsfähigkeit). Das günstig oder glücklich veranlagte Kind hat demzufolge sehr viel größere Chancen, auch bei -sagen wir- mäßiger Lebensumgebung mit leidlich fähigen Bindungs- und Bezugspersonen ein zufriedenes, erfolgreiches und ausgefülltes Leben zu führen als ein ungünstig und problematisch veranlagtes.
So fügen sich also Stressverhalten und Temperamentveranlagung, Passung und Nichtpassung von Individuum und sozialer Umwelt sowie emotionale Integration dicht und fest ineinander und beeinflussen sich gegenseitig, und ein Faktor davon kann den anderen dabei variieren. Einen direkten und gezielten Einfluss auf das Geschehen hat das Kind selbst aber nicht. Es sind die Bindungs- und Bezugspersonen auf der einen Seite und die Gesellschaftsfaktoren auf der anderen, die die Pflicht haben, jedem Kind die optimalen Entwicklungsvoraussetzungen zu schaffen und garantieren. Das ist eine Frage der menschlichen Ethik.


Lesen Sie hier weiter:

Teil 1:  Erweiterte Bindungstheorie und Bindungspathologie
Teil 2:  Das Biopsychosoziale Modell
Teil 3:  Kind und Gesellschaft. Das soziokulturelle Umfeld



© Copyright 2024 - Dr. med. Rüdiger Posth
 
Mobile Ansicht
Impressum
Nutzungsbedingungen
Datenschutz
Forenarchiv
 
© 1998-2024 USMedia